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Die Türglocke bimmelte über Betjes Kopf. Katya Petersen hatte gesagt, sie könne ruhig den Hintereingang des Gemischtwarenladens nehmen wie sie auch, aber das wäre Betje eigenartig vorgekommen. So sehr zu Hause fühlte sie sich am Kehrwieder dann doch noch nicht. Auch nicht nach gut einem halben Jahr, in dem sie immer wieder einige Stunden oder ganze Tage hier verbracht hatte.

Kees, dürr und lang wie einer der Kräne im Binnenhafen, sah von dem Korb auf, den er gerade für eine altersgebeugte Frau füllte. Ein Grinsen zuckte über sein Gesicht, das aussah wie flugs mit einem stumpfen Messer aus einem Stück Holz herausgehauen.

»Achtung, Chef! Die Konkurrenz ist zum Auskundschaften da!«

Er riss gern solche Witze, die durch seinen drolligen niederländischen Zungenschlag noch lustiger klangen.

Die Leute, die vor Betje darauf warteten, bedient zu werden, drehten sich nach ihr um und lachten. Betje spürte, wie sie errötete, aber auch, dass es ein freundliches, ein wohlwollendes Lachen war; sie schaffte sogar selbst ein kleines Lächeln.

»Moin, Betje«, rief Arno Petersen hinter der Waage. »Hab gleich Zeit für dich!«

Über den Winter hatte Betje nach und nach die ganze Familie kennengelernt. Grischa Voronin, der immer einen frischen Wind in die Stube der Petersens brachte und sie seltsam verlegen machte. Vielleicht weil er sie an Zacharias erinnerte, mit seinen dunklen Farben und der Lebenslust, die ihm aus den Augen sprühte.

Henny Petersen, die in ihren Rüschenkleidern einem Zuckerbrötchen glich, redete furchtbar viel, dauernd eigentlich, war aber trotzdem sehr nett. Mit Christian Petersen hingegen tat Betje sich schwer. Nicht dass er unfreundlich gewesen wäre, im Gegenteil, er wirkte nur nie wirklich anwesend, wenn er mit am Tisch saß. Ein sehr trauriger Mann schien er zu sein, bei ihm musste Betje an die Hähne in den Käfigen auf dem Markplatz denken. Erst wenn er sich seinen Töchtern zuwandte, wurde sein hartes Gesicht weich, kam Leben in seine blauen Augen.

Was Betje gut verstand. Die Fröhlichkeit, mit der Jette herumsprang und vor sich hin sang und alle Menschen als ihre Freunde betrachtete, schloss ganz selbstverständlich auch Betje mit ein. Obwohl ihre selbstbewussten und manchmal herrischen Bestrebungen, sie in das Spiel ihrer Puppen mit einzubeziehen, Betje ratlos zurückließen; sie hatte nie eine Puppe gehabt, nie mit anderen Mädchen gespielt. Mit Marie konnte sie wesentlich mehr anfangen. Deren abweisende Stille kam ihr kein bisschen befremdlich vor, und nie wurde ihr langweilig dabei, sich mit Marie die mitgebrachten Holzklötze gegenseitig zuzuschieben und mal nach Größe, mal nach Farbe aufzuschichten. Wie zählen, ging es Betje dabei manchmal durch den Kopf.

Aber niemanden hatte sie fester ins Herz geschlossen als Arno Petersen.

Den vollgepackten Korb in den Händen, um ihn der betagten Kundin nach Hause zu tragen, ging Kees an ihr vorüber. Über der Nase, knollig wie eine Runkelrübe, glitten seine Augen über Kreuz, während er mit den Segelohren wackelte. Gerade weil es so albern war, entfuhr Betje ein kurzes Lachen.

Es machte ihr nichts aus, hier zu stehen und zu warten. Betje mochte es, bei den Gesprächen der Leute die Ohren zu spitzen und zuzusehen, wie sie Dinge kauften, die sie erst hier am Kehrwieder kennengelernt hatte: Tomaten, Zitronen, Pfeffer. Sie war gern hier, und es roch auch immer so gut.

Nach und nach leerte sich der Laden, bis nur noch Betje darin stand.

»Und, was kriegst du, Betje?«, fragte Arno Petersen, während er die Toonbank abwischte.

»Weißen Zwirn, bitte. Und roten und blauen. Und ein Pfund Zucker.«

Wenn Betje hier am Kehrwieder war, half sie Katya Petersen beim Nähen, Backen und Kochen.

Dreieinhalb Hände sind immer noch besser als zwei , hatte Katya Petersen leichthin gesagt.

Inzwischen musste Betje ihr da sogar recht geben. Obwohl ihr eine gewisse Scheu geblieben war, sich in Katyas Augen dabei dumm anzustellen, aber sie lernte eine Menge dazu.

Mit einem gutmütig brummenden Laut kam Arno Petersen hinter der Toonbank hervor und blieb dann abrupt stehen.

»Magst du Bonbons mit hinaufnehmen?«

Betje nickte eifrig. Das gefüllte Bonbonglas des Krämers war früher zu Hause ein unbezahlbarer Schatz gewesen, den sie nur sehnsüchtig aus der Ferne anhimmeln konnte; umso versessener war sie heute darauf.

Ohne den Stock, den zu benutzen ihn seine Söhne regelmäßig ermahnten, humpelte Arno Petersen zum Regal und rückte die Leiter zurecht. Was mit seinem Bein war, hatte ihr niemand gesagt, und Betje hatte sich nicht getraut zu fragen. Trotzdem konnte sie nicht anders, als verstohlen hinzuschielen, vielleicht erging es anderen Leuten bei ihrem Anblick genauso.

»Die Kugel eines französischen Soldaten«, sagte Arno Petersen, während er wackelig eine Sprosse nach der anderen erklomm. »Lange her. Aber seitdem kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich aus hartem Holz geschnitzt bin. Zumindest das eine Bein.«

Das Augenzwinkern, das er zu Betje herunterschickte, milderte ihre verlegene Röte, ließ sie sogar ein wenig lächeln.

»Nimm mir das mal ab.«

Erschrocken starrte sie auf das offensichtlich schwere Glas, das er ihr in einer seiner Pranken entgegenstreckte. Ein zu schweres, zu großes Glas für ihre gesunde Mädchenhand.

»Kann ich nicht«, wehrte sie, ohne nachzudenken, ab.

Arno Petersens Geste verriet seine Ungeduld.

»Dann lass dir was einfallen, wie du’s trotzdem hinkriegst.«

Hastig sah sich Betje um und schob kurzerhand mit dem Fuß eine Kiste unter das Regal, stieg hinauf und umschlang das Glas mit ihrem rechten Arm. Die kostbare Ladung fest an sich gepresst, holte sie erst dann wieder Luft, als sie die Bonbons sicher auf der Toonbank abgestellt hatte.

»Das hier auch«, forderte Arno Petersen sie sogleich erneut auf, und das nicht zum letzten Mal.

»Und wenn mir eins davon ausgerutscht wäre?«, fragte Betje fast vorwurfsvoll, als Arno Petersen wieder hinter der Toonbank stand und ein Glas nach dem anderen öffnete.

»Dann hätten wir eben aufgekehrt.« Seine grau melierten Brauen zuckten. »Kommt hier ab und zu vor. Kees kann das nämlich auch mit zwei gesunden Händen, Scherben machen.«

Ein kleines Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen, bevor Arno Petersen wieder ernst dreinblickte.

»Keiner kommt heil aus diesem Leben heraus, Betje. Den einen erwischt es früher, den anderen später. Ist nicht schön, wenn einen das so einschränkt wie uns zwei. Aber da muss man sich durchbeißen. Machen, was man selber machen kann. Irgendwie geht das immer. Erst wenn es gar nicht allein geht, bittet man eben um Hilfe, das ist dann aber auch keine Schande.«

Er deutete auf die Waage.

»Willst du selber abwiegen? Haben meine Jungs damals immer gern gemacht. Ein halbes Pfund spendier ich dir.«

Hilflos blickte Betje auf die in einem Holzklotz eingelassenen Gewichte. Die Zeichen darauf schienen mit den Prägungen der Geldstücke verwandt, aber nicht ähnlich genug, dass sie sicher sein konnte.

»Du kennst doch die Zahlen?«

Unter seinem forschenden Blick ließ Betje den Kopf hängen.

»Woher weißt du denn dann, was dir die Leute für das Obst und Gemüse in die Hand drücken? Was du rausgeben musst?«

Betjes Schulter ruckte, als wollte sie etwas von sich abschütteln.

»Ich hab mir einfach gemerkt, wie die einzelnen Münzen aussehen«, erklärte sie schließlich widerstrebend. »Immer wenn Hanno abends am Tisch seinen Lohn gezählt hat. So hab ich das früher schon gemacht, mit den Stüvern zu Hause.«

Ihre Stimme war immer leiser geworden, bis schließlich nur eine peinlich berührte Stille übrig blieb.

»Ach, Mädchen«, murmelte Arno Petersen.

In Betjes Augen prickelte es. Vor Scham, dass ihr bestgehütetes Geheimnis nun doch ans Licht gekommen war, und weil es sich so gut anfühlte, wie Arno Petersens große Hand ihr über den Kopf strich.

»Du willst es doch zu etwas bringen. Da musst du lesen und schreiben können. Pass mal auf.«

Mit einem Bleistift begann er, die Zahlen auf Papier zu malen, und Betje konnte nur noch staunen. Als ob sich vor ihren Augen dichter Nebel lichtete und sie die Welt zum ersten Mal klar und scharf sah.

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