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Betje konnte es nicht leiden, wenn man sie bei einer Tätigkeit zu eingehend beobachtete, das wusste Hanno. Er konnte trotzdem nicht anders, als zu ihr hinzuschielen, während er an dem alten Uhrwerk bastelte, das Pawel ihm mitgegeben hatte, damit er den Mechanismus verstehen lernte.

Mit geröteten Wangen und glänzenden Augen legte Betje ihre Kleidung sorgsam auf dem Strohsack zusammen. Die Blusen, Röcke und Kleider, das Unterzeug, das nach und nach aus dem Haus der Petersens hierher in den Holzverschlag gewandert war und nun zusammen mit Betje dort ein neues Zuhause finden würde. Mit jedem einzelnen Teil wurde Hannos Herz schwerer.

Es ist besser so, sagte er sich immer wieder. Betje war nicht mehr das kleine Mädchen, das mit ihm von Ostfriesland nach Hamburg gewandert war. Das Rundliche, Kindliche war nach und nach aus ihrem Gesicht verschwunden. Noch immer breit, war es jetzt ein klares, ein mutiges Gesicht, die Sommersprossen eher keck als niedlich, das Grübchen im Kinn wie eine Herausforderung. Dafür rundete sich jetzt ihr Körper an manchen Stellen, wie die auf ihre Größe zugeschnittenen neuen Blusen nur zu deutlich zeigten. Und mehr noch die langen Unterhosen und das Trägerhemdchen, in denen sie abends im Lampenschein durch den Verschlag lief, um sich an der Wasserschüssel hinter dem Vorhang zu waschen.

Auch ihr Geruch hatte sich verändert, Hanno dachte dabei immer an einen Birkenwald. Wenn er ihr morgens den Zopf flocht, der inzwischen bis weit auf ihren Rücken hinunterreichte, musste er an sich halten, um nicht das Gesicht in ihren roten Locken zu vergraben.

Wie schwere und moosige Erde und nach Kupfer roch sie neuerdings manchmal, jeden Monat um eine bestimmte Zeit. An jenen Tagen eilte sie mit hochrotem Gesicht überhastet hinter den Vorhang und versuchte, ein ausgewaschenes Kleidungsstück vor ihm zu verstecken, obwohl gar nicht ihr gemeinsamer Waschtag war, und hielt überhaupt mehr Abstand zu ihm als sonst. Am liebsten hätte er sie dann in den Arm genommen und ihr gesagt, dass er das doch von seiner Mutter und seiner Schwester kannte und auch kein bisschen peinlich oder eklig fand.

Getraut hatte er sich nie, bestimmt hätte es das für Betje nur schlimmer gemacht. Sie konnte unglaublich eigensinnig sein, und dafür mochte er sie umso lieber. Wie ihre Augen blaue Funken schlugen, wenn sie wütend war, machte ihm jedes Mal wohlig weiche Knie.

Als sie den Kopf hob, senkte er rasch seinen Blick wieder auf die Zahnräder und Schrauben.

»Kannst du mir eben helfen, einen Knoten in das Bündel zu machen?«

»Sicher.«

Es blieb nicht aus, dass seine Hände ihre Finger streiften, während sie gemeinsam die Tuchzipfel zusammenbanden.

Er hätte gar nicht sagen können, wann es angefangen hatte, dass er auf sie reagierte wie eine Kompassnadel, die den Nordpol wittert. Alles war ohnehin verwirrend geworden, seit er seinerzeit den ersten Flaum auf seiner Oberlippe entdeckt hatte und zwischendurch mehrere Monate lang mit einem Gesicht wie ein Streuselkuchen hatte herumlaufen müssen. Inzwischen schabte er sich jeden Morgen weiche Stoppeln aus dem Gesicht, überraschte ihn sein Körper mit immer neuen Anwandlungen. Mit einer Stimme, die tief in seinen Brustkorb hinuntergerutscht war und an Volumen gewonnen hatte. Zweifellos war er dabei, zu einem Mann zu werden, schlank und stark, bereits jetzt auf Augenhöhe mit Pawel.

Hanno versuchte, sich mit Mädchen abzulenken, die schon weiter waren als Betje. Gerade aufblühende kleine Frauen, die um ihre Reize wussten, rotwangig und kichernd um seine Aufmerksamkeit wetteiferten, wenn er sich mit Fiete auf der Gasse herumtrieb.

Du hast einen echten Schlag bei den Deerns , hatte Fiete bewundernd festgestellt.

Am Ende kehrten Hannos Träumereien immer zu Betje zurück. Dabei wollte er nicht mehr, als sie im Arm zu halten und ihr zu sagen, dass er sie lieb hatte. Alles andere konnte warten.

Er hatte noch nie ein Mädchen wie Betje gekannt, noch nie jemanden auf diese Weise lieb gehabt. Aber sie war eben erst dreizehn, er schon sechzehn. Es war wirklich besser, dass sie künftig woanders wohnte. Bevor sie noch bemerkte, was mit ihm los war, oder er sich im Schlaf verriet und sie ihn dann womöglich nicht mehr leiden mochte.

»Frau Petersen und ich könnten dir noch ein neues Hemd nähen«, sagte sie jetzt.

»Das wäre nett«, erwiderte er mechanisch. Ohne weiter darüber nachzudenken, ohne Gefühl. Seine Gedanken waren woanders.

Er würde es vermissen, ihr morgens die Locken auszukämmen und zu flechten. Wie sie manchmal im Schlaf seufzte, was ihm jedes Mal die Brust zusammenzog und ihn gleichzeitig lächeln ließ. Die Art, wie ihre Stimme, ihre bloße Gegenwart den Holzverschlag mit einem Leuchten füllte. Ohne sie würde es hier dunkler sein und kälter.

Hanno rechnete es den Petersens hoch an, dass sie auch ihm angeboten hatten, zu ihnen zu kommen. Sogar ein eigenes Zimmer hätten sie für ihn gehabt, wie für Betje, und trotzdem wäre sie ihm dort noch zu nahe gewesen, Wand an Wand.

Betje richtete sich über dem geschnürten Bündel auf, suchte sichtlich nach Worten.

Ob sie wusste, wie hübsch sie war? Auf eine ursprüngliche, ungestüme Art. Eine eigenwillige und raue Landschaft für sich, jetzt schon, obwohl gerade erst ein ganz junges Mädchen.

Zacharias sah es offenbar genauso. Viel zu viel Zeit verbrachten die beiden zusammen, für Hannos Geschmack.

Es war nicht nur die Art, wie Zacharias durch die Gasse stolzierte. Als ob jeder in Ehrfurcht erstarren müsste, weil er so gut aussah. Aufgeplustert wie ein Hahn, fand auch Fiete. Am schlimmsten war es, wenn Zacharias seine Kumpels im Schlepptau hatte. Ungehemmte Raufbolde von einer rohen Männlichkeit, die sich einen Spaß daraus machten, sich ein Mädchen von der Gasse zu greifen, um ihm johlend an die Brust zu grapschen oder unter die Röcke.

Zu jung ist keine, höchstens zu eng , hatte Zacharias einmal geprahlt und die ganze Meute damit zum Grölen gebracht.

Vielleicht redeten Burschen untereinander immer so über Mädchen, was wusste Hanno schon davon. Mit Fiete sprach er über andere Sachen. Wie Schiffe sich auf den Meeren zurechtfanden, zum Beispiel, und wie man eine Kirche wie den Michel erbaute. Fiete, der mal hier bei einem Tischler aushalf, mal dort bei einem Polsterer, wusste eine Menge über solcherlei knifflige Dinge. Am meisten beschäftigte sie beide, was sie mit ihrem Leben noch anfangen wollten, später einmal. Und Pawel sprach meistens nur darüber, welches Holz das beste für einen Tisch war oder für einen Dielenboden und wie die Mechanik eines Regenschirms funktionierte. Was Hanno auch deutlich spannender fand.

Nierób , hatte dennoch Pawels abfällig hingeworfenes Urteil über Zacharias gelautet, ein Tagedieb, ein lajdak , ein Schuft. Andererseits hatte Pawel sowieso von den wenigsten Menschen eine gute Meinung.

Hanno hatte keine Ahnung, wie er Betje davon abhalten könnte, Zacharias weiter zu treffen. Höchstwahrscheinlich würde sie ihn für eifersüchtig halten, und das war er ja auch. Die Petersens würden auf jeden Fall besser auf sie aufpassen, als er es konnte, dort wusste er sie gut aufgehoben, weit weg vom Gängeviertel der Neustadt und von Zacharias.

»Vielleicht kommst du mich einmal besuchen«, rang Betje sich schließlich ab.

In ihren Augen flackerte es, ein strahlender Himmel, über den Wolken hinwegzogen.

»Natürlich mache ich das.«

Erwachsen abgeklärt brachte er es heraus, obwohl ihm elend zumute war wie einem kleinen Jungen und sein Lächeln zittrig geriet.

Lieber sah er Betje nur noch ab und zu, anstatt sie ganz zu verlieren, mit diesen verrückten neuen Gefühlen für sie. Er hatte doch schon viel zu viel verloren.

Ein paarmal hatte er an Fred Peters in seinem Heimatdorf geschrieben, um ihn wissen zu lassen, dass der alte Soldatentornister ihm Glück gebracht hatte, und von seinem neuen Leben in Hamburg zu erzählen. Nicht oft, in diesen dreieinhalb Jahren, Briefe verschicken war teuer. Jedes Mal hatte er darin nach Frauke gefragt. Aber niemand hatte von seiner Schwester je wieder etwas gesehen oder gehört. Mittlerweile hatte er sich damit abgefunden, dass sie ihren eigenen Weg gegangen war. Vielleicht war es einfach so, wenn eine Mutter starb. Dass das, was einmal eine Familie gewesen war, auseinanderfiel und sich in alle Winde zerstreute.

»Komm, ich trag das für dich«, sagte Hanno tapfer und griff sich Betjes Bündel.

Immer wieder strich Betjes Rechte über das Nachthemd und die Zudecke, legte sie probeweise den Kopf anders auf dem Kissen zurecht. Eigenartig fühlte es sich an, zum ersten Mal in einem richtigen Bett zu schlafen. Wie Katya damals in Tromsø, als sie nicht viel jünger gewesen war als Betje. Davon hatte sie erzählt, während sie gemeinsam Betjes Sachen in den Schrank geräumt und sich dann an die Zubereitung des Abendessens gemacht hatten.

Ein schönes Zimmer war es, das konnte Betje noch im Dunkeln fühlen und sogar riechen, ganz neu und sauber. Sie selbst roch genauso, nach der feinen Seife, die sie mit in der Badewanne gehabt hatte.

Nur Hanno fehlte. Obwohl sie verstand, dass er sich zu erwachsen fühlte, um noch einmal in einem gemachten Nest Unterschlupf zu finden, war sie enttäuscht, dass er nicht mitgekommen war. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie vertraut ihr seine Atemzüge geworden waren. Seine Bewegungen im Schlaf und die Laute, die er dann von sich gab. Eine Art Glucksen, als ob er etwas Lustiges träumte, und manchmal ein drolliges Schnarchen.

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht und verlosch dann wieder. Angestrengt horchte sie in die Wohnung hinaus, auf die gedämpften Stimmen von Katya und Thilo Petersen. Unruhig zog sich ihr Magen zusammen. Sie musste wissen, ob sie über sie, Betje, redeten, und schob sich aus dem Bett.

Auf Zehenspitzen schlich sie durch den Flur und spähte um den Türrahmen in die gute Stube, in der es jetzt still war. Im Lampenlicht sah Thilo Petersen von dem Buch auf seinen übereinandergeschlagenen Beinen auf, geradewegs zu ihr. Betje wäre am liebsten im Boden versunken.

»Ist alles noch zu neu, um ruhig einzuschlafen, nicht wahr?«, sprach er sie behutsam an, und Betje nickte zaghaft. »Setz dich zu uns. Katya macht gerade einen Tee.«

Statt Tee bekam Betje eine Tasse warme Milch, goldfarben schimmernd und süß durch den Honig und die indischen Gewürze, die Katya Petersen hineingerührt hatte.

Dann griff Katya zu einem Buch und hob sacht ihre Stimme. Wie früher der Pastor, wenn er aus der Bibel vorgelesen hatte, nur las sie etwas viel Schöneres, Spannenderes vor. Betje staunte über die Bilder, die in ihrem Kopf dazu auftauchten.

Der Geschmack der Gewürzmilch, die Wärme in ihrem Bauch und der Duft von Tee, dazu Katyas dunkler, rollender Akzent und die Blicke der beiden Erwachsenen, die sich immer wieder mit Betjes trafen, auf eine sanfte, behagliche Weise. Noch ganz frische Erinnerungen stiegen in ihr auf, an gemeinsame Mahlzeiten, an eine Bootsfahrt auf der Alster und wie sie einmal mit einem gemieteten Wagen aufs Land hinausgefahren waren, um Erdbeeren und Kirschen zu pflücken und daraus Kuchen zu backen und Marmelade zu kochen. Das Nachthemd auf ihrer Haut und das Sofapolster unter ihr und das weiche Licht der Lampen verbanden sich zu einem Gefühl, das Betje vollkommen neu war.

So mussten sich die Möwen fühlen, wenn sie sich im Sturzflug darauf verließen, dass die Luft sie halten würde, der Wind sie trug.

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