6
Mit jeder Meile, die Betje und Hanno zurücklegten, milderte sich die eintönige Strenge der Landschaft. Rapsfelder leuchteten weithin wie frisch aus der Sonne geschnittene Bahnen, sogar noch im Regen. Wie die Blättchen eines Keimlings entrollten sich sanfte Auen, verzweigten sich kleine Flussläufe, an denen Rehe ästen und Karnickel davonhoppelten.
Die Wälder, durch die ihr Weg sie führte, waren nicht dunkel und unheimlich, wie Betje geglaubt hatte, sondern hellgrün und licht, durchflutet von Vogelstimmen und dem Wispern der Blätter. Unter ihren Füßen sammelten sich Sonnenpfützen auf dem schattigen Boden, und Eichkätzchen äugten neugierig um Baumstämme herum.
Die Rufe von Bussard und Milan über dem offenen Land waren wie eine Verheißung dessen, was vor ihnen lag, für Hanno in Hamburg, für Betje auf der anderen Seite der Welt. Im Takt ihrer Schritte fragten sie sich gegenseitig, wie es wohl war, mit einem Schiff über das Meer zu reisen, das keiner von beiden je gesehen hatte. Gemeinsam überlegten sie, ob es in Amerika kälter oder wärmer war, auch grün und windig oder trocken und staubig. Ob die Kühe und Schafe dort genauso aussehen mochten, darin waren sie sich uneins, und lange stritten sie darüber, ob die Hühner auf der anderen Seite des Ozeans weiße oder braune oder sogar gesprenkelte Eier legten.
Wenn es regnete, hielt Hanno seine Jacke über sie beide ausgebreitet, bis sie einen Baum zum Unterstellen fanden, und während sie darauf warteten, dass die Wolken sich erschöpften, ergrünte die Welt vor ihren Augen noch satter.
Einmal, als sie unter einem solchen Baum standen, flackerte es für den Bruchteil eines Augenblicks am nassen und finsteren Himmel. Betje zählte ihre Herzschläge.
»Vierzehn. Fünfzehn. Sechzehn«, murmelte sie in das einsetzende Grummeln hinein. »Noch ein gutes Stück weg.«
Hanno horchte dem verhallenden Rumpeln nach. Sicher gab es nicht viele Mädchen, die draußen bei einem aufziehenden Gewitter derart ruhig blieben, ohne aufzuquieken oder auch nur zusammenzuzucken. Die die Zeitspanne zwischen Blitz und Donner abzählten, um nüchtern die Entfernung zu schätzen.
»Solange es nicht näher kommt, können wir getrost hier stehen bleiben«, bekräftigte er.
Blitz und Donner rückten jedoch nicht zu ihnen auf, sondern schlichen sich wieder davon, und im Schutz des Laubdachs bestaunten Hanno und Betje den Regenbogen, der sich von einem Ende des Horizonts zum anderen spannte.
»Immer, wenn ich einen Regenbogen sehe«, sagte Hanno, »muss ich daran denken, dass es ihn ohne Wolken und Regen gar nicht gäbe.«
»Alles hat seinen Preis«, erwiderte Betje, einen beißenden Geschmack auf der Zunge.
Hanno sah zu ihr, erstaunt über diese unkindliche Bitterkeit. Ohne dass er es benennen oder gar greifen konnte, glaubte er, in diesem Moment etwas Wesentliches über Betje begriffen zu haben.
»Ich würde eher sagen, alles hat sein Gutes«, widersprach er heiter.
Jetzt war es Betje, die ihn überrascht musterte, auf diese Weise hatte sie es noch nie betrachtet. Ein Gedanke, der sie beschäftigt hielt und neue Gedanken nach sich zog, auf ihrem weiteren Weg über die regenfeuchte und nur langsam trocknende Landstraße.
Im Gegensatz zu ihr war für Hanno die Milchkanne offenbar immer halb voll. Seinen Wissensschatz über Hamburg teilte er genauso mit ihr wie das Brot und den Speck, den Käse und die Äpfel aus seinem Tornister. Pfiff der Wind allzu kräftig, lieh er ihr seine Jacke und begnügte sich damit, sich ein zweites Hemd aus festerem Stoff überzuziehen. Nichts davon fühlte sich wie ein Almosen an, noch nicht einmal wie ein großzügiges Geschenk, das nach einer Gegenleistung verlangte. Als wäre alles, was Hanno besaß, ganz selbstverständlich auch Betjes Eigentum.
Sein treuherziges Selbstbewusstsein öffnete ihnen fast immer die Tür, wenn er bei einem Bauern nach einer Mahlzeit und einem Nachtlager fragte, und jedes Mal fand Hanno Gelegenheit, sich auf dem Hof nützlich zu machen. Aus der Freundlichkeit, mit der Hanno durch die Welt ging, schöpfte Betje den Mut, sich ihrerseits ungefragt neben der Altbäuerin ins Beet zu knien und mit ihr Unkraut zu jäten. Im Topf zu rühren, damit der Eintopf nicht anbrannte, während die Jungbäuerin ihrem greinenden Neugeborenen die Brust gab, oder Mehl nachzuschütten, wenn die Hofherrin mit beiden Händen den klebrigen Brotteig knetete.
Hanno litt mit ihr unter den Blicken der Bauersleute. Wie sich die Anstrengung auf ihrem Gesicht abzeichnete, nur ja nichts falsch zu machen. Ungerecht kam es ihm vor, dass Betje mit einem lahmen Arm in eine Welt hineingeboren worden war, in der es schon schwer genug war, mit beider Hände Arbeit sein karges Brot zu verdienen. Eine Art von Ungerechtigkeit, die sich niemals würde heilen lassen, vielleicht noch nicht einmal ein wenig ausgleichen ließe.
Dabei war Betje ein famoses Mädchen, ging es Hanno oft durch den Kopf. Tapfer hielt sie mit ihm Schritt, egal, wie weit sie auch den Tag über marschierten. Nie jammerte sie, zierte sich oder gab sich weinerlich, wie er es von den Mädchen zu Hause kannte. Die Kratzbürstigkeit, mit der sie ihm manchmal über den Mund fuhr, und die Sturheit, mit der sie gelegentlich schwieg, schienen mehr einem harten Leben als einer Laune geschuldet zu sein. Nur wenn sie ihn mit geröteten Wangen aufforderte, ja nicht zu kieken, bevor sie hinter einem Busch verschwand, war sie so sehr ein Mädchen wie alle anderen auch, dass Hanno in sich hineingrinste.
Es hätte ihm nichts ausgemacht, allein nach Hamburg zu wandern. Aber mit Betje zusammen war es schöner. Seine Gedanken nicht stumm wiederzukäuen, sondern im Zwiegespräch weiterzuspinnen, Betjes Augen dabei aufglimmend wie die Irrlichter zu Hause im nächtlichen Moor.
Wann immer sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete, gerieten ihre Sommersprossen in Bewegung wie aufstiebende Funken; Hanno hätte einiges dafür gegeben, sie einmal herzhaft lachen zu sehen. Fortwährend zermarterte er sich den Kopf nach etwas Lustigem, das er tun oder erzählen könnte, während das pfeifende Surren von Schwanenschwingen über sie beide hinwegzog oder auf der Wiese Störche mit ihren Schnäbeln klapperten.
Als dann tatsächlich ein Lachen aus Betje hervorbrach, geschah es ohne Hannos Zutun. Die blühenden Obstbäume waren es, ganze Felder davon, die eine solche Freude auf Betjes Gesicht entzündeten, dass es auch in Hanno glücklich aufzuckte.
Unter den Blütenwolken, von Bienen und Hummeln durchschwärmt, glaubte Betje sich dem Paradies, von dem der Pastor in seiner Sonntagspredigt oft gesprochen hatte, so nahe, wie es auf dieser Erde nur ging. Nach Hamburg konnte es jetzt nicht mehr weit sein, und mit neuem Schwung trugen ihre Beine sie vorwärts.
Die Stadt überstieg alles, was sie sich in den sieben Tagen, die sie mit Hanno durch Wälder und Wiesen gewandert war, ausgemalt hatte. Betje bekam den Mund nicht mehr zu.
Dicht an dicht standen die Häuser, höher als der Kirchturm zu Hause, durchzogen von Kanälen, breit und tief genug, dass Boote darauf fahren konnten. Wie ein Flusslauf nach tagelangem Pladderregen quollen die Straßen über vor Geschäftigkeit. In ihrem ganzen Leben hatte Betje noch nie so viele Menschen gesehen, mehr, als sie zählen konnte. Ein rastloser Wind brachte ständig neue Gerüche mit sich, je nachdem, aus welcher Richtung er kam, und in den Segeln der Schiffe hing eine solche Ahnung von Fremde und Meer, dass sich Betjes Brust sehnsüchtig weitete.
Eine ganz neue Welt tat sich hier vor ihr auf, auf dem Wasser schwimmend und sich nach den Wolken reckend. Eine weitläufige Landschaft aus Stein und Holz, in der die Leute auf ihre eigene Art pflügten und säten und ernteten.
Auch Hanno stand das Staunen ins Gesicht geschrieben. Die Straßen schienen mit unendlichen Möglichkeiten gepflastert, jedes Haus auf den Eckpfeilern von Fortschritt und Wohlstand zu ruhen. Immer wieder versicherte er sich mit glänzenden Augen, ob Betje die Stadt genauso überwältigend, genauso aufregend empfand wie er selbst.
Einen Brief seiner Schwester wie einen Glücksbringer in der Hand, fragte er sich durch die unbekannten Straßen, die ungewohnte Mundart. Cremon hieß ihr Ziel. Ein fremdartiger Name, der auf Betjes Zunge nach Butter, Zucker und Sahne schmeckte. Wie die Rullekes, die es zu Hause an Neujahr gab.
Cremon war dort, wo es feucht roch, malzig und ein bisschen rauchig wie geröstetes und gequollenes Getreide. Der schieferdunkle Kirchturm über den Dächern, so hoch, dass er das Gewicht des Himmels zu stützen schien, ließ seinen Stundenschlag in die krumme Gasse hinuntertropfen.
An einem der schlanken, beim Nachbarn untergehakten Häuser machte Hanno halt, zog die Kappe vom Kopf und klopfte an.
Die Tür öffnete sich auf eine robuste Person, Haube und Schürze schwanenweiß und so stramm gestärkt, dass sie von allein hätten stehen können. Mit dem Kopf ruckte die Frau auffordernd in Hannos Richtung.
»Moin. Ich möchte bitte zu Frauke. Ich bin ihr Bruder.«
Die wasserblauen Augen spießten Hanno auf.
»Gibt niemanden hier, der so heißt.«
Die Tür klappte zu. Hanno ließ sich davon nicht entmutigen und klopfte gleich noch einmal an.
Seine Hartnäckigkeit war der Frau an der Tür sichtlich lästig. »Hörst du schlecht?«
»Das ist doch das Haus von Kaufmann Reck, oder nicht?«
Betje konnte einen Blick auf die hinter der Tür gestapelten Säcke erhaschen. Ein Durcheinander von betriebsamen Stimmen fing sich an der Decke des hohen Raums, und ein gut gekleideter Herr eilte die Treppe mit dem kostbar geschnitzten Geländer herab.
»Gibt hier trotzdem keine Frauke!«
Mit Nachdruck fiel die Tür ins Schloss.
Verwirrt betrachtete Hanno den Brief in seiner Hand, während er sich ein paar Schritte vom Haus entfernte. Betje folgte seinem Blick die Mauer hinauf, mit Schnörkeln und Tierfiguren aus Stein verziert, hin zu den mit duftigen Spitzen verhängten Fenstern. Hier war zweifellos das Geld zu Hause.
Ein zaghaftes Wispern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zur Tür. Ein Mädchen, nicht viel älter als Hanno, streckte den Kopf heraus, rundwangig unter der viel zu großen und nicht ganz so weißen Haube.
»Bist du Hanno?«
Nach einem vorsichtigen Blick über die Schulter schob es mit der Schuhspitze einen Holzkeil in den Türspalt und schlüpfte auf die Gasse hinaus.
»Frauke ist nicht mehr da«, flüsterte das Mädchen hastig, in einer Mundart, die Hannos und Betjes nicht unähnlich war. »Schon seit ein paar Wochen. Bei ihr war was Kleines unterwegs, und die Gnädige hat’s spitzgekriegt.«
»Wo ist sie hin?«, wollte Hanno wissen.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
»Hat keinem was gesagt. Kam wohl auch nicht mehr dazu, hat bei Nacht und Nebel packen müssen.«
Seine Hände strichen unruhig über die fleckige Schürze. Immer wieder schielte es ängstlich zur Tür, schien beständig mit einem Ohr ins Haus zu lauschen.
»Versuch’s mal in der Neustadt. In den Gängen beim Großen Michel. Sankt Michaelis. Ich glaube, sie hatte ihren Liebsten dort.«
»Weißt du zufällig, wie er heißt?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Hab ihn auch nie gesehen. Ich weiß nur, dass sie da manchmal hin ist, wenn sie den halben Tag freihatte.«
Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegte es sich wieder zur Tür. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Wenn du sie findest, sag ihr einen Gruß von Wienke. Ist nicht mehr dasselbe hier ohne sie.«
Lautlos schloss sich die Tür hinter dem Mädchen.
Betreten sah Betje zu Hanno, für den es jedoch im Augenblick nichts Wichtigeres zu geben schien als den Reiher, der mit geruhsamem Flügelschlag über die Dächer flog, ein Silberstreif am wolkengemaserten Himmel. In einer entschlossenen Bewegung setzte er die Kappe wieder auf und wandte sich Betje zu, die Nase keck gekraust.
»Komm, wir sehen uns mehr von Hamburg an.«
Die Neustadt von Hamburg war alt und verwahrlost, eng und verwinkelt. Erdrückend für Betje, die in der Weite des Marschlands großgeworden war. Die schiefen Häuschen schienen immer noch weiter zusammenrücken zu wollen, um aneinander Halt zu finden. Gramgebeugt wirkten sie, unter der strengen Wachsamkeit des Kirchturms von Sankt Michaelis, das Gold seines Ziffernblatts ein Sonnenstrahl, der sich niemals hier herunter verirren würde, unerreichbar fern blieb.
Sogar am hellen Tag war es dämmrig. Alles an Licht, an Farbe war zu einem hässlichen Grau ausgelaugt, die Mauern und Balken, die Kleidung und die Gesichter der Leute. Die Schritte und Bewegungen und Stimmen beschwert von Mühsal und Trostlosigkeit, abgebeizt von den Schwaden menschlicher Ausdünstungen und Ausscheidungen, von Moder und Kohlgeruch und dem Qualm der Feuerstellen.
Auch Betje spürte Müdigkeit in ihre Knochen sickern, nach so vielen Meilen am Ziel angelangt und doch weiter von Gasse zu Gasse ziehend, während Hanno unermüdlich nach seiner Schwester fragte.
Irgendwann ließ er sich an Ort und Stelle niedersinken, nahm die Kappe ab und fuhr sich durch die Haare. Für den Augenblick war seine immerwährende Zuversicht in sich zusammengesackt wie ein Haufen Mehl, über dem man ein Ei aufschlug.
Betje setzte sich neben ihn.
»Wie lange hast du deine Schwester nicht mehr gesehen?«
»Zwei Jahre.«
Dass Frauke einmal ein kleines Mädchen gewesen sein sollte, hatte er sich nie vorstellen können, zu erwachsen war sie ihm immer schon vorgekommen. Als wäre er gleich von zwei Müttern großgezogen worden, leichtherzig und flirrend die Ältere, vernünftig und manchmal überstreng die Jüngere. Erst als Frauke nicht nur vom Hof wegwollte, sondern gleich ganz aus dem Moormerland, hatten sich die Rollen von Mutter und Tochter umgekehrt.
»Unsere Mutter hat sie lange nicht gehen lassen. Aber als Aneke aus dem Dorf ihr Bündel für Hamburg schnürte, durfte dann auch Frauke mit.«
Trotzdem hatte sich seine Mutter Sorgen gemacht, ob ein Mädchen vom Land sich in der großen Stadt zurechtfinden und dort nicht unter die Räder kommen würde, bis zuletzt.
»Ich hab ihr zwar geschrieben, wie schlecht es um unsere Mutter steht. Aber als ich dann nichts hörte … Ich dachte eben, mein Brief ist noch unterwegs. Oder ihre Antwort darauf. Dass sie sich vielleicht erst sammeln muss. Ich hab auch gar nicht damit gerechnet, dass sie zum Begräbnis kommt, länger als ein oder zwei Tage hätte ihr die Herrschaft bestimmt nicht freigegeben. Ich wusste ja nicht …«
Hilflos wirkte er, das erste Mal, seit Betje ihm begegnet war.
Ihr Blick wanderte durch die Gasse. In diesem finsteren Irrgarten aus Häuschen und versteckten Winkeln, der an manchen Ecken geradezu an eine Güllegrube erinnerte, schien es gut möglich, dass ein Mensch einfach verloren ging.
»Vielleicht hat sie inzwischen geschrieben, und der Brief liegt jetzt bei dir zu Hause.«
Hanno nickte, einen angestrengten Ausdruck auf dem Gesicht. Irgendwo hinter ihm brüllte ein Säugling aus vollem Hals, schaukelte sich das Kreischen zweier Kleinkinder aneinander auf.
Ein seltsamer Gedanke, dass seine Schwester jetzt genauso dastehen sollte wie ihre Mutter früher, mit dickem Bauch, aber ohne Mann. Doch womöglich irrte er, und Frauke war mittlerweile verheiratet, hier in der Stadt oder draußen auf dem Land, in einem kleinen Häuschen mit Gemüsebeeten vor der Tür. Seine Miene hellte sich auf.
»Stell dir vor, ich werde Onkel. Bin es vielleicht schon.«
Ein kleines Lächeln wanderte zwischen ihnen hin und her.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Betje.
»Warten.«
»Worauf?«
Er zuckte mit den Schultern und fischte im Tornister herum, der in den vergangenen Tagen stark abgemagert war.
»Auf eine Eingebung. Oder auf sonst etwas.«
»Und wenn aber nichts geschieht?«
»Irgendwas tut sich immer. Wirst sehen.«
Zweifelnd nahm Betje den Apfel, den Hanno ihr hinhielt, bevor er selbst die Zähne in einen schlug, die letzten beiden Äpfel, die ihnen geblieben waren.
»Ich habe außerdem ein bisschen Geld«, erklärte er zwischen zwei Bissen. »Das reicht auf jeden Fall für Brot und Wurst. Vielleicht sogar, um uns irgendwo für die Nacht unterzubringen. Und morgen ist sowieso immer ein besserer Tag.«
Ein mutwilliges Grinsen lauerte in seinem Mundwinkel; Betje hätte nicht sagen können, ob sie ihn für leichtsinnig halten sollte oder schlicht für einen geborenen Glückspilz.
»Wie viel Geld hast du denn?«, erkundigte sie sich zögerlich.
Hanno fasste in die Hosentasche und hielt Betje die Münzen auf der flachen Hand hin.
»Achteinviertel Stüver«, stellte sie mit einem kurzen Blick fest, und sogleich sprudelte es nur so aus ihr heraus: »Zu Hause gibt es dafür zwei Pfund Käse oder fünf Pfund Brot. Ein halbes Pfund Butter und Speck. Oder einen ganzen Sack Erbsen und einen Sack Bohnen.«
Sie verstummte jäh, als sich Hannos Brauen hoben, vielleicht anerkennend, vielleicht belustigt. Seine Augen ruhten auf ihr, forschend und fast andächtig, bis Betje unwillig den Kopf abwandte.
Schweigend verzehrten sie ihre Äpfel, wischten sich die klebrigen Hände an den Kleidern ab. Umspült von dröhnenden Männerstimmen und weiblichem Gekeife, vom Klappern und Scheppern und Hämmern alltäglicher Handgriffe.
Ein großer Hund, schwarzbraun und zottig, stromerte die Gasse entlang, die Schnauze auf den Boden gerichtet, als wollte er eine Furche durch den Unrat ziehen. Auf Hannos Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, schnalzend und fingerschnipsend lockte er das Tier an. Der Hund warf einen Blick zurück, als wollte er um Erlaubnis bitten, bevor er auf Hanno zutrabte. Lachend kraulte Hanno ihm das dicke Fell und murmelte liebevoll auf ihn ein. Wie er es auf den Höfen unterwegs mit den Kühen und Schafen getan hatte, den Hütehunden und den Katzen; sogar für die Hühner und Gänse hatte er freundlich klingende Laute übrig gehabt.
»Wie heißt er?«, rief Hanno über die Gasse.
Der Mann, der zu dem Hund gehörte, war breitschultrig unter der staubigen und von Spinnweben verklebten Jacke, geradezu bullig. Helle Bartstoppeln glommen im kräftigen Gesicht, speckig von Schweiß und Schmutz. Jung wirkte er, obwohl das, was die Mütze von seinen Haaren sehen ließ, ebenso von schmutzigem Blond sein konnte wie vorschnell ergraut. In seinen Augen schien nicht das kleinste Fünkchen Wärme auf, frostig blau waren sie. Fast glaubte Betje, den Raureif eines Wintermorgens in der Marsch knistern zu hören, und unwillkürlich duckte sie sich.
»Er heißt Pies«, rumpelte es aus dem Brustkasten des Mannes herauf.
Die Ohren des Hundes zuckten. Er streifte seinen Herrn mit einem fragenden Blick und stieß dann Hanno auffordernd mit der feuchten Schnauze an.
»Pi-es«, wiederholte Hanno mit derselben Betonung. Die Finger im Pelz vergraben, sah er dem Hund tief in die Augen. »Du hast ja einen lustigen Namen.«
»Hund auf Polnisch.«
Hart und flach kamen die Worte aus dem Mund des Mannes wie Kieselsteine, die über seine Zunge rollten.
»Warum einfach nur Hund ?«
Der Mann verzog keine Miene.
»Weil er mir nicht sagen konnte, wie er wirklich heißt, als er mir zugelaufen ist.«
Hanno lachte.
Pawel musterte die beiden Kinder, die vor ihm auf der Gasse saßen. Nicht so, wie die Kinder dieses Viertels üblicherweise herumlungerten, wenn sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten, oder zu müde, zu hungrig für alles andere waren. Kinder, die nie ein anderes Leben gekannt hatten und wohl auch kein anderes mehr kennenlernen würden, manche von ihren Eltern im Stich gelassen, verwaist oder davongelaufen. Schwemmholz wie sie alle hier, von unerbittlichen Strömungen angespült. Der Beifang in den Netzen des Schicksals.
Diese beiden schienen voll ungetrübter Hoffnung zu sein und auf Besseres zu warten. Ahnungslos, dass so etwas nicht kommen würde. Nicht hier.
»Sind Sie schon einmal meiner Schwester begegnet?«, fragte der Junge ins Blaue hinein. »Frauke Reintjes? Sie ist fast neunzehn. Groß für ein Mädchen, sehr blond und sehr hübsch.«
Pawel schüttelte den Kopf. Er verschwendete keine Zeit damit, auf Mädchen zu achten, hübsch oder nicht. Ihre Namen waren ihm gleichgültig und genauso, woher sie kamen und wohin sie mit schwingenden Röcken gingen.
Früher einmal, ja, da war das anders gewesen. Bis er sich ein Mal zu oft verbrannt hatte, seitdem war er sich selbst genug, taub für den Sirenengesang ihrer Stimmen.
Der Junge senkte den Blick wieder auf Pies und ging ganz darin auf, die weichen Schlappohren zu kneten.
Aufgeweckt schienen sie beide, der Junge ebenso wie das rothaarige Mädchen, wenn auch von einer fast schon rührenden Naivität.
Pawel dachte daran, was aus ihnen werden würde, blieben sie hier hängen. Zwischen all den anderen Kindern, die darum rangelten, wer der Stärkere war und sich die meisten Rechte erkämpfte. Die sich gegenseitig mit Zähnen und Klauen eine warme Jacke abjagten, ein Paar Schuhe, sogar ein Stück Brot.
Vor allem das Mädchen würde es schwer haben mit seinem verkrüppelten Arm.
»Habt ihr einen Platz zum Schlafen?«
Der Junge hob den Kopf. »Wissen Sie einen?«
Pawel zögerte. Den wenigsten hier gelang ein anständiges Leben, wenn auch nur ärmlich und auf das Allernötigste beschränkt. Rundum war die Not groß, ein gähnender Schlund, in dessen Finsternis jedes Bröckchen, das man hineinwarf, ungesehen verschwand.
Es gab nicht viel, was Pawel tun konnte, er kam selbst gerade so über die Runden. Alte oder kaputte Spielsachen, die er bei seinen Streifzügen auflas, konnte er flicken und dann an die Kinder verteilen. Ihnen die Dose Zuckerzeug mitbringen, die er nach dem Tod einer alten Dame beim Ausräumen der Wohnung fand, und den Wäschekorb mit abgelegten Kinderkleidern, stockfleckig und von Motten angenagt. Nicht mehr als ein paar Regentropfen in einem Dürresommer. Aber vielleicht genug, um so etwas wie Hoffnung aufkeimen zu lassen, wenigstens für ein paar Stunden, einen Tag lang.
Seit dem Morgengrauen war Pawel von Haus zu Haus gezogen, um nach Altem, Unbrauchbarem, Unnützem zu fragen, hatte sich durch Unrat und Ungeziefer gewühlt, durch Staub und Mäusekot. Jetzt wollte er nur noch etwas essen und seine Ruhe. Trotzdem widerstrebte es ihm, die beiden hier auf der Gasse ihrem Schicksal zu überlassen, zudem sah es nach Regen aus.
Er deutete auf den vollgepackten Leiterwagen hinter sich.
»Wenn du mir damit zur Hand gehst«, sagte er zu dem Jungen, »könnt ihr heute Nacht bei mir unterkommen.«
Betje blieb nichts anderes übrig, als hinter dem von Pawel und Hanno gezogenen Leiterwagen her zu trotten. Kreuz und quer durch Gassen und Hinterhöfe, die enger zu werden schienen und finsterer. Fiel sie zu sehr zurück, blieb Pies stehen und wandte mit aufforderndem Hecheln den Kopf wie ein Hütehund nach einem saumseligen Lamm.
In Pawels Werkstatt stapelten sich packenweise Lumpen, ausgeweidete Uhren, zersplitterte und wurmstichige Möbel. Aufgehäufte Metallteile glänzten im schwachen Licht, in ausgepolsterten Kisten schimmerten Glas und Porzellan. Das Nest einer wenig wählerischen Elster.
»Was kaputt ist oder die Leute nicht mehr wollen«, beantwortete Pawel mit seiner tiefen Stimme Hannos neugierige Fragen. »Ich richte her, was ich kann. Sonst zerlege ich es und mache etwas Neues daraus oder verkaufe, was an Brauchbarem übrig bleibt. Brennholz geht in der Stadt immer gut.«
»Warum hast du kein Schloss an der Tür?«, wollte Hanno wissen, während er weitere Stoffbündel aus dem Leiterwagen lud, einen dreibeinigen Stuhl, verbeulte Kupfertöpfe.
Jetzt schon ging er mit Pawel um wie mit einem vertrauten Freund.
Pawel zuckte mit den Schultern. »Wer unbedingt will, der kommt auch rein. Ob mit oder ohne Schloss.«
Hanno wog eine rostvernarbte Eisenkette in den Händen, die ihm nützlich erschien, wenn er auch gerade nicht wusste, wofür.
»Wird dir nicht viel geklaut?«
»Die Zahnräder einer Uhr kann man nicht essen. Du musst sie erst verkaufen. An jemanden, der etwas mit dem Metall anzufangen weiß, und das ist den meisten schon zu viel Mühe. Wer trotzdem findig genug dafür ist, hat sich den Lohn redlich verdient.«
Sicher flößten auch Pawels unübersehbare Körperkraft und die eisigen Augen genug Respekt ein, dass niemand so leicht auf die Idee kam, sich in dieser Schatzhöhle zu bedienen oder mutwillig die Werkstatt zu verwüsten. Gerüche aus Dutzenden von Häusern, Hunderten von Leben sammelten sich in dieser vollgestellten Rumpelkammer, für Betje eine eigentümliche Mischung zwischen behaglich und unangenehm. Als würde sie ungefragt ihre Nase in anderer Leute Glück und Unglück stecken. In all die kleinen und großen Momente, die sie sonst für sich behielten, im Schutz ihrer vier Wände.
Betje machte einen Schritt zur Seite, um Pawel mit einem Stapel alter Hüte in den Händen vorbeizulassen. Ihr Fuß stieß gegen einen Korb, und die blank gebürsteten Knochen darin schlugen klappernd aneinander.
Pawel fing ihren erschrockenen Blick auf. »Daraus kann man Messergriffe schnitzen. Spielzeug, kleine Schmuckstücke oder Knöpfe. Und aus dem Mark lässt sich Seife kochen.«
Für Pawel schien nichts jemals völlig nutzlos zu sein. Nichts zu schäbig, zu schmutzig oder zu verrottet, um nicht doch noch irgendeinen Wert zu haben, sich am Ende vielleicht sogar in etwas Schönes zu verwandeln.
Die Stube hinter der Werkstatt war winzig, mit nur einem schmalen Bett darin. Betje fragte sich bang, wie sie zu dritt hier schlafen sollten. Was dieser fremde Mann dafür verlangen würde, dass er sie beherbergte, und die Erinnerung an Joost füllte ihren Mund mit einem sauren Geschmack.
Halt suchend umklammerte sie ihren Arm und drückte sich in eine Ecke, während Pawel Jacke und Mütze ablegte und sich an einer Schüssel Gesicht und Hände wusch. Hanno raufte lachend mit Pies, bevor er auf Pawels knappe Anweisungen hin Feuer machte, einen Hocker aus der Werkstatt an den Tisch holte und Zwiebeln schnitt.
Wie um abzuschätzen, wozu sie von Nutzen sein konnte, wandte Pawel sich von der Pfanne ab, in der es verlockend zischte und brutzelte, und musterte Betje mit seinen kalten Augen.
»Geschirr steht dort drüben«, sagte er schließlich und widmete sich wieder der Mahlzeit auf dem Herd.
Sorgsam mit den Tellern zu hantieren, lenkte Betje für den Augenblick ab. Genau wie das Tischgebet, das Pawel mit geschlossenen Augen in seine gefalteten Hände murmelte, in einer fremden Sprache, die wie ein Bach durch ein steiniges Bett sprudelte. Dann füllte er zuerst eine Schüssel für Pies, bevor er reihum auf die Teller schöpfte.
Betje versank geradezu in den gebratenen Kartoffeln mit Speck und Zwiebeln, herrlich fettig und salzig, während Hanno umso hartnäckiger Pawel mit Fragen nach dem Leben in Hamburg bestürmte, je einsilbiger dieser antwortete.
Erst danach kehrte das angstvolle Dröhnen in Betjes Kopf zurück. Im Dunkel der Nacht, auf dem Strohsack neben Hanno, in der Ecke zwischen Tisch und Tür.
Für ein oder zwei Nächte konnten sie bleiben, nicht länger, das hatte Pawel unmissverständlich klargestellt, als er ihnen das Bettzeug brachte. Betje wusste nicht, ob sie es so lange hier aushalten würde, ein geduldeter Eindringling in der Klause eines Einsiedlers. Womöglich als leichte Beute eines Ungeheuers.
Draußen pladderte und gurgelte der Regen und spülte die unvertrauten Geräusche einer großen Stadt heran. Betje sträubte sich dagegen, sich von der wohligen Wärme der Decke einlullen zu lassen. Von der satten Schwere in ihrem Bauch und dem gemütlichen Schnaufen des Hundes, der sich unter dem Tisch zusammengerollt hatte. Angestrengt lauschte sie in die Finsternis, ob Pawel wirklich tief und fest schlief oder nur so tat.
Sie fuhr zusammen, als Hanno nach ihr tastete.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, flüsterte er. »Ich lass nicht zu, dass dir was geschieht.«
Betje nahm ihren ganzen Mut zusammen. Wie der taumelnde und unsichere Sprung über einen Wassergraben fühlte es sich an, als sich ihre Hand in Hannos stahl.
»Niemals?«, wisperte sie, beschämt über ihre gierige Bedürftigkeit.
Einen entsetzlichen Augenblick lang fürchtete sie, er würde sie abschütteln wie eine lästige Fliege, angeekelt von ihr abrücken oder nach ihr schlagen. Dann schloss sich Hannos heiße Jungenhand fest um ihre klammen Mädchenfinger.
»Niemals, Betje.«