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Unschlüssig stand Betje unten im Treppenhaus. Nur ein paar Schritte von der Hintertür zum Gemischtwarenladen entfernt, hielt sie unwillkürlich den Atem an, spitzte die Ohren.

Erfahren hatte sie die Neuigkeit gleich bei ihrer Ankunft am Kehrwieder. Nicht lange nachdem Arno Petersen sie zur Begrüßung an seinen Brustkasten gedrückt und ihr einen herzhaften Kuss auf die Stirn gegeben hatte, als wäre sie wirklich ganz und gar seine Enkeltochter.

Sie überlegte es sich anders und eilte mit schnellen Schritten hinaus und um das Haus herum. Vor den Schaufenstern verließ sie jedoch bereits wieder der Mut. Fast furchtsam spähte sie durch die Scheibe und trat dann hastig zurück.

Unter dem Bimmeln der Türglocke kamen zwei junge Mädchen aus dem Laden, Papiertütchen an sich gedrückt. Miteinander tuschelnd und kichernd, warfen sie immer wieder strahlende Blicke über die Schulter. Betje gab sich einen Ruck und trat ein.

»Moin, Hanno.«

Hannos Herz setzte einen Schlag aus. Seit Arno Petersen nebenbei erwähnt hatte, dass sich Katya und Betje auf der Rückreise befanden, hatte er ungeduldig darauf gewartet, jeden Tag voller Sehnsucht im Treppenhaus die Augen offen gehalten, und nun traf es ihn doch unvorbereitet.

Um mehr als einen ganzen Kopf war sie gewachsen, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Als hätte sie sich in der Ferne dem Himmel entgegengereckt und alles Kindliche von sich abgeworfen, fast schon eine junge Frau.

»Schön siehst du aus«, sagte er leise.

Eine feine Röte ergoss sich über ihr Gesicht, dessen Konturen sich so mutig, so stolz herausgeprägt hatten. Die Haut wie mit Zimt bestäubte Schlagsahne, die roten Locken auch von einer aufwendigen Flechtfrisur kaum gebändigt.

Betje strich über das gewürzbraune Kleid, das ihre Kurven und ihre schmale Taille betonte.

»Das ist aus Paris.«

Hanno konnte nur nicken, ein Kitzeln in der Magengegend, ein Sausen in den Ohren.

Betjes Blick irrte durch den Laden, als müsste sie sich erst zurechtfinden.

»Wie lange arbeitest du schon hier?«

Hanno riss sich zusammen und legte endlich die Schütte aus der Hand, an der er sich festgehalten hatte.

»Bald ein Jahr. Ich bin zufällig vorbeigekommen, als Herr Petersen sich mit den schweren Kisten abgemüht hat. Stinkwütend war er, weil Kees zurück nach Holland ist. Knall auf Fall, nicht einmal genug Zeit hat er ihm gelassen, Ersatz zu finden. Da habe ich ihn einfach gefragt, ob er nicht mich einstellen will.«

Hanno konnte sein Glück noch immer nicht fassen. Morgens sprang er voller Elan aus dem Bett, um so früh wie möglich vor dem Laden zu kehren und die Fensterscheiben blank zu reiben, Obst und Gemüse ansehnlich aufzustapeln. Es gab nichts Besseres, als den ganzen Tag zwischen diesen Herrlichkeiten zu verbringen und mit den Kunden zu schnacken. Ständig lernte er Neues. Arno Petersen war ein ebenso kritischer wie zufriedener Dienstherr, der nicht nur großzügig seine Erfahrung mit Hanno teilte, sondern auch seine Mahlzeiten. Dass er ihm immer häufiger den Laden für ein paar Stunden anvertraute, machte Hanno über alle Maßen stolz.

»Was hat Pawel dazu gesagt?«

»Nichts, eigentlich.«

Schuldbewusst zog Hanno den Kopf ein. Nicht so sehr wegen Pawel, der hatte nur geseufzt, als hätte er es immer schon geahnt, und ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Nacken gegeben. Sondern weil alles andere als der Zufall Hanno an jenem Abend zum Kehrwieder geführt hatte. Nirgends hatte er sich Betje näher gefühlt, als wenn er unten stand und zu ihren Fenstern hinaufsah.

»Hast du gewusst« – hastig lenkte er sich selbst ab – »wie viele Käsesorten es gibt? Dutzende! Aus den deutschen Landen, der Schweiz und Dänemark. Aus Holland und England und die besten aus Frankreich.«

Betje hörte ihm aufmerksam zu, während er begeistert von italienischer Salami erzählte und von norwegischem Fisch, und musste doch die ganze Zeit daran denken, dass sie ihm kein einziges Mal geschrieben hatte, während sie fort war.

»Wie geht es Pawel? Und überhaupt so in der Neustadt?«, fragte sie stattdessen, als er zwischendurch Luft holte.

»Alles beim Alten, soweit ich weiß. Ich wohne ja nicht mehr dort. Herr Petersen hat mir ein Kämmerchen oben im Haus gegeben. Neben dem Speicher, wo wir Mehl und Zucker und so was lagern. Ist praktischer, so kann ich schon frühmorgens im Laden sein, um die ersten Lieferungen entgegenzunehmen, die übers Wasser kommen.«

Seine Ohren begannen zu glühen, als ihm jetzt wirklich bewusst wurde, dass er nun wieder unter demselben Dach mit Betje lebte.

»Und Fiete?«, hakte sie eilig nach.

»Dem geht’s prächtig. Hat jetzt eine feste Anstellung bei einem Schiffsschnitzer. Galionsfiguren macht er dort und all die anderen Verzierungen aus Holz. Das liegt ihm, und er verdient auch gar nicht schlecht dabei.«

Seinen Rückstand, was das weibliche Geschlecht betraf, hatte Fiete inzwischen aufgeholt. Sie waren jetzt in dem Alter, in dem es langsam der einen oder anderen Deern dämmerte, dass ein netter und anständiger Bursche mehr wert war als ein schneidiger Kerl, der sich als Windbeutel herausstellte, am ersten Tag die reinste Wonne, am zweiten schon in sich zusammengefallen und matschig. Dann doch lieber ein junger Mann, der aus echtem Holz geschnitzt war, selbst wenn er ein langes und ein kurzes Bein hatte wie Fiete.

Jordis hieß Fietes Auserwählte. Ein Inselmädchen, rund und prall wie ein Pfirsich, und dazu noch warmherzig und flink im Kopf. Hanno gönnte es ihnen von Herzen, seit seinem Auszug aus dem Holzverschlag jederzeit sturmfrei zu haben. Stine, die mit Jordis in Diensten stand, war nicht weniger hübsch mit ihrem dicken Zopf und dem Kätzchengesicht. So hübsch, dass Hanno sich gern von ihr hatte küssen lassen, an jenem einen Abend zu viert im Verschlag. Auch wenn es sich komisch angefühlt hatte, als sie ihre Zunge in seinen Mund schob, war ein taumeliges Glücksgefühl durch seinen Körper gejagt. Trotzdem hatte er Stines Hand sanft von der Beule in seiner Hose weggeschoben und sich mit einem flüchtigen Kuss auf ihre Wange verabschiedet, um draußen frische Luft zu schnappen und die Beine auszuschütteln.

Du bist ein Ochse , hatte Fiete ihn am anderen Tag gescholten. Ein Ochse, der blöd vor Sehnsucht den Mond anstiert.

Hanno bemerkte, wie er selbstvergessen die Melonen tätschelte, die letzten dieses Jahres. Peinlich berührt, vergrub er die Hand in der Hosentasche.

»Hast du Zacharias zufällig mal wieder gesehen?«, fragte Betje, ohne dass sie genau wusste, warum.

Der fremdartige Reiz, den Zacharias einmal auf sie ausgeübt hatte, war verblasst, seit sie selbst um die halbe Welt gereist war, die saftigen Tropen ebenso kennengelernt hatte wie den spröden Norden, das würdevolle und ein bisschen förmliche London wie das mondäne und übersprudelnde Paris. Vielleicht lag es auch an Lejo, der nicht mehr von ihr gewollt hatte, als sie bei der Hand zu halten und im Abendrot zu küssen; eine bittersüße Erinnerung, die sie von dort mitgenommen hatte.

Hanno bückte sich hinter der Toonbank und kramte in einer Schublade; ein Schatten fiel auf sein Gesicht.

»Zacharias? Nicht dass ich wüsste«, murmelte er.

Ein paarmal war er Hanno über den Weg gelaufen, sowohl hier am Kehrwieder als auch in der Neustadt, mal allein, mal mit einem neuen Mädchen, einem seiner alten Kumpane. Offenbar zu Geld gekommen, markierte Zacharias jetzt den eitlen Gecken, in teurem Zwirn und mit gescheiteltem Haar und einem Bärtchen. Hanno hatte jedes Mal einen großen Bogen um ihm gemacht. Jetzt, da Betje aus Indien zurück war, könnte Zacharias sich von ihm aus dorthin verziehen, wo der Pfeffer wuchs. Am besten noch viel, viel weiter weg.

Das Klingeln der Glocke kündigte Kundschaft an.

»Bin gleich wieder bei dir, Betje«, sagte Hanno und stand geschäftsmäßig hinter der Toonbank stramm. »Moin, Fräulein Carstens. Was kann ich für Sie tun?«

Die junge Dame von vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahren hatte eine längere Einkaufsliste dabei und schien dennoch nicht so recht zu wissen, was sie wollte. Umso lieber ließ sie sich von Hanno beraten, plauderte mit ihm über das Wetter, beantwortete seine Fragen nach dem Wohlergehen von Herrn und Frau Carstens und den jüngeren Geschwistern und lachte über seine humorvollen Bemerkungen.

Hanno hatte seinen Platz gefunden, das war offensichtlich. Auch für Fräulein Carstens, ein Strahlen auf dem feinen Gesicht, die Augen leuchtend wie Bernstein. Ihre Hände erinnerten Betje an Lilien, wenn sie sich unter dem Hut die lose Locke ihres milchkaffeefarbenen Haares zurechtstrich, den Korb von einem Arm auf den anderen wandern oder ihn im Takt ihrer Worte schwingen ließ.

Der freundliche Junge, der sie in einer Wiese Ostfrieslands aufgelesen hatte, war noch immer da. Mit seinem verschmitzten Zug um den Mund, der vorwitzigen Nasenspitze und den Augen wie Regenpfützen, in denen man den Himmel sah. Doch jetzt, mit achtzehn Jahren, war ein Mann aus ihm geworden. Ein ziemlich gut aussehender Mann sogar, auf eine bodenständige und unverfälschte Art. Einer, bei dem man als junges Mädchen besser rasch zugriff, weil es dort draußen nicht viele von der Sorte gab. Mit Schultern, an die man sich anlehnen konnte, einem Lachen, das einem das Herz erwärmte, und Händen, die immer mit anpacken würden, was es auch zu tun gab.

Ein Ziehen breitete sich in Betjes Bauch aus, bis in ihr Becken hinab, umso mehr, je länger sie hier stand. Ein ganz seltsames Gefühl, wie wenn einem das Wasser im Mund zusammenlief; bei Lejos Küssen hatte es sich auch so angefühlt, nur nicht so stark wie jetzt.

Betje tastete in ihre Rocktasche. Katyas Erzählungen von dem Messer, das ihr Urgroßvater sich vom Lohn des Zarenhofs gekauft hatte und einmal Grischas größter Schatz gewesen war, hatten sie auf eine Idee gebracht. Auf dem Basar in Madras hatte sie genau so ein Klappmesser gefunden, wie sie es sich für Hanno vorgestellt hatte, kräftig und stark, mit spiegelnd polierter Klinge und einem Griff aus Perlmutt.

Während Hanno gerade die schönsten Äpfel für seine Kundin auswählte, traf sich Betjes Blick mit dem von Fräulein Carstens. Von Kopf bis Fuß gemustert fühlte Betje sich. Die Art, wie das Fräulein dann den Kopf zurückwarf, fällte ein eindeutiges Urteil, das Lächeln, mit dem sie sich wieder Hanno zuwandte, genauso vielsagend.

Meiner .

Armselig kam Betje jetzt das indische Messer in ihrer Tasche vor, und übertrieben protzig zugleich; in jedem Fall durch und durch falsch.

Im heftigen Klirren der Glocke stürmte Betje aus dem Laden hinaus.

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