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Von allein kommt nichts in diese Welt. Nicht einmal das Eis.

Es braucht erst ein Staubkorn, damit ein neuer Eiskristall entsteht. Eine Biene bestäubt die Blüte, aus der sich die Frucht entwickelt und daraus dann die Saat. Samen und Ei erzeugen ein Kind, bei Tier und Mensch. Und ein Funke muss auf dankbaren Boden fallen, damit eine Flamme sich entzündet.

Wie in Hamburg, an diesem 5. Mai 1842.

Katya unterdrückte ein Gähnen, während sie vor dem Sessel kniete und den Stumpf unter dem hochgeschobenen Hosenbein ihres Schwiegervaters mit Salbe einrieb.

»War eine kurze Nacht, was?«, brummte Arno Petersen mit einem Schmunzeln.

Katya nickte. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zum Fenster, die Rauchwolken waren bis hierher zu sehen und trübten den strahlend blauen Morgenhimmel.

Die Nacht war ohnehin schwül und stickig gewesen, auch bei geöffneten Fenstern, der ganze April war schon wie der pralle Sommer gewesen, sogar ein paar Fleete lagen trocken. Um ein Uhr nachts dann hatten die Kirchenglocken sie und Betje aus dem Schlaf gerissen, der Widerschein der Flammen und der Brandgeruch jenseits des Binnenhafens gleichermaßen zu aufregend und zu beängstigend, um Ruhe finden zu können. Mit einem Brettspiel hatten sie sich abgelenkt, bis der Tag anbrach.

Ein Donnerstag, Christi Himmelfahrt.

Auch Arno Petersen wandte den Kopf und blickte hinaus.

»Sah für mich in der Frühe nach der Deichstraße aus. Cohen lagert dort seine Zigarren und den Tabak, Seligmann seine Eisen und Lumpen. Wie das brennt, würde mich es nicht wundern, wenn irgendwo auf den Böden noch Spiritus oder Schelllack Feuer gefangen hätten. Der reinste Zunder. Vor allem nachdem so lange jetzt kein Tropfen Regen gefallen ist.«

Katya sah ihn bestürzt an.

»Na«, beschwichtigte er, »mach dir nur keine Sorgen. Hamburg hat schon lange nicht mehr groß gebrannt. Ist doch eine Wasserstadt. Und Feuerspritzen haben wir auch genug.«

»Arno, willst du Kirschmarmelade oder lieber Honig fürs Frühstück?«, rief Betje aus der Küche, der Duft von Kaffee zog verlockend bis in die Stube herein.

»Beides, min Deern «, rief Arno zurück. »Bist du so gut und gibst Hanno Bescheid?«

»Mach ich!«

Betjes muntere Schritte flogen zur Wohnung hinaus.

Katya fühlte Arnos Blick auf sich, während sie einen frischen Verband um den Stumpf wickelte, der sich entzündet hatte und vom Arzt aufgeschnitten worden war.

»Sag bloß Thilo nichts davon«, meinte er dann leise. »Sonst macht er sich wieder unnötig Sorgen.«

»Werde ich nicht«, versprach Katya.

Arnos Blick blieb auf ihr liegen.

»Wie lange soll das mit euch so weitergehen?«, fragte er nach einer längeren Pause.

»Was meinst du?« Katya gab sich ahnungslos.

Arno zögerte merklich, strich ihr dann liebevoll über den Kopf.

»Ist es, weil noch keine Kinderchen da sind?«

Katya bemühte sich um ein Lächeln. »Bestimmt nicht.«

»So wird das doch auch nichts. In zwei Wohnungen. Wollt ihr euch denn so gar nicht mehr vertragen? Thilo ist ein guter Junge. Was er auch gemacht oder gesagt hat, er hat es bestimmt nicht böse gemeint.«

Katya richtete sich auf und gab ihrem Schwiegervater einen Kuss auf die Wange.

»Ich weiß.«

Sie reichte Arno den Stock und half ihm aus dem Sessel heraus, was ihm sichtlich schwerfiel. Einer mächtigen Eiche glich er, die sich zunehmend unter ihrem eigenen Gewicht wie unter der Last der Jahre neigte, aber beharrlich dem Verwittern widerstand. Anfang sechzig war er jetzt.

»Willst du nicht doch langsam daran denken, dich zur Ruhe zu setzen?«, schlug Katya behutsam vor.

Arnos Hand auf dem Stock deutete eine wegwerfende Geste an.

»Wird schon wieder. Ich bin wie Hamburg, unverwüstlich.«

Mühselig humpelte er durch die Stube.

»Geht ihr heute Mittag mit mir zum Gottesdienst?«

»Natürlich.«

Arno entrang sich ein Seufzen. »Wenigstens werden die Leute heute mehr zu schnacken haben als nur über die Eröffnung der Eisenbahn nach Bergedorf am Sonntag.«

Durch die Wohnungstür quollen die lebhaften Stimmen und das Lachen von Hanno und Betje, die sich gleich darauf klappernd und klirrend in der Küche zu schaffen machten; zischend glitten aufgeschlagene Eier in eine heiße Pfanne.

Katya trat ans Fenster und sah über den Binnenhafen hinweg in das rote Lodern, den dichten Qualm, hinter dem die Silhouette von Sankt Nikolai nur noch zu erahnen war. Bang dachte sie an den Speicher am Nikolaifleet, dessen Kaufvertrag sie so stolz unterschrieben hatten, dafür aber erneut auf einem Schuldenberg saßen. Groß und geräumig war das neue Lagerhaus, die Speicherböden voller Eis aus dem Uglevatnet, gleich drei Schiffsladungen davon. Ende dieses Monats wollte Grischa die erste Fuhre nach Madras bringen; solange dieses Eis nicht verkauft war, konnten sie nicht einmal im Traum daran denken, das Darlehen zurückzuzahlen.

Unruhig schlang sie die Arme um sich, um ihren nervösen Magen zu beruhigen.

Der Gottesdienst in Sankt Katharinen fand ohne sie statt. Es war noch nicht einmal Mittag, als Chaos über das Haus hereinbrach. Hatten sich die Bürger am Kehrwieder bis dahin gelassen gegeben und das Feuer drüben als eine Art Spektakel zum Feiertag betrachtet, klopfte nun doch der eine oder andere an, um sein Hörensagen weiterzugeben oder sich zu erkundigen, ob man etwas Neues wüsste. Thilo kam gehetzt auf einen Sprung vorbei, dann auch Grischa, und ein paar Stammkunden von Arno Petersen wollten wissen, ob sie sich heute ausnahmsweise unter dem Ladentisch mit ein paar Vorräten eindecken konnten, für alle Fälle, man wusste ja nie.

Mit ein paar hastig zusammengesuchten Habseligkeiten standen schließlich am frühen Nachmittag die anderen Petersens vor der Tür. Obwohl die Prachtstraße des Neuen Walls im Gegensatz zu den engen Gassen Sicherheit versprach, hatte Henny darauf bestanden, das Nötigste zu packen und am anderen Ende der Stadt Zuflucht zu suchen, auch wegen des Rauchs.

Sobald sie nach dem Treppensteigen ein wenig verschnauft hatte, sprudelte Henny dramatische Schilderungen von Flüchtlingsströmen hervor, die durch die Straßen quollen, und von Gaffern, die diese zusätzlich verstopften. Vom Feuer Vertriebene hatten sich mitten auf dem Neuen Wall mit Hab und Gut häuslich niedergelassen. Plünderer hatten Fenster und Türen mit Äxten und Hämmern eingeschlagen, um alles zusammenzuraffen, was nicht niet- und nagelfest war. Der Hopfenmarkt brannte lichterloh, und Spritzenleute von überallher kämpften gerade um Sankt Nikolai; sogar von geplanten Sprengungen war die Rede, um dem Feuer den Weg abzuschneiden. Nur weil Christian ihnen einen Platz auf einem Fuhrwerk erkämpft hatte, zum Wucherpreis von zweihundert Mark, hatten sie es überhaupt durch die Stadt hierhergeschafft.

Etwas über zwölf Stunden, nachdem die Glocken von Sankt Nikolai das Feuer verkündet hatten, schien über Hamburg das Jüngste Gericht hereingebrochen.

»Das ist so lieb von dir«, sagte Henny, während sie Katya dabei half, das Bett frisch zu beziehen. »Wir hätten sonst ja gar nicht gewusst, wo wir hinsollen. Meine Eltern sind gerade in Lübeck, auf Verwandtschaftsbesuch, erst Sonntag wollten sie wieder hier sein, wegen der Feierlichkeiten für die Eisenbahn.«

»Keine Ursache. Wir haben genug Platz. Und es ist ja auch Christians Elternhaus.«

Katya hoffte, dass es nicht so bitter klang, wie es auf ihrer Zunge schmeckte.

»Wieso ist Thilo gerade heute nicht hier?«, erkundigte sich Henny.

»Er war vorhin da, um zu sagen, dass er im Kontor den Tresor räumt und mit den Angestellten die Geschäftsbücher und Bankunterlagen einpackt. Sie bringen nachher dann alles hierher, wo es erst einmal sicher ist.«

»Und Grischa?«

»Elli wohnt doch ganz in eurer Nähe. Er will sie, ihre Mutter und die Kinder entweder hier unterbringen oder aus der Stadt schaffen. Je nachdem, wie es dort aussieht.«

Sie rechnete es Henny immer noch hoch an, nie auch nur eine einzige abfällige Bemerkung darüber gemacht zu haben, dass Grischa ein uneheliches Kind mit einer ehemaligen Schankmaid hatte.

Im Wohnzimmer schrie Marie wie am Spieß, Christians beruhigende Worte gingen fast vollständig unter. Betje versuchte ihrerseits, Jette zu trösten, die um ihr Piano heulte, um ihre schönen Kleider und am allermeisten um ihre Katze, die verschwunden war, und Papa und Mama hatten ihr keine Zeit mehr gelassen, sie zu suchen.

»Dass du so ruhig bleiben kannst«, wunderte sich Henny.

Katya sortierte den Inhalt einer Schublade um, damit Henny die Kindersachen darin verstauen konnte.

»Was soll ich denn anderes machen? Und noch sind wir durch den Binnenhafen und den Zollkanal vom Feuer getrennt.«

»Die Insel der Seligen«, seufzte Henny und watschelte zum Schrank hinüber. »In der Stadt drüben hat das Feuer sogar Fleete übersprungen oder gleich mehrere Häuser. Einfach so!«

Verstohlen beobachtete Katya, wie sich Henny die Hände ins Kreuz drückte und sich mit einem gequälten Laut reckte. Ein Jahr danach konnte sie zwar in der Firma Christian höflich begegnen, aber Familienessen mied sie meistens, schützte Kopfschmerzen vor oder einen wichtigen Termin. Ihre Schwägerin hatte unübersehbar zugenommen, seit Katya sie das letzte Mal gesehen hatte, mächtig sogar. Doch erst jetzt, da sich ihr gewaltiger Bauch durch den Kleiderstoff hindurchdrückte, fragte Katya sich, warum niemand ihr ein Wort davon gesagt hatte.

»Wann ist es so weit?«, erkundigte sie sich leise.

»Was denn?« Hennys Gegenfrage kam mit fast schon einfältiger Arglosigkeit.

»Das Kind.«

Henny wurde puterrot. Umständlich kramte sie in der Reisetasche herum, als müsste sie erst alles umschichten, um es zu verräumen, geradezu darin zu verkriechen schien sie sich.

»Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll«, flüsterte sie schließlich. »Du wünschst dir doch so sehr auch eines.«

Hennys Unterlippe zitterte, während sie eine Bluse von Marie neu zusammenfaltete; innerhalb von ein paar Wimpernschlägen schwammen ihre Augen in Tränen. Sanft drückte Katya sie auf die Bettkante und setzte sich zu ihr.

»Ich hab gedacht, was soll bei einem Mal schon passieren«, erzählte Henny weinend. »Das ist doch das Schreckgespenst, was Mütter immer ihren Töchtern ausmalen, nicht wahr? Ein einziges Mal, und du hast sofort einen dicken Bauch. Sobald man dann verheiratet ist, weiß man sehr schnell, dass einmal dann doch keinmal ist. Genauso wie das zweite und das dritte Mal. Ich hab das doch so vermisst, Katya, die ganzen Jahre seit Marie! Ich war so glücklich wie schon lange nicht mehr. Und dann ist es eben doch passiert.«

Schluchzend wischte sie sich über die nassen Wangen, zog die Nase hoch. Wie ein Dammbruch war es, sich endlich alles von der Seele reden zu können.

»Ich hab’s lange gar nicht bemerkt, hab’s wohl auch nicht bemerken wollen. Dachte, ich werd einfach nur dick, weil ich zu viel nasche, und habe deshalb immer wieder Bauchweh. Der Doktor hat ja auch gesagt, es ist unwahrscheinlich, dass noch mal eines kommt.«

Katya zog Henny an sich, wiegte sie tröstend und ließ sie einfach weinen, bis die Schluchzer abebbten.

»Wenn mir was passiert«, flüsterte Henny an Katyas Schulter.

Katya streichelte ihr über den Kopf. »Sag doch so was nicht.«

»Doch.«

Henny richtete sich schniefend auf und nahm Katyas Hände. Katya wollte sich ihr entziehen, die Last ahnend, die Henny ihr aufbürden wollte, reuevoll gestreift von der Erinnerung an ihre Nacht mit Christian. Doch Henny packte umso fester zu.

»Wenn mir was passiert … Ich weiß, ihr steht nicht gut zueinander, du und Christian, ihr habt euch wegen etwas in der Firma überworfen. Aber wenn ich morgen nicht mehr da sein sollte … Versprich mir, dass du dich kümmerst. Um ihn und die beiden Mädchen. Bitte, Katya. Das ist mein einziger Wunsch.«

Am Nachmittag erschütterte lauter Donner die Stadt. Eine der angekündigten Sprengungen vermutlich, doch wo und was, wusste auf dem Kehrwieder niemand einzuschätzen. Nur gut eine halbe Stunde später fiel der Turm von Sankt Nikolai. Mit einem hässlichen Getöse, das die Stadt in ihren Grundfesten erzittern ließ, die Feuersäule, die aus dem Stumpf hoch aufschoss wie ein Fanal, dass Hamburg dem Untergang geweiht war.

Das Glockenspiel der Kirche, das so lange hüben wie drüben die Stunden abgezählt hatte, war verstummt und schleuderte sie alle in einen Raum seltsamer Zeitlosigkeit, während Feuer und Rauch ein gespenstisches Zwielicht schufen.

Betje versuchte, mit den Grundbegriffen des Schachspiels Jette auf andere Gedanken zu bringen, Christian schaukelte eine schreckensstarre Marie auf seinen Knien. Beunruhigte Blicke gingen zwischen ihm und Thilo hin und her, der auf den aus dem Kontor geretteten Kisten saß, als würde er jeden Moment damit rechnen, von hier fliehen zu müssen.

»Noch nichts von Grischa?«, fragte Christian unnötigerweise, um überhaupt etwas zu sagen.

Thilo schüttelte den Kopf. »Ist bestimmt aus der Stadt hinaus. Vielleicht mit einem Schiff. Wird auch besser sein.«

Sein Blick zum Fenster war ungläubig. Alle hatten sie das Bedürfnis, sich zu kneifen, um aus diesem Albtraum aufzuwachen.

»Hanno hat ein paar Bretter aufgetan und die Schaufenster vernagelt«, berichtete Thilo. »Gegen Plünderer. Stell dir das mal vor.«

»Erinnert mich an damals«, erwiderte Christian. »An die Franzosenzeit.«

Ein leises Lächeln wanderte zwischen den beiden Brüdern hin und her wie das zweier altgedienter Veteranen.

»Sollen wir Vadder vielleicht nicht doch hochholen?«, schlug Christian vor. »Wenigstens bis nach dem Essen?«

Thilo nickte bedächtig, obwohl sicher keinem so recht der Sinn nach einer Mahlzeit stand, und erhob sich mühsam. In der Wohnungstür stieß er mit Hanno zusammen, der unbedingt zu Betje wollte.

»Stell dir vor, Fiete ist da«, platzte Hanno freudestrahlend heraus, der sich den halben Tag schon um seinen Freund gesorgt hatte. »Hat ganz verschämt gefragt, ob bei mir in der Kammer noch Platz wäre. Und Jordis ist dabei, völlig verheult, weil ihre Herrschaft sie nicht gehen lassen wollte, bis sie alles Silber eingepackt hat, dabei waren die Flammen da schon ganz nahe. Weggerannt ist sie dann trotzdem. Jetzt ist sie wohl gefeuert, aber bei Herrn Petersen hat sie erst einmal ein Dach über dem Kopf.«

Abrupt verstummte er, den Blick auf Henny in ihrem Winkel des Sofas gerichtet.

»Frau Petersen«, sprach er sie sanft an. »Frau Petersen. Geht es Ihnen nicht gut?«

Mühsam hob Henny die Lider, dicke Schweißperlen auf dem Gesicht.

»Henny.« Zärtlich strich Christian ihr die nassen Haarsträhnen aus der Stirn.

Ein schwaches Lächeln zitterte um ihren Mund, die sonst so klaren Augen trüb, und Christian verstand.

»Versuch bitte, irgendwo einen Doktor oder eine Hebamme aufzutreiben«, bat er Hanno, der sofort losspurtete.

Auf einen fragenden Blick von ihm hin holte Betje Marie zu sich, und Christian schloss seine Frau in die Arme. Angstvoll spürte er den Wehen nach, die eine nach der anderen durch ihren Leib liefen.

»Das kann wieder nur mir passieren«, murmelte Henny in einem Anflug von Galgenhumor an seiner Halsbeuge. »Hamburg brennt, und ich krieg ein Kind.«

»Das schaffst du«, flüsterte Christian, die Erinnerung an Maries Geburt noch kalt im Genick. »Wird alles gut, mein Herz.«

»Katya?«, fragte sie Hilfe suchend und blinzelte suchend durch den Raum. »Ich will Katya dabeihaben. Wo ist Katya?«

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