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Es gab Orte auf dieser Welt, deren Namen aus Seemannsgarn gesponnen waren. Das Rote Meer leuchtete in Wahrheit blau und grün, und Hongkong war alles andere als ein wohlduftender Hafen, darüber spöttelte jeder, der schon einmal dort war.
Doch kein Flecken Erde war mit mehr Ironie getauft als Grönland. Nur in den Sommern, die im Jahreslauf kaum länger als einen Wimpernschlag lang währten, tauten die Ränder auf, während die Insel weiter unter einer dicken Schicht aus Eis und Schnee verharrte, unwirtlich, wüst und leer. Was aus dem ersten Wikinger, der seinen Fuß daraufsetzte und Siedler anlocken wollte, nicht nur einen verbannten Mörder, sondern auch einen Lügner und Betrüger machte.
Aber vielleicht war früher das Gras grüner gewesen.
Fast zwanzig Jahre waren vergangen, seit Katya hier gewesen war, und doch schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Vielleicht hatten sich die Holzhäuschen tatsächlich vermehrt, vielleicht täuschte es auch nur, jetzt, da sie eine erwachsene Frau war und kein kleines Mädchen mehr. Die Fröhlichkeit des bunten Anstrichs jedenfalls hatte jedoch noch immer nicht auf die dänischen Händler und Beamten abgefärbt, die sich sauertöpfisch und kleinlich gaben wie eh und je.
Eine Welle des Misstrauens schlug Katya und Grischa gleich bei ihrer Ankunft entgegen. Ein Geschwisterpaar aus Hamburg, das mit russischem Akzent eine dänische Mundart von jenseits des Nordmeeres sprach, weder Felle noch Speckstein kaufen wollte und auch selbst keine Waren anbot, konnte nichts Rechtes im Schilde führen. Schon gar nicht unter dem Vorwand, Gletschereis akquirieren zu wollen. Dass sie auf Inuit trafen, die sich noch an Grischa erinnern konnten, sodass sich ihre gleichgültigen Gesichter aufweichten, Grischa teils sogar mit Schulterklopfern begrüßt wurde, machte sie gleich noch mehr verdächtig.
Es brauchte einiges an ausschweifenden Erklärungen und taktischem Geschick, um für ein wenig Entspannung zu sorgen. Möglicherweise half Katyas weibliche Aura, sogar noch in Männerhosen, gepaart mit der Art, durch die Grischa immer schon Menschen für sich eingenommen hatte. Am Ende war es vielleicht schlicht das Geld, das sie auf den Tisch legten, das ihnen eine Fahrt die Küste hinauf ermöglichte.
Nicht viel größer als ein Fischkutter war das einmastige Segelboot, gesteuert von drei Inuit, das durch das schwere und manchmal grießige Wasser glitt. Das einzige Geräusch außer dem Atemholen des Meeres, dem prustenden Auftauchen eines Wals, bevor er mit elegantem Schwung und aufgerichteter Fluke wieder in der Tiefe verschwand.
Eine reine Wasserwelt war es, durch die die geblähten Segel sie trieben, mal fließend, mal zu Eis erstarrt. In den kalten Tönen von Kobalt und Aquamarin und Saphir, Jade und Quarz und Alabaster. Einen anderen Vergleich gab es nicht für die durchscheinende und glänzende Härte der Eiswände und Eisberge, die Strahlkraft der Farben im kalten Frühlingslicht.
Tief sog Grischa die eisige Luft ein. Zum ersten Mal seit einem halben Jahr lag jene Nacht an der Elbe weit genug hinter ihm.
Mit zusammengeschürtem Magen hatte er jeden Tag die Zeitung aufgeschlagen, in einer Mischung aus nackter Furcht und perverser Hoffnung darauf gelauert, dass die Hüter des Gesetzes kamen und ihn abholten, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen.
Früher oder später tauchen sie immer wieder auf , hatte einmal ein Seemann hinter seiner Pfeife hervorgenuschelt. Die Ertrunkenen. Bleich wie Schimmelkäse, aufgetrieben wie eine Schweinsblase und vom Wassergetier angenagt. Da erkennste deinen eigenen Bruder nicht mehr wieder.
Was nur die halbe Wahrheit war. Jeder, der zur See fuhr, bekam auch die Geschichten von denen erzählt, die im Hafen zwischen den Eisbrechern aus Basalt festklemmten oder sich in deren Eisenklammern verhakten. Unten auf dem Grund zwischen Pollern und Palisaden verfangen, im Kielwasser eines Schiffs mitgeschleppt oder einfach von der Strömung fortgetragen, hinaus aufs Meer, in ein Uferdickicht hinein.
Wochen, Monate, Jahre konnten vergehen, viele Meilen verstreichen, ein ganzer Ozean vorbeifließen, bis die Wahrheit ans Licht geschwemmt kam. Manchmal tat sie das nie. Der eine Augenblick, in dem Grischa jener Nacht eine andere Wendung hätte geben können, blieb für ihn jedoch in Stein gemeißelt.
Er hatte daran gedacht, auf die Wache am Neuen Wall zu gehen, reinen Tisch zu machen. Doch wem hätte das genützt? Zacharias blieb tot, und am Ende hätte er noch triumphiert, aus seinem nassen Grab heraus. Vielleicht war Grischa auch schlicht zu feige, zu selbstsüchtig.
Albrecht hatte womöglich recht. Das, was Grischa für Verliebtheit und Lebenslust hielt, war letztlich nichts als eine Flucht. Ein Rausch, der betäubte, wo es wehtat, immer schon. So hatte Albrecht es ausgedrückt, Grischa im Nacken gepackt und herzhaft auf die Wange geküsst, bevor er gegangen war, endgültig.
Ein Rausch, dem er sich danach blind überlassen hatte mit Minna, Bertram, Gesa, Heike, Joon, Alfie, Reuben, immerhin wusste er die Namen noch, wenn ihm auch sonst nicht viel mehr in Erinnerung geblieben war.
Seit er als Dreizehnjähriger Stock und Bündel geschnappt und in die Nacht hinausmarschiert war, war er nur noch gerannt, so kam es ihm vor; jetzt rannte er schneller als je zuvor.
Seinem eigenen Schatten entfloh man jedoch nicht.
»Und solches Eis da verkaufen Sie wirklich?«, ließ sich Dag Bentsen vernehmen, ihre Aufsicht im Namen der dänischen Krone.
Der junge Beamte, haferblond und rotgesichtig, fror sichtlich, und seine Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er jetzt am liebsten überall sonst wäre, nur nicht hier.
Katya und Grischa nickten und warfen sich einen langen Blick zu, als Dag Bentsen etwas von Gold, das man aus Scheiße machte, vor sich hin murmelte.
Grischa wechselte ins Deutsche. »Was sagst du dazu?«
Katya vergrub die Hände, klamm trotz ihrer Handschuhe, tiefer in den Taschen der dicken Jacke.
So weit das Auge reichte, trieben Eisbrocken und Eisberge im Wasser. Wie ein Vogelkonzert an einem Morgen im Mai fühlte es sich für sie an, und trotzdem lag über allem eine tiefe Ruhe.
Die Stille der Jahrtausende.
Die Ernte aus dem Voroninvatnet und dem Isvatnet war so gut gewesen wie gewohnt, aber die aus dem Uglevatnet hatte alle ihre Erwartungen übertroffen, kurzfristig hatten sie sogar noch einen Frachter in Bergen gechartert, um das ganze Eis nach Hamburg verschiffen zu können. Mit dem Verkauf würden sie wahrscheinlich das Darlehen für das neu gekaufte Speicherhaus an der Neuen Burg, direkt am Nikolaifleet gelegen, mit einem Schlag zurückzahlen können.
Doch was hier im Wasser lag, war ein gigantischer, unermesslicher Schatz.
»Erinnerst du dich«, sagte Katya leise, »als ich dir von Eisbergen in der Wüste erzählt habe?«
Grischa grinste. »Mit diesem Eis hier kannst du alle Wüsten der Welt versorgen.«
»Wohl kaum, indem wir einen solchen Eisberg am Tau hinter uns herschleppen«, erwiderte sie.
»Aber wir könnten es so machen wie auf der Waljagd«, überlegte Grischa halblaut, einen Gedankenschritt vor den anderen setzend. »Mit einer Harpune ein Tau im Eis sichern und den Berg ans Schiff heranziehen, idealerweise ein Eisbrecher. Dann Männer mit Steigeisen hinaufklettern lassen, die die Blöcke herausschlagen.«
Katya nahm die Hand aus ihrer Jackentasche und deutete ins Wasser, das am Fuß der Eisberge grünlich schimmerte.
»Dabei hast du aber immer das Risiko, dass du in der Tiefe den Schiffsrumpf aufschlitzt.«
»Das ist wahr.«
Einige Herzschläge lang schwiegen beide gedankenversunken, während das Boot weiter durch diese bizarre und anderweltliche Landschaft steuerte.
»Wir kriegen dieses Eis, Katya«, sagte Grischa, ein fast feierliches Vibrieren in der Stimme. »Stell dir nur vor, wie das klingen wird. Gletschereis aus Grönland. Ein Stück Eisberg im Glas. Damit holen wir uns die Sterne vom Himmel und den Mond mit dazu.«
Katya nickte, zutiefst fasziniert von dem, was ihre Augen sahen. Was ihre anderen Sinne wahrnahmen. Die klirrende Reinheit von Luft und Wasser. Ein Singen in ihren Adern, ein wohliger Schauder unter ihrer Haut, bis in die Fingerspitzen hinein.
Eisberge, die sich wie eine trutzige Burg aus dem spiegelnden Wasser erhoben. Solche, die der Finne eines Riesenhais glichen und einer im Sprung erstarrten Brandungswelle. Ein geschliffener Diamant. Ein Elefant und ein im Wasser auf und ab schaukelnder Wal. Und jeder davon sprach zu ihr, atmete, lebte.
Das Hacken der Eisäxte auf den Seen noch im Ohr, das dünne Geräusch, wenn das Blatt einer Säge hineinglitt, fühlte es sich falsch an, diesem Wunder hier genauso zu Leibe zu rücken. Zu zerstören, was in Tausenden von Jahren gewachsen war, und dieses Meer der Ewigkeit zu plündern, für den Profit.
Ein Schauder rieselte ihr den Nacken hinab und rann über ihre Unterarme. Momente, bevor sie das Knacken und Knirschen hörte, ein Prasseln und den Ausruf eines der Inuit. Ein Eisberg voraus bröckelte in der Frühlingsluft und warf einen Teil von sich ab wie ein Vogel seine Mauserfedern. Die Scherben und Splitter stürzten ins Wasser, das aufstäubte wie Schnee, sich kräuselte und zusammenzog. Wellen türmten sich auf und rollten auf das Boot zu, spielten Katz und Maus damit. Wie im Zorn.
Ein Sturm ohne Wind, der um sie tobte. Als wäre das Wechselspiel der Elemente aus dem Gleichgewicht geraten, und Katya überlief es kalt.
Auf dem Absatz ihres Männerstiefels drehte sie sich um.
»Lass uns umkehren.«
Abends in ihrem Quartier, eine Holzhütte, die sie zu einem heillos überteuerten Preis gemietet hatten, musterte Grischa seine Schwester im Schein des Feuers.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte er schließlich leise. »Du hast genauso davon geträumt wie ich.«
Katya zog die Knie an und schwieg.
Alles hatte mit dem Eis begonnen. Alle Hoffnungen und Träume, alles Glück, aber auch Fehlschläge und Versäumnisse, Enttäuschungen und aller Schmerz, für immer eingeschlossen in seinen Kristallen. Vielleicht war auch all das immer schon da gewesen, nur allmählich zum Vorschein gekommen, aufgetaut mit der Zeit.
Mit dem Eis würde es auch enden.
Als ob eine Fee an ihrer Wiege gestanden und ihr dieses Gespür für das Eis mit ins Leben gegeben hätte, das die Erfüllung all ihrer Wünsche versprach. Ein Segen, der sich als Fluch erwiesen hatte. Jetzt wollte sie diese Gabe nicht mehr.
Doch wer war sie, ohne das Eis?
Sie hatte lange darüber nachgedacht, während sie auf ihren Seen das Eis schnitt. Wenn sie Birra und Harri miteinander sah, die so tief in jenem Fjordland verwurzelt waren wie im jeweils anderen, und wenn sie die Hunde kraulte, die die gleichen Wolfsaugen hatten wie Pawel.
Ihren Platz in der Firma behalten und aus Hamburg weggehen, das war ein fauler Kompromiss. Allein und eigenständig mit Eis zu handeln traute sie sich nicht zu, es waren die vier Eisbarone zusammen, die aus Petersen & Voronin das gemacht hatten, was es war. Pawel oder die Firma, beides konnte sie nicht haben.
Wohin Grischa auch gegangen war, sie war ihm gefolgt; jetzt hatte sie ein eigenes Ziel.
»Ich werde die Firma verlassen«, verkündete sie, erleichtert, dass es endlich ausgesprochen war.
Grischa nickte, er hatte etwas in der Art geahnt.
»Ich werde mich auch von Thilo scheiden lassen und weggehen«, fügte sie hinzu.
»Für jemand anderen?«
Katya nickte, und das Leuchten in ihren Augen sagte alles.
Wo Grischa weglief, stemmte sie ihre Füße nur fester in den Boden, um es noch einmal zu versuchen. Man konnte nicht anders, als sie für diesen Mut zu bewundern und nur noch mehr zu lieben.
Mit einem tiefen Durchatmen legte Grischa den Arm um seine Schwester und drückte sie an sich.
»Was immer dich glücklich macht, Katyuscha.«
Während er seine Schwester in den Armen hielt, wie er es schon getan hatte, als sie noch keine Stunde alt gewesen war, fiel eine Last von Grischa ab. Er hatte das Richtige getan, in jener Nacht an der Elbe, und würde es jederzeit wieder tun, für Katya und für Thilo.
Vielleicht würde ihm nie vergeben werden, aber damit konnte er leben.