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Katya hatte kaum den Fuß auf den Kai gesetzt, als sie ihre Röcke raffte und loslief; sie nahm sich nicht einmal die Zeit, ihr Gepäck nach Hause zu bringen oder sich umzuziehen. Vier Monate lang hatte sie ihre Rückkehr nach Hamburg herbeigesehnt, zuletzt nur noch die Tage gezählt, dann die Stunden, bis das Schiff im Hafen anlegte. Jetzt wollte sie nicht einen der kostbaren Augenblicke mehr verschwenden.

Leichtfüßig rannte sie durch das Gassengewirr der Neustadt, von deren Dächern die Vögel in den Aprilhimmel jubilierten, und Katya jubelte mit.

Sie klopfte gar nicht erst bei Pawel an. Atemlos riss sie einfach die Tür auf, und ihr Herz blieb stehen.

Ein Sturz in den gähnenden Abgrund war es. Der leere Raum kreiste um sie, während ihre Augen nirgendwo Halt fanden, nur nackter Boden und rußige Deckenbalken, bröckelnder Putz und Spinnweben in der Ecke des Fensters.

»Hallo, Frollein!«

Sie fuhr herum. Draußen auf der Gasse reckte ein verhutzelter Mann mit Stock seinen Schildkrötenhals.

»Falls Sie mieten wollten, da sind Sie zu spät. Nächste Woche zieht wieder jemand ein.«

Erleichterung durchflutete sie. Gewiss hatte Pawel nur für sich und Pies etwas anderes gesucht, und bei ihr zu Hause lag eine Nachricht von ihm.

»Der Mann, der hier gewohnt hat … Pawel, der Altwarenhändler. Wissen Sie, wo er ist?«

»Nee.« Der Greis zeigte ein zahnloses Lachen. »Hat alles verkauft, bis auf den letzten Nagel. Nur seinen Seesack hat er mitgenommen und die Töle. Schon über eine Woche her, und nicht mal Adieu hat er gesagt, zu niemandem! Polacken! Wie die Zigeuner, alles ein Pack, nech?«

Sein Lachen ging in einen trockenen Husten über, während er weitertaperte.

Katya drehte es den Magen um, sie musste würgen. Mit zitternden Knien ging sie nach nebenan, suchte zwischen dem rostigen und verrußten Herd und dem Holzskelett der Bettstatt nach einem Brief, einem Zettel, nach irgendetwas.

Sie fand nichts. Außer haltloser, ohnmächtiger, schmerzhafter Leere.

Christian wusste, was für einen groben Fehler er begangen hatte, sobald er über die Schwelle der Werkstatt trat und Katya darin stehen sah. Beim Geräusch seiner Schritte drehte sie sich um, und verwirrt zogen sich ihre Brauen zusammen.

Das Blut stieg ihm ins Gesicht. Warum nur hatte er unbedingt sichergehen müssen, dass Pawel Wort gehalten hatte; jetzt hätte er sich dafür ohrfeigen können.

Katyas Gesicht war bleich. Die Art, wie ihre Augen irrlichterten, verriet, dass ihr Verstand fieberhaft nach Antworten suchte. Und Katya hatte einen scharfen Verstand.

Sie feuchtete ihre Lippen an und brauchte ein paar Versuche, um einen Ton herauszubringen.

»Wo ist Pawel?«

Christian wich ihrem bohrenden Blick aus. »Über alle Berge.«

»Was hast du gemacht?«, rang sie sich heiser ab, einen sauren Geschmack im Mund.

Er vergrub die Hände in die Hosentaschen und starrte zu Boden.

»Christian, was hast du gemacht?«

»Ich wollte wissen, ob er es ernst mit dir meint«, murmelte er.

»Was du gemacht hast, will ich wissen.«

Christian hob den Kopf. »Warum er, Katya? Warum er und nicht ich?«

Entgeistert sah sie ihn an. »Das fragst du noch? Nach allem, was war? Jetzt, wo wir hier stehen?«

Christians Schuldgefühle schlugen über ihm zusammen. Wie ein in die Enge getriebener Hund schnappte er zu.

»Ein polnischer Altwarenhändler! Herrgott, Katya, hast du denn gar keinen Stolz?«

Ihre Augen sprühten grüne Funken. »Genau deshalb, Christian. Deshalb er und nicht du. Weil er so etwas niemals sagen oder auch nur denken würde.«

Offen sah er sie an.

»Aber er hat das Geld genommen, Katya. Ich habe ihn dazu nicht gezwungen. Er hat es genommen.««

Wie unter einem Hieb zuckte Katya zusammen. Sie senkte den Kopf und kämpfte gegen die heißen, die bitteren Tränen an. Bis sie sicher sein konnte, dass ihre Stimme nicht zittern würde.

»Für wie viel hast du mich verkauft?«

»Nicht ich. Er. Er hat dich verkauft, Katya.«

»Wie viel, Christian?«

Ausgewaschen wirkte das Grün ihrer Augen. Wie ein frischer Bluterguss, und es tat ihm in der Seele weh.

»Zehntausend Mark«, flüsterte er.

Das Kinn vorgeschoben, nickte Katya vor sich hin.

»Mach, dass du rauskommst«, sagte sie dann.

Christian wusste es besser, als sich ihr zu widersetzen.

Katya sah ihm nicht nach, mit bleiernen Füßen schleppte sie sich in den Nebenraum. Lange stand sie einfach nur da, blicklos und stumm, und ließ dieses Gefühl der Verlassenheit in sich hineinsickern. Den ätzenden Geruch nach Feigheit und Flucht, den die nackten Wände ausschwitzten. Den Moder von Verrat und Betrug.

Von draußen drangen die Geräusche herein, die ihr in den Wochen mit Pawel so vertraut geworden waren. Das Räderknirschen und Lattengerüttel der Karren, die grüßenden Rufe der Männer und das gesellige Geschnatter der Frauen. Ein kleines Kind rief nach seiner Mama, ein Säugling greinte, ein Hund kläffte, hoch und schrill.

Ein ganz gewöhnlicher Tag in Hamburg war es, während ihre Welt aus den Angeln gehoben war.

Katya rollte sich auf dem Bettgestell zusammen und umklammerte das Holz so fest, dass es schmerzte. Mit trockenen Augen beweinte sie die Liebe, die Christian ihr gestohlen hatte, dieser Schmerz jetzt nur die Spitze des Eisbergs, das wusste sie.

Christian trank nicht gern allein, schon gar nicht in seinen eigenen vier Wänden. An diesem Abend war ihm jedoch danach, nachdem er stundenlang wie blind durch die Stadt geirrt war. Erst nach Einbruch der Dunkelheit hatte er den Weg an den Neuen Wall gefunden. Die Mädchen schliefen schon, Henny hatte sich in ihrem Zimmer gerade für die Nacht zurechtgemacht.

Seitdem saß er hier. Mit einer Flasche, deren Pegel stetig fiel, ohne dass sich Christians Reue verdünnen ließ.

Wäre er nur nicht noch einmal in die Werkstatt des Altwarenhändlers zurückgekehrt. Nicht heute, nicht in jenem Moment, da er Katya noch in Grönland glaubte. Ein unglückliches Zusammentreffen, so unwahrscheinlich, wie dass der Blitz zweimal hintereinander an derselben Stelle einschlug.

In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so geschämt. Sich selbst so gehasst. So gelitten, mit Katya.

Er kippte den nächsten Schluck hinunter.

Auf Zehenspitzen schlich Henny zum Wohnzimmer und lugte um den Türrahmen herum. Ihr Herz sank, als sie Christian auf dem Kanapee sah, in sich zusammengefallen und mit hängendem Kopf.

So bedrückt war er schon seit vielen Monaten. Selbst er müsste doch inzwischen darüber hinweggekommen sein, dass die Ehe zwischen Thilo und Katya zerrüttet war, warum auch immer. Gut, er arbeitete viel, doch so langsam kroch die Furcht in Henny herauf, es könnte eine andere Frau geben. Jene eine Nacht fiel ihr ein, als Christian nur noch kurz zu Vadder Petersen wollte und erst gegen Morgen heimkam. Henny war schon ganz verrückt gewesen vor Sorge. Natürlich hatte sie es verstanden, dass er seinem Bruder beistehen wollte nach dem großen Ehekrach, und es war bei dieser einen Nacht geblieben. Trotzdem bekam sie den Gedanken nicht aus dem Kopf. Wenn schon eine Ehe wie die von Katya und Thilo, die im Himmel geschlossen schien, in die Binsen gehen konnte.

Henny tippte mit dem Fingerknöchel an den Türrahmen.

Christian fuhr auf. »Habe ich dich geweckt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht schlafen.«

Christian nickte müde. Henny zögerte, dann tapste sie über den weichen Teppich und ließ sich neben ihm nieder, der Schwere ihres Körpers, kaum von dem dünnen Stoff des Nachthemds verhüllt, nur allzu bewusst.

»Ist es wegen der Firma?«

Christian rieb sich über das Gesicht, in das sich die ersten feinen Linien gegraben hatten.

»Keine Sorge, da ist alles in Ordnung. Viel Arbeit momentan, aber es lohnt sich. Wird ein gutes Jahr werden.«

Er entglitt ihr, das spürte sie, mit jedem Monat mehr, und es machte ihr Angst. Sie wollte nicht die verlassene Ehefrau sein, die mit zwei Kindern zurückblieb.

»Armer Christian«, flüsterte sie. »Reibst dich ganz für das Geschäft auf.«

Zärtlich streichelte sie ihm über das Haar, glitt mit der Hand hinunter und begann, seinen Nacken zu kneten. Im ersten Augenblick erstarrte er, gab dann aber nach, sogar ein seliges Seufzen entfuhr ihm. Mutiger geworden, hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange und dann noch einen, drehte schließlich sein Gesicht zu sich und küsste ihn auf den Mund.

»Henny«, wehrte er mit einem verlegenen Lachen ab.

Henny gab sich große Mühe, auf ihre Figur zu achten, es half nur nicht viel. Ihre Schenkel waren üppig, Hüften und Bauch gut gepolstert und nach zwei Kindern auch nicht mehr so stramm und federnd wie damals als junges Mädchen, vor allem ihr großer Busen nicht.

»Findest du mich nicht mehr hübsch?«, fragte sie kläglich und genierte sich selbst dafür.

Christian schüttelte den Kopf, mit einer Miene, die besagte, wie lächerlich er den Gedanken fand.

»Du weißt doch, wir dürfen nicht.«

Henny zog die Unterlippe zwischen die Zähne, sie brauchte nicht allzu lange zu überlegen.

»Es kann nichts passieren«, log sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

Auf Christians Gesicht malten sich Zweifel.

»Ich war beim Arzt«, spann Henny hastig diese Lüge weiter. »Es ist alles zu … verwachsen.«

Ihr Gesicht wurde heiß, als ihr einfiel, dass man solche Dinge nicht mit seinem Gatten besprach. Schon gar nicht, wenn man gerade versuchte, ihn zu verlocken und zu bezirzen.

»Ich wollte dich nur nicht damit belasten«, lenkte sie ihre Lüge hastig in eine andere Richtung. »Wo du doch gerade so viel zu tun hast.«

Sie ließ Christian gar nicht erst die Zeit, weiter darüber nachzudenken. Tränen in den Augen, umschloss sie sein Gesicht mit beiden Händen.

»Ich vermiss dich so sehr«, flüsterte sie erstickt.

So viel Zärtlichkeit, so viel Sehnen lag in dieser Geste, ihrer Stimme, dass auch Christians Augen feucht wurden. Henny, die ihm jetzt schon so viele Jahre eine gute Ehefrau war, ein guter Kamerad auf seinem Weg und die Mutter seiner Töchter. Die immer nur das Gute in ihm sah und ihn von Herzen lieb hatte, immer noch.

Sanft streichelte er über die blonden Locken, für die Nacht mit einem blauen Band zusammengebunden. Über ihr Gesicht, das tatsächlich immer noch hübsch war, auf eine propere, heimelige Art. Verlockend rund und weich fühlte sie sich an, wie sie sich an ihn presste. Wie ein Federbett, um sein müdes Haupt darauf ruhen zu lassen. In dem er versinken und einfach alles andere vergessen konnte. Das Trost und Frieden versprach.

»Bist du sicher?«, murmelte er.

»Ganz sicher«, hauchte sie.

Willenlos ließ er sich von ihr küssen. Ein Kuss, der nicht lange zärtlich blieb, ihn mit seinem wilden Hunger überraschte und durstig machte nach mehr, während ihre Hände schon die ersten Hemdknöpfe lösten und über seine bloße Brust wanderten.

»Ach, Henny«, seufzte er.

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