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Für Thilo war es eine betriebsame Woche gewesen, aber auch eine, die ihn mit einem guten Gefühl zurückließ. Das erste Eis des neuen Geschäftsjahres war auf dem Weg nach Indien, der Lagerraum unten im Speicher brechend voll mit der zweiten Lieferung für Madras und der allsommerlichen nach London. Weitere Interessenten hielt Christian bei der Stange, indem er ihnen vollmundig Eis von allerhöchster Qualität versprach, das jeden Tag bei Petersen & Voronin eintreffen könnte. Was für Thilo fast schon an Hochstapelei grenzte. Aber auch er setzte sein ganzes Vertrauen in Katya, ihnen das Eis mitzubringen, das die Firma wieder aus den roten Zahlen holte.
Am Nachmittag hatte er Betje in den Schweizer Pavillon ausgeführt wie an manchen Sonntagen, gefolgt von einem Spaziergang am Alsterufer, sofern es das Wetter erlaubte. Anfangs spürbar eingeschüchtert von dem Gedanken, im Lokal mit ihrem Arm unangenehm aufzufallen, saß Betje inzwischen ganz ungezwungen vor ihrem Kuchen und einem Kaffee mit viel Milch, in ihrem besten Kleid, die roten Locken von Jette zu einem komplizierten Gebilde geflochten. Wann immer der Kellner sie mit das werte Fräulein Tochter anredete, glomm zwischen ihr und Thilo ein Funke der Erheiterung auf, der nahtlos in ein warmherziges Lächeln überging.
Immer wieder erzählte Thilo von Katya, da Betje nie nach ihr fragte. Dinge, die das Mädchen vielleicht noch nicht über sie wusste, aus ihrer ersten Zeit in Hamburg und wie sie zum ersten Mal ins norwegische Eis gefahren waren. Damit sie eine andere Seite von Katya kennenlernte und sie nicht vergaß, in der Zwischenzeit. Jedes Mal verschloss sich Betje dann wie eine Miesmuschel, aber wenigstens schien sie zuzuhören, ihre blauen Augen dunkel und unergründlich.
Betje hatte große Freude daran gezeigt, die Jahresabschlüsse gegenzurechnen, und ohne Hemmungen gefragt, wenn sie etwas nicht genau verstand oder unsicher war. Sie schien generell gern im Kontor zu sein, wo sie auf unaufdringliche Weise den beiden Schreibern über die Schulter sah und sich von ihnen das eine oder andere erklären ließ. Auch Arno, der sich schon beschwert hatte, dass er die Deern gar nicht mehr zu Gesicht bekam, war froh, wenn Betje einen Blick auf die Buchhaltung warf und mit sicherer Hand seine Papiere sortierte, die stets von selbst in Unordnung zu geraten schienen.
Ihr Feuereifer, Zahlenkolonnen auseinanderzuklauben und zu sortieren und dabei alles aufzusaugen, was das Geschäft betraf, hatte Thilo auf einen Gedanken gebracht.
»Willst du vielleicht bei uns in der Firma anfangen?«, fragte er Zacharias an diesem Abend.
Das Du hatte sich ganz selbstverständlich zwischen ihnen eingeschlichen. Wie auch Zacharias’ Anwesenheit bei einem Glas Wein in der guten Stube selbstverständlich geworden war, an diesen langen Abenden, während der Winter in Hamburg nur unwillig dem Frühling wich.
Die eineinhalb Jahrzehnte, die sie trennten, schienen zusammengeschnurrt, seit sie einander besser kennengelernt hatten. Was Zacharias an reinen Lebensjahren fehlen mochte, glich er durch seine Reife aus. Es gab wohl nichts auf dieser Welt, was er nicht schon gesehen hatte. Manchmal, nach dem zweiten, dritten Glas, vertraute er Thilo ein wenig davon an, zögerlich und fast verschämt.
Geschichten von Mädchen, dreizehn oder vierzehn Jahre alt oder manchmal noch jünger, die sich selbst in den Gassen der Neustadt feilboten, für ein paar Groschen oder auch nur ein Stück Brot. Damit sie satt wurden oder die kleinen Geschwister, die kranke Mutter. Weil sie es nicht anders gewohnt waren, vom Vater oder Stiefvater, vom Vetter oder Bruder oder vom guten Onkel nebenan. Nachdem sie sich in einen jungen Mann verguckt hatten, der ihnen das Blaue vom Himmel versprach, bevor er sein wahres Gesicht zeigte und sie zur Hure machte. So lange, bis die Gewalt zu vieler Männerkörper sie zerschlissen hatte, geschwängert oder verseucht, es nichts mehr abzukassieren gab und der Zuhälter sich ihrer entledigte wie Unrat.
Auch für Burschen und kleine Jungen gab es einen einträglichen Markt. Andere rotteten sich in Banden zusammen, um zu betteln, zu stehlen oder zu betrügen und ihre Beute gegen einen kleinen Anteil ihrem Anführer abzuliefern, der sie mit Zuckerbrot und Peitsche bei der Stange hielt.
Einblicke in den Abgrund des menschlichen Daseins, die in Thilo den Wunsch weckten, Zacharias eine helfende Hand entgegenzustrecken und vor all diesem Elend zu bewahren.
»Du könntest bei uns das Geschäft von der Pike auf lernen und dazu noch gutes Geld verdienen«, fügte Thilo jetzt hinzu.
Mit nachdenklicher Miene ließ Zacharias den Wein im Glas kreisen.
»Daran habe ich auch schon gedacht. Ich fürchte nur, dazu tauge ich nicht. Ich bin es schon zu lange gewohnt, mein eigener Herr zu sein.«
Thilo nickte, das verstand er, alle vier Eisbarone waren aus dieser Art von Holz geschnitzt.
»Aber je mehr ich von dir lerne«, fuhr Zacharias mit einem tiefen Atemzug fort, »umso weniger glaube ich, dass ich jemals wirklich im Geschäftsleben einen Fuß auf den Boden bekomme. Nicht mit den paar Kröten, die ich auf der Seite habe.«
»Ohne ein Darlehen hätten wir es auch nicht so weit gebracht.«
Zacharias schnaubte, einen halb erbitterten, halb kläglichen Zug um den Mund.
»Welche Bank würde einem wie mir schon Geld leihen?«
Konzentriert betrachtete Thilo sein eigenes Glas, unsicher, wie weit er gehen durfte, ohne Zacharias zu kränken.
»Ich könnte für dich bürgen. Dir etwas Kapital zuschießen.«
Im Lampenschein färbte sich Zacharias’ Gesicht rot. »Das könnte ich niemals annehmen.«
»Oder du holst mich als stillen Teilhaber mit ins Boot.«
Zacharias schwieg einige Herzschläge lang. Eine grüblerische Falte zwischen den Brauen, fuhr er mit dem Finger den Stiel des Weinglases entlang.
»Das geht doch nicht, Thilo«, erwiderte er schließlich leise. »Du hast genug eigene Verpflichtungen.«
Thilo schmunzelte. »Ganz mittellos bin ich dennoch nicht.«
Auch bei Zacharias deutete sich ein Lächeln an, das jedoch rasch wieder verlosch.
»Wenn ich mir dabei nur nicht so schäbig vorkommen würde«, murmelte er.
»Das ist nicht ehrenrührig«, beharrte Thilo. »Sondern wirtschaftlich gedacht.«
Um Zacharias’ Mund zuckte es.
»Auf jeden Fall ist es ein ungeheuer großzügiges Angebot, für das ich dir sehr dankbar bin. Lass mich ein paar Nächte darüber schlafen, ja?«
Thilo nickte, einen merkwürdigen Geschmack von Enttäuschung auf der Zunge, den er nur mit einigen Schlucken Wein hinunterspülen konnte.
Zacharias’ Blick glitt ins Leere. »Ich würde dich vorher noch gern um etwas anderes bitten«, begann er zögerlich. »Es ist sicher unverschämt von mir, aber …«
Eine Röte der Verlegenheit ergoss sich über sein schönes Gesicht, während er sich den Nacken rieb.
»Dürfte ich bei dir vielleicht ein Bad nehmen? Das letzte Mal ist schon so lange her.«
Unwillkürlich lauschte Thilo auf das Plätschern und Prusten hinter der verschlossenen Tür. Merkwürdig befangen fühlte er sich, in seiner eigenen Wohnung, geradezu nervös tigerte er zwischen Tisch und Tür hin und her. Auch am Fenster fand er keinen Ruhepol. Der Regen, der außen an der Scheibe hinablief, erinnerte ihn nur daran, wie weit entfernt der Spaziergang mit Betje heute Nachmittag unter der Märzsonne zu sein schien. Als ob Nässe und Dunkelheit und Lampenlicht einen Raum schufen, in dem Geheimnisse gediehen.
Sein Spiegelbild einmal mehr ein kritischer Beobachter, flüchtete sich Thilo erneut zur Tür.
»Hast du Hunger?«, rief er in Richtung des Badezimmers.
Zacharias unterbrach sein zufriedenes Summen mit einem lauten Lachen. »Immer!«
In der Küche Gemüse und Speck zu schneiden und mit verquirlten Eiern in eine heiße Pfanne zu werfen, lenkte Thilos Unruhe in eine sinnvolle Tätigkeit. Ein Lächeln auf dem Gesicht, griff er Zacharias’ Summen auf.
»Das fühlt sich herrlich an«, sagte Zacharias an der Türschwelle.
Das Haar tiefschwarz vor Nässe, zog er sich das aufgeknöpfte Hemd über, das Thilo ihm geliehen hatte, und strich bewundernd über den weißen Stoff.
»Du musst mir unbedingt sagen, wo man so was herbekommt. Ich will doch was darstellen, als Geschäftsmann.«
Thilo erhaschte einen Blick auf Zacharias’ quergerippten Bauch und die scharfe Rinne der Leistenmuskeln über dem Hosenbund. Mit einem gemurmelten Fluch zuckte er von der heißen Pfanne zurück.
»Lass mich sehen.« Zacharias ergriff Thilos Hand und blies auf die verbrannte Stelle, eine ebenso liebevolle wie aufreizende Geste. »Das ist immer gefährlich«, murmelte er. »So nahe am Feuer.«
Ein Wassertropfen rann über Zacharias’ Brust, auf die dunkle Haarlinie unterhalb seines Nabels zu.
»Du kannst es vielleicht vor dir selbst verbergen«, raunte Zacharias. »Aber nicht vor mir. Ich weiß, dass du mich willst.«
Der Lockruf einer männlichen Sirene.
Thilo wehrte sich nicht dagegen, als Zacharias ihn küsste. Viel zu schnell berauscht von Zacharias’ Kaffeeatem. Dem Duft seiner Haut, kräftig wie ein ganzer Gewürzspeicher. Von seinem eigenen rasenden Herzschlag, der das Blut heiß durch seinen Körper pumpte, ihn schwindelig machte.
Nur kurz flackerte der Gedanke an Katya in ihm auf. Wie sehr sie zum Schwerpunkt seines Lebens geworden war und ihn in fester Bahn hielt. Einen Wimpernschlag lang sehnte er sich nach ihrer Klarheit, dieser Sicherheit. Dann ließ er sich mitreißen von diesem Sog aus Männerhänden und nackter Männerhaut. In einem maßlosen Begehren, das er fast vergessen hatte und nun neu entdeckte, während das Essen in der Pfanne verschmorte und in Asche und Rauch aufging.