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»Wiedersehen, Frau Mertens«, sagte Hanno und hielt der Kundin mit ihrem übervollen Korb die Tür auf. »Und einen schönen Sonntag!«

Er warf noch einen Blick den Kehrwieder hinauf und wieder hinunter, ob nicht doch noch eine Hausfrau in letzter Minute herbeigeeilt kam, weil der Zucker ausgegangen war oder das Scheuerpulver, dann schloss er unter dem Bimmeln der Glocke die Tür und drehte den Schlüssel um.

Samstag war der beste Tag der Woche. Nicht nur, weil samstags am meisten los und die Kasse am Ende des Tages gut gefüllt war. Sondern weil Betje mit im Laden stand.

Während er das Obst und Gemüse aussortierte und Arno Petersen hinten in seinem Kabuff das Geld zählte, sah Hanno immer wieder zu ihr, wie sie mit konzentrierter Miene den Boden fegte. Solange im Laden Betrieb herrschte, lachten und scherzten sie miteinander wie früher, ihrer beider Bewegungen durch den Raum wie aufeinander abgestimmt, ihre Handgriffe in einem eingespielten Rhythmus. Es waren Momente wie dieser, in denen er aus ihr nicht schlau wurde; unendlich weit weg schien sie dann.

Kein Wunder, nachdem sie so lange in Indien gewesen war und in Norwegen, in London und sogar in Paris. Mit einer neuen Sicherheit war sie von dort zurückgekehrt, der sich die Hausfrauen instinktiv zuwandten, auch wenn Betje nie lange mit ihnen schnackte und schon gar keinen Sinn für Klatsch und Tratsch besaß. Aber obwohl sie noch so jung war, wusste sie, wie man hartnäckige Flecken aus einem Tischtuch entfernte, dem Eintopf mit ein bisschen Bohnenkraut mehr Würze verlieh und dass der Käsekuchen keine Risse bekam, wenn man ihn während des Backens zweimal am Rand entlang einschnitt.

Mehr als nur adrett sah sie aus in ihrem blauen Rock, der weißen Bluse, die roten Locken zu Flechtzöpfen aufgesteckt. Was auch den Junggesellen nicht verborgen blieb, die sich in den Laden verirrten, weil sie sich selbst mit Frühstückseiern versorgen mussten oder Nadel und Zwirn brauchten, um einen Knopf anzunähen. Bei vielen erlosch das Interesse, sobald sie auf den dritten oder vierten Blick Betjes schlaffe Linke bemerkten. Und doch gab es immer den einen oder anderen, der unverdrossen mit Betje schäkerte, was sie meist mit hochgezogenen Brauen zur Kenntnis nahm; manchmal errötete sie aber auch, umspielte ein kleines Lächeln ihren Mund. Für Hanno ein Wechselbad aus Genugtuung und Stolz und kleinen Piksern von Eifersucht.

»Kommt ihr morgen wieder zum Essen zu uns, du und Arno?«, fragte Betje.

»Sicher.«

Das feuchte Schmatzen des Feudels, mit dem sie jetzt den Boden wischte, verstummte jäh, wie zögernd.

»Hanno?«

»Ja?«

»Solange Katya über den Winter nicht hier ist … Könntest du mir vielleicht wieder die Haare flechten?«

Unwillkürlich schlug sein Herz einen schnelleren Takt an.

»Natürlich«, gab er betont leichthin zurück. »Ich kann morgens auf dem Weg in den Laden noch auf einen Sprung bei dir vorbeikommen.«

Betje bugsierte den Wischeimer mit dem Fuß ein Stück weiter durch den Raum und musterte dabei Hanno aus dem Augenwinkel. Seltsam war es geworden zwischen ihnen. Etwas unsicher Befangenes war in ihre alte Vertrautheit hineingesickert. Eine merkwürdige Scheu, die Betje unruhig machte und doch wohlig in ihrem Bauch kribbelte. Sie fasste sich ein Herz und griff in die Tasche ihres Rocks.

»Das habe ich dir aus Indien mitgebracht. Ich wollte es dir schon längst geben, aber …«

Andächtig wog Hanno das Messer in der Hand, das hochwertig gearbeitet war, das sah er auf den ersten Blick. Probehalber ließ er es ein paarmal auf- und zuschnappen und fuhr mit dem Daumen über das Perlmutt des Griffs. Etwas so Kostbares hatte er noch nie besessen.

»Danke«, sagte er, und ein Kitzeln in der Kehle ließ seine Stimme beinahe kippen.

So klar und glänzend waren Hannos Augen, dass Betje sich darin spiegeln konnte.

»Was machst du nachher noch?«, wagte sie sich mit heißen Wangen vor.

»Ich bringe die Kisten mit dem übrig gebliebenen Obst und Gemüse in die Hinterhöfe«, antwortete er, erstaunt, dass sie überhaupt fragte. »Wie jeden Samstag.«

»Ach so«, murmelte Betje. »Dann bis morgen.«

Verblüfft sah Hanno zu, wie sie herumwirbelte, sich mit einer Hand sowohl Feudel als auch Eimer schnappte und mit der Schulter die Hintertür aufstieß. Nur langsam dämmerte ihm, dass er gerade einen besonderen Moment verpasst hatte, und er schnitt sich selbst eine Grimasse. In seinen Beinen zuckte es, um ihr nachzulaufen, sie zu fragen, ob sie nicht einfach mitkommen wolle und danach noch am Wasser spazieren gehen, einfach so, da rief Arno Petersen nach ihm, und gleichzeitig hörte er Betjes schnelle Schritte die Treppen hinauffliegen.

Schicksalsergeben seufzte er, und doch zuckte ein Lächeln auf seinem Gesicht auf. Das Messer in seiner Hand wie eine Botschaft, der er noch nicht recht trauen mochte und die ihm trotzdem Hoffnung gab.

Mit einem wohligen Gähnen streckte Christian sich an seinem Schreibtisch im Kontor. In letzter Zeit arbeitete er öfter hier statt zu Hause am Neuen Wall, jetzt war das wieder möglich.

Mit Maries sechstem Lebensjahr waren ihre Schritte ins Leben größer geworden. Sie sprach immer noch wenig, doch wenn, dann einen ganzen Satz, kurz und präzise. Ausgeglichener war sie, schrie nicht mehr so oft und verließ zwischendurch ihr Schneckenhaus, um mit wachem Blick am Familienleben teilzunehmen; jedes Mal ein Glücksmoment für Christian und Henny. Dann und wann brach sie sogar in lautes Lachen aus, wenn auch zu Hennys Leidwesen nicht immer im passendsten Augenblick. Am glücklichsten war sie, wenn sie malte, großformatige Blumenbilder, die mit ihren feinen Schattierungen und den ausgefeilten Details erstaunten. Seitdem achtete Christian darauf, dass sie immer genug Farben und Papier zur Verfügung hatte, und Henny darauf, dass in der Wohnung stets frische Blumen standen.

Auch Jette machte nichts als Freude, elf Jahre alt war sie jetzt. Unterrichtet von einer Hauslehrerin, malte sie ebenfalls begeistert, sang bezaubernd und begleitete sich selbst dazu auf dem Piano. Immer wie aus dem Ei gepellt, war sie schon eine richtige junge Dame, die sehr genau wusste, was sie wollte. Es stimmte Christian nostalgisch, wie eilig es sein kleines großes Mädchen hatte, aus den Kinderschuhen zu schlüpfen.

Dennoch genoss er es, wieder mehr in der Firma zu sein, meist war er sogar der Letzte, der ging. Er mochte die Abendstunden im Lampenschein, wenn alles still war und nur das Wasser gegen den Sockel des Speicherhauses plätscherte. Das waren die Stunden, in denen er sich am besten konzentrieren konnte.

Zufrieden betrachtete er die Entwürfe vor sich, Werbebriefe und Annoncen für das kommende Jahr. Das Eis, das Katya und Grischa in jenem schicksalhaften Winter vor zwei Jahren aus dem Landesinneren mitgebracht hatten, hatte reißenden Absatz gefunden, zu einem guten Preis. Mindestens die doppelte Menge erhofften sie sich für den kommenden Winter, die sie dann teuer verkaufen wollten. Sollte ihnen das gelingen, wäre die Firma auf einen Schlag saniert.

Für heute konnte er es dennoch gut sein lassen, und er griff zu seiner Anzugjacke.

Im dunklen Korridor zeichneten sich blass die Umrisse einer Tür ab, in Thilos Büro brannte Licht. Er hatte niemanden kommen hören, niemand hatte sich bemerkbar gemacht. Anstandshalber klopfte er an und rief den Namen seines Bruders, bevor er eintrat. Überrascht hob er die Brauen.

»Katya. Ich wusste nicht, dass du noch da bist.«

»Ich bin auch erst vor einer Stunde gekommen«, erwiderte sie vom Schreibtisch her, ohne den Kopf von den aufgeschlagenen Büchern und Papieren zu heben. »Und ich wollte dich nicht stören.«

Schuldig fühlte sie sich, ohne dass sie genau wusste, warum. Deshalb war sie leise durch den Vorraum gehuscht und an Christians Tür vorbeigeschlichen; nicht einmal den Hut hatte sie abgenommen, nur die Jacke über den Stuhl gehängt. Dabei tat sie nichts Unrechtes, die Firma gehörte ihr genauso wie Christian.

Christian zögerte. Er wusste selbst nicht recht, wie er zu Katya stand, nach jener gemeinsamen Nacht, die ihm wie die glücklichste seines Lebens vorgekommen war. Bis sie ihn so kalt, so herzlos vor die Tür gesetzt hatte wie einen billigen Liebesdiener.

»Ich wollte mir vielleicht einen Wagen nach Hause nehmen. Möchtest du mitfahren?«

»Der Kehrwieder liegt nicht auf deinem Weg«, entgegnete sie geistesabwesend. »Und ich weiß nicht, wie lange ich hier noch brauche.«

Ihr unterkühlter Tonfall verletzte ihn, schließlich war sie diejenige gewesen, die ihn schäbig behandelt hatte, und nicht umgekehrt. Er trat näher und warf einen Blick auf die Unterlagen, aus denen Katya sich Zahlen notierte. Eine Abschrift der Gesellschaftsverträge war darunter, und die aktuellen Geschäftsbücher.

»Woran arbeitest du?«

»Ich sehe nur etwas nach.«

»Was suchst du denn? Vielleicht kann ich dir helfen.«

Ihr Luftholen klang ungehalten. »Danke, nicht nötig.«

Christian spürte Zorn in sich aufsteigen.

»Die Firma gehört auch mir zu einem Viertel. Da würde ich schon gern wissen, was du so spät am Abend in den Geschäftsbüchern suchst, für die du dich bislang eher weniger interessiert hast.«

Katya schwieg. Noch waren das alles Gedankenspiele, aber mit jeder Zahl, die sie notierte, bekamen sie klarere Konturen, eine greifbare Gestalt. Sie setzte die letzten Ziffern auf das Blatt und legte die Feder zur Seite. Irgendwann musste sie ja doch damit herausrücken.

»Ich wollte wissen, wie hoch mein Wert für die Firma ist. In Mark und Pfennig.«

Christian dachte an das Eis, auf dem sie ihre Firma gegründet hatten, und an das Eis des neuen Winters, das diese Firma wieder groß machen würde. Seit der Eröffnung der Landungsbrücken im vergangenen Jahr, von denen aus man die modernen Dampfschiffe bequemer mit Kohle befüllen konnte als bisher, spielten auch die vier Eisbarone mit dem Gedanken, wenigstens ein paar Frachten im Jahr mit Dampfern zu befördern. Einen neuen Speicher mussten sie spätestens im Frühling parat haben, mindestens doppelt so groß wie dieser hier. Christian hatte auch schon einen im Auge, am Nikolaifleet; eigentlich ging es nur noch darum, ob sie ihn mieten oder den Kauf über ein Darlehen finanzieren würden.

Die Firma war auf einem guten Weg, so gut wie seit Jahren nicht mehr. Aber nur durch Katyas Gespür für das Eis.

Christian beobachtete eingehend, wie sie schwungvoll die Unterlagen zusammenräumte und an ihrem angestammten Platz verstaute. Eine dunkle Ahnung kroch in ihm herauf.

»Die Firma wäre nichts ohne dich«, sagte er leise.

Jedes Mal war es eine Folter, Katya zu sehen. Hier im Kontor. Wenn er ihr im Treppenhaus begegnete, weil sie seinem Vater gerade einen Eintopf und frisches Brot gebracht hatte. Bei einem geselligen Beisammensein im Kreis der Familie, und wenn sie mit Marie ein Spiel spielte, das nur die beiden verstanden, Marie aber jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Und doch wollte er keinen Augenblick davon missen.

Mit ihren Händen, ihren Küssen hatte sie Male unter seiner Haut hinterlassen. Ihr Atem in seinem Ohr, ihr Geschmack in seinem Mund waren nicht auszulöschen, und wie es gewesen war, ganz in ihr aufzugehen.

Seine Seele hatte sie berührt, in jener Nacht, und ihren Fingerabdruck darin hinterlassen.

Einen energischen Zug um den Mund, schloss Katya den Dokumentenschrank ab. Das zahlenbeschriebene Blatt faltete sie zusammen und schob es in ihre Rocktasche, bevor sie ihre Jacke nahm.

»In einer Firma ist niemand unersetzlich, Christian. Gute Nacht.«

Ihre leichten Schritte verklangen im Vorraum und wurden dann von der Eingangstür verschluckt.

Verändert kam sie ihm vor, seit ihrer Rückkehr. Beschwingt und geradezu glücklich, fast jeden Tag schien sie noch mehr aufzublühen. Er hätte schwören können, sie und Thilo vertrugen sich wieder, würde sein Bruder nicht dumpf vor sich hin brüten, glaubte er sich unbeobachtet, und hätte er nicht manchmal morgens rot geäderte Augen wie nach einer zu kurzen Nacht.

Hastig löschte Christian das Licht auf dem Schreibtisch.

Christian wusste, dass ihn sein Gespür nicht getrogen hatte, als Katya weder die paar Schritte zu Thilos Wohnung ging noch den Weg zur Brooksbrücke einschlug. Stattdessen strebte sie in die entgegengesetzte Richtung, stadteinwärts.

Er hatte Mühe, ihr zu folgen, denn obwohl ihr Hut mit den Stoffblumen nicht leicht aus den Augen zu verlieren war, schritt sie kräftig aus, eine dichte Atemwolke vor dem Gesicht; sie schien es wirklich eilig zu haben, aus der vorweihnachtlichen Kälte ins Warme zu kommen. Auf den Turm von Sankt Michaelis hielt sie zu, geradewegs in die Gassen hinein, wo die armen Leute der Stadt hausten. Ein Weg, den Katya offenbar in- und auswendig kannte. Ohne je nach links oder rechts zu blicken, fädelte sie sich durch dieses Labyrinth.

Christian blieb jäh stehen, als Katya ganz selbstverständlich eine der Türen in der Gasse aufzog. Ein Hund schlug dahinter an, in der übermutigen Tonlage, mit der vertraute und geliebte Menschen begrüßt wurden, und Katyas Silhouette verschwand hinter der Tür. Ihr Schatten war es vielleicht, der immer wieder hinter dem engen Fensterchen vorüberhuschte, das Licht war zu blass, um es genau zu erkennen.

Lange harrte Christian in der Gasse aus. Bis seine Füße in den feinen Schuhen wie Eisklumpen waren und er trotz seines warmen Mantels zitterte, nicht nur vor Kälte. Doch Katya tauchte nicht wieder auf.

Irgendwann erlosch auch das Licht im Fenster.

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