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Die Nacht bot Betje Zuflucht und blieb doch nicht ohne Schrecken. Das leiseste Geräusch störte sie auf und peitschte sie vorwärts, überzeugt, Joost würde sie sich in der Dunkelheit krallen wie eine Eule die Maus. Oft genug strauchelte sie, schlug hin und hetzte dann sofort weiter.

Joost zu entkommen war der einzige Stern, der ihr den Weg wies, ins Blau des anbrechenden Tages hinein.

Die Sonne war noch blass, der Morgen jung, als Betje mit wunden Füßen auf ein Gehöft zutrottete, das sich aus den dunstigen Wiesen erhob. Vor dem Stall schmetterte ein Hahn seinen Weckruf, von sechs pickenden Hennen umschart, während der Bauer mit der Forke in einem Strohhaufen stocherte.

Betje gab sich einen Ruck.

»Moin. Wo geht es hier nach Updorp?«, erkundigte sie sich nach ihrem Heimatdorf.

Der Bauer stierte sie nur an.

»Oder nach Niendorp?«

Dorthin war Matte Geerds ab und zu mit seinem Karren zum Markt gefahren, hatte der Onkel einmal erzählt.

Der Blick des Bauern saugte sich an Betjes lahmen Arm fest.

»Wir geben nix«, knurrte er.

Betje brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, und ihr Gesicht wurde heiß.

»Ich will nicht betteln«, verteidigte sie sich. »Ich will nur wissen …«

»Runter vom Hof«, schnitt der Bauer ihr das Wort ab.

Als Betje sich nicht schnell genug in Bewegung setzte, reckte er drohend seine Forke.

»Mach dich fort!«

Glühend vor Scham suchte Betje das Weite.

Bäuchlings lag Betje im Gras und schöpfte Wasser aus einem Graben. Es dauerte ewig, bis sie auf diese Weise ihren Durst halbwegs stillen konnte, einen Schluck aus der hohlen Hand nach dem anderen.

An elf Höfen war sie den Tag über vorbeigekommen, und nirgendwo hatte man gewusst, in welcher Richtung ihr Kirchspiel lag. Auch der auf seinen Hirtenstock gestützte Schäfer nicht, den sie unterwegs fragte, und nicht der Bauer und die Bäuerin, die mit krummen Rücken einen Kartoffelacker bestellten.

Joost hatte sie in ein fremdes Land geführt. Obwohl die Leute hier die gleiche Mundart sprachen und die Hofstellen und die von Wassergräben durchzogenen Wiesen und Felder genauso aussahen wie zu Hause. Die vereinzelt stehenden Bäume und Sträucher glichen einander so sehr, dass Betje nicht wusste, ob sie auf dem richtigen Weg war, sich im Gegenteil immer weiter von ihrem Heimatdorf entfernte oder seit dem Morgen schlicht im Kreis ging.

Sie setzte sich auf und wischte sich über das triefende Kinn; die Luft, die sie mitgeschluckt hatte, ließ sie aufstoßen. Die Sonne hing bereits tief über dem Marschland und goss ihr sattes Licht über die Wiesen und Felder. Zu Hause gab es jetzt bald Abendbrot, bestimmt Kartoffeln mit Stipp.

Das Wasser gurgelte in ihrem Bauch und zog ein hohles Rumpeln nach sich. Wie zum Protest, weil sie ihren Magen nicht mit etwas Nahrhafterem füllte.

Wie lange kam man wohl ohne Essen aus? Zwei oder drei Tage? Länger?

Sie hatte es jetzt schon nicht mehr ausgehalten und irgendwann auf den Höfen schüchtern nach einem Stück Brot, einem Becher Milch gefragt. Spätestens dann hatte man sie verjagt und ihr Beschimpfungen nachgeworfen.

Lumpenpack. Bettelvolk. Wechselbalg.

Kein anständiges Kind streunte mutterseelenallein umher und bat um etwas zu essen, das hatten die Leute sie deutlich spüren lassen.

Ein Ochsenkarren rollte aus der Ferne heran. Betje sprang auf die Füße und hastete den Wassergraben entlang. Bis sie jedoch über den Holzsteg gerannt und auf der anderen Seite angelangt war, blieben nur noch die verwehenden Staubfähnchen, die das Fuhrwerk auf der Straße hinter sich her zog.

Betje ließ sich ins Gras fallen. Keinen einzigen Schritt konnte sie weiter, die Beine wie welkes Wurzelkraut.

Es dunkelte schon. Mit rauschenden Flügeln stoben Vogelschwärme über das Land und riefen heiser nach ihresgleichen, damit keiner von ihnen verloren ging. Sie wussten, wo ihr Zuhause war. Zu wem sie gehörten.

Betje sah die Gesichter von Onkel und Tante vor sich, im Lampenschein am Tisch. Die Tante mit einer Stopfarbeit, der Onkel mit seiner Tonpfeife, nachdem die älteren der Kinder die Lüttjen zu Bett gebracht hatten.

Vermissten sie Betje, sorgten sie sich um sie? Oder waren sie froh, die unnütze Esserin los zu sein?

Selbst wenn sie nach ihr suchten, würden sie sie niemals finden, fünf Tagesmärsche auf verschlungenen Wegen entfernt. Betje hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie groß die Welt wirklich war. Wie leer.

Mit dem Abend zog ein Wind herauf, der umso schneidender war, als die Feuchte des Bodens in den Stoff von Betjes Rock kroch. Frierend kauerte sie sich zusammen. Ihr war übel vor Hunger und Elend, unbarmherzig bestraft für ihre Dummheit, ihren Ungehorsam.

Sie dachte an die Schelte, die ihr der unbeholfene linke Arm oft eingebracht hatte, und auch so manche Ohrfeige. Daran, wie Sontje, Momke und Hedwich im Spiel die Köpfe zusammensteckten, ihre schmalen Mädchenrücken eine für Betje unüberwindliche Mauer, ihr Flüstern und Lachen eine Sprache, die sie für sich behielten. Wie Bork, der Älteste von Onkel und Tante, ihr oft ein Bein stellte, weil er es lustig fand, wie schnell sie mit ihrem Arm ins Trudeln kam, und wie der kleine Sönke schon anfing, es ihm gleichzutun.

Aber sie hatte zu essen gehabt und einen warmen Platz zum Schlafen; vielleicht hatte alles seinen Preis.

Erdrückend und wie lauernd legte sich die Finsternis aufs Land. Darunter begann es sich zu regen, knisternd und flüsternd, ungreifbar und namenlos. Zum ersten Mal begriff Betje, wie wenig ihr Kinderleben in der Weite der Welt wog. Nicht mehr als das eines Kükens, eines Kätzchens, und vielleicht genauso schnell vorbei.

Sie zog den Kopf tiefer zwischen die Schultern und umschlang ihren Körper beschützend mit dem gesunden Arm. Mit aller Macht sehnte sie den Morgen herbei. Voller Angst, dass er womöglich niemals kommen würde. Nur die Hoffnung, dass die Straße vor ihr ja letztlich irgendwohin führen musste, vielleicht sogar ans Meer, trug sie durch die Nacht.

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