35



Unergründlich still und verlassen lag die Elbe da, an diesem Novemberabend. Ein Band aus Seide, durchschnitten vom Kiel des Boots, die Lichter Hamburgs langsam in der Ferne verglimmend.

Katya sah zu Pawel, der zum Schutz gegen die Kälte den Kragen seiner wollenen Seemannsjacke hochgeschlagen hatte.

»Wo hast du das Boot her?«

»Geborgt«, antwortete er zwischen zwei Ruderschlägen. »Selbst ein Einsiedler wie ich kennt ein paar Leute.«

Ein Lächeln wanderte zwischen ihnen hin und her.

»Was wolltest du mir denn zeigen?«, fragte sie weiter.

Pawel warf einen Blick hinter sich. »Gleich.«

Katya beobachtete ihn, wie er mit gleichmäßigen Ruderschlägen das Boot durch das Wasser steuerte, seine Miene im schwachen Licht der Sterne konzentriert.

»Warum bist du nicht weiter zur See gefahren?«

Noch immer war sie dabei, ihn kennenzulernen. Pawel Korzeniewski, an einem Frostmorgen auf einem kleinen Hof im polnischen Tiefland geboren, vier Jahre ehe Katya auf einem ganz ähnlichen Gehöft in Russland das schneeige Licht der Welt erblickt hatte. Der Einzige von sechs Brüdern und Schwestern, der stark genug gewesen war, die Kindheit zu überleben.

»Weil ich nicht dafür gemacht bin, blind zu gehorchen.«

Auch er hatte seinen Teil der großen weiten Welt gesehen, als Handlanger auf so vielen Schiffen, dass er sie nicht mehr zählen konnte. Wie Katya und Grischa vor der Armut geflohen, nachdem sein Vater unter die Hufe eines tobenden Jungbullen geraten war und seine Mutter sich wenig später an einem rostigen Nagel das Blut vergiftet hatte. Allein konnte Pawel den Zins für den Grundherrn nicht aufbringen, und einen anderen Ausweg hatte er nicht gesehen, in einem von Krieg und Aufständen zerrütteten Land, das unter der russischen Knute stöhnte. Fünfzehn Jahre alt war er da gewesen.

»Und warum bist du in Hamburg geblieben?«

Um Pawels Mund zuckte es. Niemand hatte ihn je so viel gefragt, wie Katya es tat, und jede Antwort, die er ihr gab, brachte neue Fragen hervor. Er wusste nicht, wann er zuletzt so viel geredet hatte wie mit ihr.

»Weil es stimmt, was sie sagen. Hamburg ist das Tor zur Welt. Ein Hauch dieser großen weiten Welt spült immer gegen die Hafenmauern. Und wohin es einen auch lockt, in Hamburg kriegt man ein Schiff, das einen dorthin bringt. Dieses Gefühl brauche ich wie die Luft zum Atmen.«

Pawel zog die Ruder ein und ließ das Boot sanft auslaufen.

»Das, Katya, das wollte ich dir zeigen.«

Über den Auen war der Mond aufgegangen. Voll und rund und schneeweiß, fast bläulich, seine Maserung wie Luftblasen im Eis. Im Nachtlied der Wasservögel brachte er die Nebelfelder zum Leuchten, bevor er sein Licht in die Elbe ergoss. Unwillkürlich tauchte Katya die Hand ins kalte Wasser, um von diesem Mondlicht zu schöpfen.

Niemand hatte ihr je so schöne Dinge gezeigt wie Pawel. Ein sonnendurchflutetes Waldstück vor der Stadt, lodernd in den Farben des Herbstes, wo sie Füchse bei ihrem eleganten Spiel beobachtet hatten. Und einmal waren sie im Dunkeln die morschen Treppen eines leer stehenden Speichers hinaufgeklettert, Hand in Hand, die Lichter Hamburgs zu ihren Füßen, die Sterne zum Greifen nahe.

Katya legte die Hände um sein Gesicht. »Solltest du je von hier weggehen, geh nicht ohne mich.«

Pawel löste ihre Hände, drückte links und rechts einen Kuss hinein und barg sie in seinen eigenen Händen.

»Versprochen.«

An eine russische Prinzessin erinnerte sie, wie sie in ihren weiten Röcken und der engen Jacke mit dem Pelzkragen im Boot saß, eine Pelzkappe auf ihrem nachtschwarzen Haar. Dieselbe Frau, die an manchen Abenden auf seinem Herd deftigen Eintopf kochte, wenn er nach Hause kam, die Blusenärmel hochgekrempelt und Spuren von Mehl auf ihrem Gesicht, die Rillen ihrer Fingerkuppen getränkt von Zwiebelsaft und Butter. Manchmal konnte er nicht anders, als ihr dann schon den Kochlöffel zu entwinden, die Schürzenbänder aufzuziehen; zwei Teller hatte ihn diese Leidenschaft bereits gekostet.

Unendlich wertvoll waren die Nächte, in denen sie blieb, ihr schlafschwerer Arm ein süßes Gewicht auf seiner Brust. Die frühen Morgenstunden, wenn er angezogen und einen Becher Kaffee in der Hand seine schlafende Nixe mit ihrem fließenden Nachthaar betrachtete. Bis sich ihre Lider hoben, ein Lächeln in den Himmelsaugen, und sie die Hand verlangend ausstreckte, nach ihm sowie dem Kaffee.

Herr Pawel , hatte die Metzgersfrau ausgerufen, bei der er ab und zu Fleischreste und Knochen für Pies holte. Welcher Engel auch Ihren Weg gekreuzt hat, lassen Sie ihn besser nicht mehr gehen!

»Diese Heimlichtuerei muss aufhören, Katya. Ich will dich ganz.«

Katya schlug das Herz bis zum Hals.

Bei Pawel spürte sie, wo ihre Wurzeln lagen. Nicht nur, weil sie mit ihm das erste Mal seit vielen Jahren wieder Russisch sprach und auf die Art kochte, wie sie es als kleines Mädchen gelernt hatte. Mit ihm konnte sie leidenschaftlich gleich in drei Sprachen streiten, ohne dass einer dem anderen grollte, und genauso leidenschaftlich versöhnten sie sich in der einen Sprache, die so alt war wie die Menschheit selbst.

Er mochte es, wenn sie vorlas, während er in seiner Werkstatt eine zerlegte Uhr wieder zusammensetzte oder eine Kommode restaurierte. Manchmal, wenn sie eng umschlungen dalagen, der Herzschlag gerade abebbend, die Luft dampfend schwer von ihrer Lust, erzählte Pawel Märchen aus seiner Kindheit oder sagte Gedichte auf. Katya verstand nicht genug Polnisch, und trotzdem liebte sie es, ihm zuzuhören und wie seine Stimme dabei tief in seiner Brust vibrierte.

Als ob sie den ganzen langen Weg vom großen See von Ladoga zurückgelegt hatte, um Pawel zu finden, so kam es ihr vor. Mit ihm war es nicht die zärtliche Fürsorge eines Johann Silberberg. Nicht der Rausch, den sie mit Christian erlebt, und nicht die sanfte Seelenverwandtschaft, die sie mit Thilo verbunden hatte.

Wie zwei Metalle waren sie, die sofort Funken sprühten, sobald sie sich berührten, dabei überall Brandflecken hinterließen und ineinanderschmolzen. Vielleicht hatte sie sich noch nie so sehr als Frau gefühlt wie bei Pawel.

Umso stärker war diese hohle Leere in ihrem Bauch, die darauf wartete, sich mit Leben zu füllen. Ihre Brust übervoll mit dem Sehnen, ein Kind daran zu nähren.

»Ich werde vielleicht nie Kinder bekommen können.«

Pawel hatte nie an Familie gedacht, nicht ernsthaft. Wie auch, wenn die Frauen ihn zu kalt fanden, zu rau, keine je die Geduld aufgebracht hatte, darauf zu warten, bis er auftaute. Keine, die mutig genug gewesen war, ihm die Stirn zu bieten.

Alles konnte er sich vorstellen mit einer Frau wie Katya.

»Das wird sich noch zeigen. Und selbst wenn. Dann holen wir uns welche von der Straße. Laufen ja genug herum.«

Gegen ihren Willen musste Katya lachen und sah ihm dann fragend ins Gesicht.

»Du meinst das wirklich ernst.«

Pawel nickte. »Sieh dir nur an, was aus Betje geworden ist. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mit dir eine Handvoll dieser Kinder großzuziehen, die sonst niemanden haben.«

Einige Herzschläge lang hielten sich ihre Blicke im Silberlicht des Mondes fest, während sie lächelnd Träume von einer Familie spannen, die sich zusammenfand, während andere Familien geboren wurden.

Wie ein Sinnbild für das Glück, das sie beide gefunden hatten, als sie schon selbst nicht mehr daran glaubten.

»Ich bin noch verheiratet«, wandte Katya ein.

Auch wenn es sich nicht so anfühlte, seit sie mit Betje allein am Kehrwieder wohnte, Thilo nur im Kontor sah und bei den Familienessen. Wenigstens redeten sie wieder miteinander, wenn auch nur über das Geschäft und über Betje.

Es bedrückte sie, wie müde seine Schritte oftmals wirkten, sein Blick gehetzt und erschöpft zugleich. Doch wann immer sie auf ihn zuging, wandte er sich ab und erinnerte sie wieder daran, dass sie die abgelegte Ehefrau war.

»Ich brauche kein Stück Papier«, entgegnete Pawel und strich mit den Daumen über Katyas Handballen. »Noch nicht einmal den Segen meiner oder deiner Kirche. Du bist auch so meine Frau.«

Sie beide wussten das. Allerdings redeten die Leute schon darüber, dass Thilo Petersen eine eigene kleine Wohnung bezogen hatte. Keine zwanzig Schritt vom Kontor entfernt, gewiss, aber dennoch. Christian, neuerdings ganz auf den guten Ruf von Petersen & Voronin bedacht, brachte dieses Gerede immer wieder gern zur Sprache. Vielleicht aus purer Schadenfreude, vielleicht als mahnenden Appell, es noch einmal miteinander zu versuchen, um des lieben Friedens willen in Firma und Familie.

Eine Scheidung würde dem Ruf des Unternehmens sicher etliche tiefe Schrammen zufügen; womöglich selbst dann, wenn Katya sich bald danach wieder verheiratete.

»Und wenn wir aus Hamburg weggehen?«, sprach Katya den ersten Gedanken aus, der ihr in den Sinn kam.

»Wohin willst du?«

Unschlüssig zuckte sie mit den Schultern. »Irgendwohin. Indien. Norwegen. Oder wo ich noch nie gewesen bin. Ich bin noch nicht einmal achtundzwanzig. Das ist doch sicher nicht zu alt, um noch einmal neu anzufangen.«

»Und wovon willst du dort leben?«

Katya hob das Kinn. »Ich habe Geld.«

»Kein Geld der Welt reicht ewig, Katya.«

»Dann verdiene ich mir wieder welches. Irgendetwas findet sich immer.«

Mit den Daumen zeichnete Pawel die Linien in ihren Handflächen nach. Er war fasziniert davon, mit welcher Leidenschaft sie über das Eis sprach, sodass selbst er, der den Winter immer unerträglich kalt und leblos gefunden hatte, dessen Zauber spürte.

Die Arbeit im Kontor würde Katya vielleicht nicht einmal so sehr vermissen. Schon gar nicht teure Kleider und Pelze und eine Hilfe für das Gröbste im Haus. Wohl aber die Fahrten ins Eis. Das Abenteuer dabei, die harte Arbeit, bei der sie sich und ihren Instinkt ausreizen und unter Beweis stellen konnte.

Würde es in ihrem Leben je wieder etwas geben, das diesen Platz einnehmen könnte?

»Und was wird aus Betje?«, wollte Pawel wissen.

Die nächtlichen Rufe der Wasservögel hallten wehmütig in Katya nach.

Das Mädchen begann sich abzunabeln, umso stärker, je länger sie wieder in Hamburg waren. Betje schien sich nicht einmal groß etwas dabei zu denken, wenn Katya eine ganze Nacht fortblieb. Gänzlich selbstständig war sie geworden und sog inzwischen aus eigenem Antrieb Wissen auf, wo sie nur konnte. Halbe Tage verbrachte sie im Kontor, wo sie erste Buchhaltungsarbeiten übernahm, gegen den Lohn, den sie mit Thilo ausgehandelt hatte, und samstags half sie mit im Gemischtwarenladen. Ganz souverän hatte sie Thilo bei der Einrichtung seiner neuen Wohnung unterstützt und entschied nun selbst, wann sie bei Katya am Kehrwieder übernachtete oder in ihrem Zimmer bei Thilo an den Mühren, wo die beiden oft lange Stunden über dem Schachbrett zusammensaßen.

»Ich fürchte, Betje wird mich nicht mehr allzu lange brauchen.«

Sanft fuhr Pawels Zeigefinger die Kontur von Katyas Gesicht nach.

»Wann brichst du nach Norwegen auf?«

»Anfang Januar. Nur werde ich dieses Mal wohl nicht vor Mai zurück sein.«

Grönland lautete ihr Ziel, sobald alles Eis in Norwegen geerntet und verschifft war.

Mit dem Herbst war die Rastlosigkeit in Grischa zurückgekehrt, der alte Hunger nach mehr. Drei Seen in Norwegen reichten ihm nicht, Gletschereis aus Grönland sollte es sein, eine Fahrt, die er aus eigener Tasche bezahlte.

Katya hatte nicht lange überlegen müssen. Unerreichbar fern war ihr das Eis Grönlands geblieben, damals, als kleines Mädchen an Bord des Nordmeerseglers. Jetzt würde sie sich den Traum erfüllen können, es nicht nur zu sehen, sondern auch zu fühlen, in seiner ganzen kalten und glatten Pracht.

Die Augen hell schimmernd wie der Mond selbst, legte Pawel ihr die Hand in den Nacken und küsste sie.

»Pies und ich werden hier sein und auf dich warten.«

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