26
Thilos Finger zeichneten die Konturen von Zacharias’ Schulterblättern nach. Die Muskelstränge, die das Rückgrat flankierten, und die Kuhle über dem Steißbein.
Er wusste, er hätte sich schuldig fühlen sollen, doch das konnte er nicht. Mit Zacharias erlebte er eine neue Art von Freiheit, nach der er süchtig war. Ausgebrochen aus einem Käfig, in den er sich selbst gesperrt hatte.
Seine Hand legte sich auf die harte Wölbung von Zacharias’ Hinterbacke. Erstaunlich kühl fühlte sie sich an, dabei hatten sie vorhin erst die Laken mit ihrem Schweiß getränkt. Thilo verlagerte sein Gewicht, um Zacharias mit seiner Leistenbeuge zu wärmen, die noch immer glühte, und die Lust, von der er sich eben noch so satt geglaubt hatte, sprang erneut in ihm auf.
»Hast du noch immer nicht genug?«, murmelte Zacharias schläfrig.
»Niemals«, flüsterte Thilo und unterstrich seine Beteuerung mit Küssen auf Zacharias’ Schultern und Nacken.
Zacharias blieb jedoch seltsam unbeteiligt.
»Was ist?«, hauchte Thilo gegen seine Haut.
»Nichts«, lautete die tonlose Antwort.
Zacharias’ Wimpernfächer streiften über das Kissen, während seine Stirn unaufhörlich in Bewegung war, grüblerisch und fast schon angestrengt.
»Rede mit mir«, bat Thilo, das Gesicht in seinem dunklen Haar vergraben, das nach dem Ruß und Rauch der Stadt roch.
»Da ist dieses Mädchen«, begann Zacharias stockend. »Bei mir in der Straße. Lene. Ich muss die ganze Zeit an sie denken.«
Thilos Herz setzte einen Schlag aus.
»Der Kerl, für den sie anschaffen geht, hat gesagt, er gibt sie frei«, erzählte Zacharias weiter. »Für hundert Mark.«
Mit dem Handballen rieb er sich das Auge und atmete tief durch, bevor er sich in Thilos Umarmung umdrehte.
»Nie im Leben kriegt sie das zusammen, und wenn sie noch so viele Freier an sich ranlässt. Das weiß sie auch und ist deswegen völlig verzweifelt. Dabei will sie so sehr raus aus diesem Dreck.«
Sein Blick hielt sich an dem Thilos fest.
»Und wenn ich ihr das Geld nun gebe? Was meinst du?«
Nachdenklich fuhr Thilo mit dem Kinn über Zacharias’ Schlüsselbein. »Was wird dann aus deinem Geschäft?«
Kaffee oder Tee, Seide oder Gewürze, darin war Zacharias noch immer unentschlossen, das Objekt seines geplanten Handels so wechselhaft wie der Frühling in Hamburg.
Zacharias zuckte mit einer Schulter, einen entschlossenen Zug um den Mund.
»Dann fange ich eben mehr oder weniger noch mal von vorn an. Das wär’s doch wert, oder nicht?«
Thilo brauchte nicht lange zu überlegen. »Warte kurz.«
Herrlich war es, sich nackt durch die eigene Wohnung zu bewegen, mit einer ungezwungenen Natürlichkeit und bar jeglicher Scham.
»Geh damit zur Bank«, sagte er, als er ins Schlafzimmer zurückkehrte.
Zacharias starrte auf den Scheck über zweihundert Mark. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Natürlich kannst du. Für Lene. Mit dem, was übrig ist, kann sie sich ein neues Leben aufbauen. Ein besseres.«
Einen schwer zu deutenden Ausdruck auf dem Gesicht, ließ Zacharias das kostbare Stück Papier durch die Finger gleiten.
»Ich bin noch nie jemandem wie dir begegnet, Thilo. Du hast wirklich ein Herz aus Gold.«
Thilo spürte, wie er bis unter die Haarwurzeln errötete. Ein Bein angewinkelt, ließ er sich auf der Bettkante nieder, umfasste Zacharias’ Hinterkopf und küsste ihn auf die Wange.
Zacharias’ Augen waren weiter unverwandt auf den Scheck in seinen Händen gerichtet.
»Wann kommt deine Frau zurück?«, raunte er nach einer Weile, seine Stimme heiser.
Thilo blinzelte vor sich hin. Sein Zeitgefühl, von jeher fein gestimmt und klar getaktet, war zusehends zerfasert. Tagesziffern, Kalenderwochen, Monatsnamen – abstrakte Größen, mit denen er im Kontor hantierte, ohne weiter darüber nachzudenken. Jedes Vorrücken des Stundenzeigers ließ sein Herz höherschlagen, bis er endlich guten Gewissens seinen Hut nehmen und nach Hause eilen konnte, in erwartungsvoller Vorfreude auf Zacharias’ Besuch. Immer mit der Befürchtung, die Reinemachefrau könnte noch ewig mit Feudel und Eimer zugange sein, wenn er die Tür aufschloss. Die Blicke der Wäschefrau, wenn sie das Bett abzog, fürchtete er schon lange nicht mehr.
Zwischen den Arbeitstagen in der Firma, den Ausflügen und Schachpartien mit Betje hatte er ein zweites, heimliches Leben für sich abgezweigt. Jede Stunde mit Zacharias zählte doppelt und dreifach, von einem Morgen geborgt, das weit genug entfernt schien.
»Frühestens in einer Woche.«
Zacharias’ Adamsapfel ruckte auf und ab, als er trocken schluckte.
»Ich hab ja gewusst, dass es nicht für immer ist«, flüsterte er. »Nur ein kleiner Zeitvertreib für dich.«
Erschrocken fasste Thilo ihn bei der Schulter. »Nein, das ist es nicht. Das war es auch nie. Denk das bitte nicht.«
Was er für Zacharias fühlte, ging tiefer als die körperliche Anziehung, in der sie beide badeten. War mehr als die Lust am Heimlichen, Verbotenen.
Zacharias versuchte sich an einem Lächeln, das zittrig geriet, und in seinen Augen schimmerte es feucht.
»Ich war noch nie so glücklich, Thilo. Mit niemandem. Ich will nicht ohne dich sein.«
»Das musst du auch nicht«, versprach Thilo und drückte ihn an sich. »Wir finden einen Weg.«
Erschöpft schleppte sich Katya die Stufen hinauf, froh, dass sie im Treppenhaus niemandem begegnete. Eine raue Überfahrt war es gewesen, an Bord des erstbesten Frachters, den sie in Bergen ausfindig gemacht hatte. Sie wünschte, sie hätte ihre Männerhosen anbehalten, die Röcke hingen schwer um ihre Beine und stanken nach Stockfisch.
Hinter der Wohnungstür tanzten Stäubchen im milden Licht des Nachmittags, sie hatte vergessen, dass in Hamburg schon Frühling war. Im Schlafzimmer hörte sie Thilo auflachen. Sie setzte ihre Tasche ab, um ihm mit einem Lächeln entgegenzugehen. Sich in seine Arme zu schmiegen und endlich, endlich nicht mehr stark sein zu müssen.
Zwischen den Laken und Kissen waren zwei Männer in einen erotischen Ringkampf verstrickt. Ein Wettstreit, wer der Stärkere war. Wer fester zupacken, wer zärtlicher streicheln konnte. Wer ausdauernder küsste und wer zuerst seiner Lust erliegen würde.
Ein schöner und geradezu verführerischer Anblick. Wäre es nicht Thilo gewesen. Mit Zacharias.
Zacharias entdeckte sie als Erster. Mit einem Aufglimmen in den Augen fuhr seine Zunge noch einmal über Thilos Brust, bevor er sich auf den Rücken rollte. Seine hoch aufgerichtete Männlichkeit eine obszöne Geste in Katyas Richtung, ein Ausdruck des Triumphs auf dem Gesicht.
Das Geräusch, mit dem sich die Wohnungstür hinter Zacharias geschlossen hatte, hallte lange nach. Ohrenbetäubend laut im gelähmten Schweigen zwischen Katya und Thilo. Zacharias’ Geruch hing noch im Raum, ein Echo seiner Anwesenheit, aber um ihn ging es jetzt nicht.
Lange sahen sie sich nur an, Katya blass und starr in ihrer Reisejacke, Thilo hastig in seine Hosen geschlüpft, einen Rest Röte unter seiner hellen Haut.
»Wie lange geht das schon?«, verlangte Katya zu erfahren.
»Ein paar Wochen.«
»Liegt es an mir? War ich zu lange fort? Oder war ich dir nicht genug? Habe ich etwas falsch gemacht?«
Thilo schüttelte den Kopf. »Nichts von alledem.«
»War unsere Heirat nur ein Vorwand?«
»Nein. Nie. Ich habe alles genau so empfunden, genau so gemeint.«
»Aber?«
Ihre Frage verklang in erneutem Schweigen.
Thilo wartete darauf, dass eine Flut von Scham und Schuld in ihm aufbrandete und über ihm zusammenschlug. Doch da war nichts, nichts außer dem scheußlichen Gefühl, Katya leiden zu sehen. Und der uferlosen Erleichterung, eine Last von sich abgeworfen zu haben, die keine Lüge gewesen war, aber auch nicht die ganze Wahrheit.
»Es ist wohl besser, ich übernachte heute woanders.«
Schweigend sah Katya zu, wie Thilo sich anzog. Dieser Fremde, der sich ganz selbstverständlich durch ihr Schlafzimmer bewegte, die Hemden und Socken und Unterzeug ihres Mannes aus dem Schrank holte und in einer Tasche verstaute.
»Willst du mich nicht mehr?«, fragte sie hilflos.
Thilo hielt inne.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er.
Einige Herzschläge lang schwieg er, dann drehte er sich um, einen wunden Ausdruck in den Augen.
»Niemand auf dieser Welt ist mir so nahe wie du. Niemand bedeutet mir mehr. Aber das mit Zacharias … das ist ebenso ein Teil von mir. Ohne den ich nicht leben kann. Das ist das Einzige, was ich im Augenblick weiß.«
Erneut sahen sie sich lange an. Zwei Eisschollen, die Bruchkanten verletzend scharf und von gegenläufigen Strömungen unerbittlich auseinandergetrieben.
Dann ließ Thilo den Verschluss der Tasche zuschnappen und ging.
Reglos lauschte Katya dem Zuklappen der Wohnungstür. Der Leere, die bis in den letzten Winkel kroch.
Sandfrau. Sie wusste nicht mehr, wo sie das schon einmal gehört hatte. Ihre Augen brannten, voller Sand, den sie sich selbst hineingestreut hatte, um nicht sehen zu müssen, dass Thilo immer schon Männer begehrt hatte.
Ausgerechnet Zacharias.
Eine Spinne, die ihr Netz zu weben begonnen hatte, kaum dass dieser junge Mann das erste Mal auf ihrer Schwelle aufgetaucht war. Der Katyas Abwesenheit dazu benutzt hatte, Thilo anzulocken und einzuwickeln, nach allen Regeln der Verführungskunst.
Sie erschrak selbst, mit welcher Wucht die Schale, die eben noch auf dem Nachttisch gestanden hatte, an der Wand zerschellte und in Splittern zu Boden prasselte. Fahrig stürzte sie sich auf das Bettzeug, das überwältigend stark roch wie Tang und Salzwasser. Das abgestandene Hafenbecken einer Geschlechtlichkeit, die sie als Frau ausschloss. Den ersten Kissenbezug bekam sie noch heruntergezerrt, dann verließen sie die Kräfte.
Schwerfällig sackte sie auf der Bettkante zusammen und starrte blicklos auf die Scherben der Schale, die sie sich als frischvermähltes Paar aus Indien mitgebracht hatten. Einander zutiefst vertraut und berauscht vom Glück, zusammen das Leben zu wagen.
Ein Menschenalter war es her und jetzt vorbei.
Christian sah sofort, dass etwas nicht stimmte, als sein Vater ihm an diesem Abend die Tür öffnete. Spätestens als er seinen Bruder am Küchentisch vorfand, eine Reisetasche zu seinen Füßen, ein volles Schnapsglas vor sich. Nicht das erste, wie seine Gesichtsfarbe und die wässrigen Augen verrieten. Dabei trank Thilo sonst lediglich ein, zwei Gläser Wein; sogar wenn sie in der Firma mit Kunden auf einen gelungenen Abschluss anstießen, nippte er nur am Hochprozentigen.
»Ein kleiner Streit unter Eheleuten«, meinte Arno Petersen nachsichtig und klopfte seinem älteren Sohn auf die Schulter. »Kommt vor. Renkt sich bestimmt schnell wieder ein.«
Christian hatte nicht einmal gewusst, dass Katya schon aus Norwegen zurück war. Thilo schwieg, aber die Art, wie er den Klaren hinunterkippte, kam Christian wie ein Eingeständnis vor.
»Was hast du ausgefressen?«
Er dachte an all die Male, die er abends an Thilos Tür geklopft und keine Antwort bekommen hatte, und eine dunkle Ahnung dämmerte in ihm herauf. Eine schäbige Art von Genugtuung, dass auch Thilo, sein Leben lang verlässlich und korrekt, nicht unfehlbar war.
»Thilo, was hast du gemacht?«
Thilo unterdrückte ein Aufstoßen und schenkte sich nach. »Geht dich einen feuchten Dreck an.«
»Junge!«, rief Arno Petersen rügend dazwischen.
»Mach, dass du wieder hinaufkommst und dich bei Katya entschuldigst«, herrschte Christian seinen Bruder an. »Das ist das Mindeste, was sie verdient.«
»Du musst es ja wissen«, gab Thilo beißend zurück.
Blanke Feindseligkeit stand in den Blicken der beiden Brüder. Bis Thilo als Erster die Augen niederschlug, eher verächtlich als bezwungen. Er griff nach seiner Tasche und kam unsicher auf die Beine. Das Angebot seines Vaters, hier bei ihm unterzukommen, schlug er aus, während Arno Petersen nichts davon hören wollte, dass sein Sohn im Gasthaus übernachtete.
Ein zähes Tauziehen, für das Christian die Geduld fehlte. Er rannte hinaus und jagte die Treppen hinauf. Atemlos klopfte er oben an, rief leise Katyas Namen. Hinter der Wohnungstür blieb alles still. Christian legte die Hand gegen das Holz.
Das Meer der Zeit teilte sich, und er war wieder einundzwanzig Jahre alt. Ein Heißsporn, ein charmanter Schwerenöter, der die Mädchen auf dem Kehrwieder geküsst hatte und doch unberührt geblieben war. Oft hatte er hier gestanden, ein Stück Butter bei sich, ein Pfund Kaffee, eine Speckseite. Unbeholfene Morgengaben für das Mädchen oben im Haus, das geradewegs aus einem nordischen Märchen über die Schwelle des Ladens geschneit war.
Aus Trotz und törichter Ungeduld hatte er diese erste Liebe mit Füßen getreten. In der kindischen Furcht, ihr niemals ganz das Wasser reichen zu können, dieser Tochter von Schwaneneltern, Kind eines Rabenvolkes.
Ein schwaches Rascheln auf der anderen Seite ließ ihn hoffnungsvoll aufhorchen.
»Katya«, flüsterte er. »Mach auf. Bitte.«
Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Blass und steinern war Katyas Gesicht dahinter, eine lose Haarsträhne hing ihr in die Stirn.
Christian versuchte sich an einem Lächeln. »Lässt du mich rein?«
Wie eine Blinde in einer unvertrauten Umgebung tastete sie sich durch die Wohnung, von den Lichtern auf der anderen Seite des Binnenhafens gerade so weit erhellt, dass Schemen und Konturen erkennbar waren. Christian zögerte, dann ließ er sich auf dem Sofa nieder, an dessen Ende Katya sich zusammengerollt hatte.
»Willst du mir erzählen, was passiert ist?«
Sie deutete ein Kopfschütteln an.
Christian fühlte sich ratlos. Katya war keine Frau, die wegen Bartstoppeln im Waschbecken einen Streit vom Zaun brach, auch nicht wegen einer vergessenen Besorgung, eines verpassten Jahrestages. Es befremdete ihn, dass ausgerechnet Thilo, der in jeder Hinsicht die beste Wahl zu sein schien, sich offenbar Schwerwiegendes hatte zuschulden kommen lassen.
Weil es nichts gab, was er hätte sagen oder tun können, streichelte er einfach ihren Arm. Ihre Finger, die seine suchten, waren kalt; geradezu schmerzhaft ihr Griff. Mit einem beruhigenden Laut zog er sie in die Arme.
»Immer die Petersens, hm?«
Ein trockenes Schluchzen war die Antwort.
Aneinandergeschmiegt lauschten sie dem Herzschlag des anderen, seinen Atemzügen. Dem alten Haus, das ächzte und knarzte und stöhnte. Genau so klang es, wenn einem das Leben, das man sich erhofft und erträumt und aufgebaut hatte, aus den Händen glitt, das wussten sie beide.
Irgendwann spielte es keine Rolle mehr, was gewesen war, ob gestern oder vor zehn Jahren. Irgendwann hatte die Dunkelheit die Welt dort draußen verschlungen und nur Katya und Christian übrig gelassen.
Ganz natürlich schien es, in langen Küssen den Atem zu teilen, und nur ehrlich, sich mit den Kleidern die Rollen abzustreifen, die sie gespielt hatten – Ehefrau, Ehemann, Vater. Sich in aller Nacktheit zu begegnen. Gegenseitig streichelten sie sich die Zeit vom Leib. Die Narben und Blutergüsse auf der Seele und die Fußstapfen ihrer Irrwege.
Endlich, sagten ihre Blicke, die sich auch in der Dunkelheit nicht voneinander lösten.
Endlich, endlich, seufzten ihre Atemzüge.
Keiner von beiden hatte gewusst, wie leicht ein Menschenleib zerfloss, gab man erst einmal seine Willenskraft auf und gehorchte nur noch seinem Gefühl. Wie das zärtliche Spiel von Wellen war es, die ineinander strömten und sich verwirbelten. Die sich aufschaukelten und übereinander zusammenschlugen und schließlich zergingen, in salziger Gischt und Meeresschaum.
Der Mond schickte verstohlen sein Licht durch das Fenster. Die Füße auf das Sofa heraufgezogen und noch nass zwischen den Schenkeln, beobachtete Katya Christian, wie er schlief, sein Duft in jeder ihrer Poren, der Geschmack seiner Küsse in ihrem Mund.
Mit seinen lang gestreckten Linien und Winkeln war er die männliche Antwort auf ihren eigenen Körper gewesen; ihr war noch nie aufgefallen, wie dünn und sehnig seine Beine waren, storchengleich. Mit weher Zärtlichkeit streichelte sie sein Gesicht, das gelöst wirkte. So viel jünger als am Tag, fast noch wie ein Junge.
Der falsche Bruder, ging es ihr durch den Kopf, und sie wusste selbst nicht, ob sie ihn oder Thilo meinte.
Katya mochte die Frau nicht, die sie geworden war. Ihr Eis aus Norwegen hatte sie sich über Leichen geholt und damit alles aufs Spiel gesetzt, woran ihr Herz hing. Als Ehefrau hatte sie ebenso versagt wie als Ziehmutter für Betje. Jetzt hatte sie sogar Hennys Mann gestohlen, für eine Nacht; rachsüchtig, aus nostalgischer Verliebtheit heraus oder zum Trost, das wusste sie selbst nicht.
Gegen den Strom der Zeit konnte man nicht zurückrudern. Eine zu lang gehegte Sehnsucht rücksichtlos einzufordern, schmeckte am Ende schal.
Noch war es nicht zu spät, wenigstens ein paar Dinge geradezurücken. Auch wenn das bedeutete, Staub aufzuwirbeln und auf die Gefühle anderer Menschen zu treten. Der Staub würde sich legen, Herzensschrammen wieder heilen.
Sie fasste Christian bei der Schulter, rüttelte ihn und wisperte seinen Namen, packte dann fester zu und rief nach ihm, bis er schlaftrunken hochfuhr. Das Lächeln, das auf seinem Gesicht aufschien wie die aufgehende Sonne, schnitt ihr tief ins Herz.
»Du musst gehen«, befahl sie, während sie seine Kleider zusammensuchte und ihm zuwarf. »Jetzt sofort. Du warst nie hier. Diese Nacht hat es nie gegeben, hörst du?«
Benommen schlüpfte Christian in Hemd und Hosen und taumelte blindlings durch die Wohnung, hinaus ins Treppenhaus, wo sich die Wohnungstür mit Nachdruck hinter ihm schloss. Schuhe, Socken und sein Jackett in einem unordentlichen Bündel in den Händen und der Boden kalt unter den bloßen Füßen, stand er einige Herzschläge lang wie betäubt da.
Ein trauriger Narr. Ein lächerlicher Hanswurst.
Mit einem tiefen Atemzug drückte er die Stirn gegen die Tür, die sich nicht wieder für ihn öffnete, solange er auch Katyas Namen flüsterte.