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Manche Wahrheiten waren zu wuchtig, um auf einen Bogen Papier zu passen. Zu sperrig, um sich mit Tinte und Feder einfangen zu lassen. Das hatte Katya schon gewusst, bevor sie hierhergekommen war.

Einige Wahrheiten verlangten nach dem Schutz der Nacht, der trauten Zweisamkeit am Feuer. Andere wiederum brauchten mehr Zeit. Wie ein Gletscher, der sich langsam zurückzieht und dabei freigibt, was in seinem Eis eingeschlossen war. Bis es so weit war, fügte Katya sich nahtlos in den Alltag zwischen Wäschezuber und Putzeimer ein.

Zwei zupackende Hände mehr im Haus kamen gerade recht. Mittlerweile strömten die Händler schon früher im Jahr nach Tromsø, um sich die Ausbeute des Walfangs zu sichern. Neu gebaute Lagerhäuser beschäftigten zugezogene Arbeiter, die dankbar waren, wenn sie sich mit einer kräftigen Mahlzeit stärken konnten. An manchen Tagen glich das Gästehaus einem Taubenschlag.

Eine Schürze umgebunden und in Strohpantinen, scherzte Katya mit Jorunn über die Unordnung in den Zimmern und schwatzte mit Line beim Abwasch, immer bereit, gleich an Ort und Stelle die zerrissene Jacke eines Gastes zu flicken oder einen verloren gegangenen Hemdknopf zu ersetzen. Keinen Augenblick vermisste sie das Kontor in Hamburg, das noch nach frischer Farbe roch.

Das Beste an ihrem Geschäft mit dem Eis waren ohnehin die frostigen Wochen am Voroninvatnet, ihrem See im Süden Norwegens. Sie liebte es, in der klirrenden Kälte mit den Männern das Eis des Sees zu ernten und ein Auge darauf zu haben, dass es unbeschadet im Bauch des Frachters nach Hamburg gelangte. Gutes Eis war es in diesem Jahr wieder gewesen, glasklar, hart und stark. Sorgfältig in Torf und Sägemehl eingepackt, würde es seine Weiterfahrt nach London und sogar nach Indien ohne allzu große Verluste überstehen. Der Preis dafür war längst ausgehandelt, die Verkäufe besiegelt und die Verschiffung geplant. Für Katya gab es daran nichts mehr zu tun.

Leichten Herzens hatte sie in diesem Jahr darauf verzichtet, ihr Eis bis ans Ende der Welt zu begleiten. Auf die Monate auf dem Ozean, die sie jedes Mal aufs Neue ersehnte, kaum dass sie nach Hamburg zurückgekehrt war. Die zwei bis drei Wochen auf indischem Boden, wo für sie alles nach den fremden Speisen roch und schmeckte, die sie zu Hause nie genauso hinbekam, weil in der Ferne alle Zutaten von einer anderen Sonne getränkt waren, von einem anderen Boden, anderer Luft gewürzt. Während Madras unter der Tropenhitze simmerte und schwitzte, warteten jenseits der Stadt neue Landstriche darauf, von Katya entdeckt zu werden. In Werkstätten, die nach Safran und Kurkuma, Henna und Indigo rochen, nach Sesamöl und Granatapfelschalen, ließen sich Stoffe finden, die nicht nur im gleißenden Licht Indiens ihre Wirkung entfalteten, sondern auch unter dem gedämpften Himmel Europas. Ebenso Felle, Federn und Leder, die in Hamburg für gutes Geld ihre Abnehmer fanden. Geschäfte, die Katya in einer bruchstückhaften Mischung aus Tamil und Englisch abschloss, nicht selten bei einem Becher Gewürztee, bei einem kleinen Imbiss auf dem nackten Boden vor dem Dungfeuer.

Dieses Jahr würde Grischa allein durch die Basare streifen, in der Hand die Listen und Stoffmuster, auf die sie alle vier sich anhand der Zahlen aus dem Vorjahr verständigt hatten. Und dieses eine Mal wollte Katya auch gar nicht an seiner Seite sein.

In diesem Jahr gab es für sie nichts Wichtigeres, als beim Wäschewaschen und Bettenmachen Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Teig zu kneten und das frische Brot aus dem Ofen zu holen nährte ihre Seele mehr als die schwindelerregenden Summen, mit denen sie in Hamburg jonglierten. Mit Silja eine Bluse aus der feinen Baumwolle zu schneidern, die sie neben den Säckchen Pfeffer, Zimt und Nelken aus Indien mitgebracht hatte, das gab ihr das innere Gleichgewicht zurück; nachdem genug Stoff übrig war, würde es noch ein Sonntagshemd für Magnus geben.

Der geruhsame Trott, dem das Leben in Tromsø bei aller Geschäftigkeit folgte, ließ Katya aufatmen, nach zwei Jahren fieberhafter Unrast, dem Wind und dem Wetter einen Schritt voraus zu bleiben. In Hamburg waren sie immer in Eile, die neue Ware so schnell wie möglich an den Mann zu bringen, weil jeder Tag der Lagerung bares Geld verschlang. Und sobald Umsatz gemacht war, floss dieser sofort wieder in Löhne und Heuer, in Charter und Mieten und Steuern. In die nächsten Fahrten zum Voroninvatnet, nach London und nach Madras. Auch Investitionen wie neues Gerät und das Mobiliar für das Kontor, über das sie leidenschaftlich gestritten hatten, waren notwendig. Und nicht zuletzt sparten sie auf ein eigenes Schiff.

Das Geschäft glich einem reißenden Fluss voller Unterströmungen und Strudel, der ab und zu im Boden versickerte, um an anderer Stelle unerwartet wieder an die Oberfläche zu drängen. Trotz allem blieb genug Geld übrig, um ihnen ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

Während der Schnee auf den Bergen rund um Tromsø schmolz, kam Katya allmählich zur Ruhe. In der schroffen Beständigkeit von Land und Fels, das Wasser des Sunds ein tiefer Spiegel, der dem Himmel Unendlichkeit verlieh. Die Pfade, die sie damals mit Johann Silberberg gegangen war, als er ihr Namen für die verschiedenen Formen des Eises schenkte, ihrem Gespür einen wissenschaftlichen Rahmen zimmerte, waren ihr noch immer vertraut. Jetzt bahnte sie sich auch neue Pfade über die frühlingsjungen Wiesen und durch den Birkenwald.

Nur die Antworten, die sie suchte, hatte sie noch immer nicht gefunden.

Es gab andere Fragen, andere Antworten.

»Hast du in Russland auch am Meer gelebt?«, fragte Magnus in den Wind, der schon die Wärme des Sommers in sich trug. Noch ganz im Bann seiner Fahrt in Olaf Thorssons Fischerkahn vor ein paar Tagen, schien der Sund für seine hellen Jungenaugen mit einem Mal zu eng, zu begrenzt.

»An einem See«, erwiderte Katya, die sich auf einem Stein niedergelassen hatte. »So groß und weit, dass man nicht bis ans andere Ende sah, wenn man am Ufer stand. Die Leute sagten sogar, er sei so groß wie ein Meer. Trotzdem ist er jeden Winter zugefroren. Einmal habe ich mich nachts hinausgeschlichen, um das Eis singen zu hören.«

»Eis, das singt?« Magnus’ Miene verriet seine Skepsis.

Katya nickte. »Der schönste Klang der Welt.«

Ein Lächeln glitt über Magnus’ Gesicht, bevor er weiter gedankenvoll mit einem Ast in der feuchten Erde stocherte.

Er hörte gern davon, wie es gewesen war, mit dem Vater und den Brüdern auf dem kleinen Gehöft. Was sie alles gehabt und nicht gehabt hatten, auf dem Land des Grundherrn. Dort, wo sich die Ränder des Zarenreichs in den finnischen Wäldern verloren, sich seit Menschengedenken Völker, Sitten und Sprachen durchmengt hatten. Eine Mischung, die Katya ins Gesicht geschrieben stand und noch immer ihre Stimme dunkel färbte, ob im Deutschen, Dänischen oder Englischen.

»Bist du dort gern zur Schule gegangen?«, wollte Magnus wissen.

»Bei uns gab es keine Schule.«

»Keine Schule?«

Magnus sperrte Mund und Augen auf, halb entsetzt, halb neidvoll. Er lernte gierig und schnell, doch still zu sitzen verlangte ihm Willenskraft ab. Am liebsten war er draußen, sprang mit anderen Jungen über die Wiesen wie eine Schar junger Ziegen, blieb für sich allein oder zeigte Katya seine Lieblingsplätze und erzählte ihr von den Fundstücken, die er dort gemacht hatte.

»Lesen und schreiben habe ich erst hier gelernt, bei deiner Mutter. Da war ich schon fast doppelt so alt wie du.«

Magnus’ Gesicht zog sich grüblerisch zusammen, als müsste er diesen Einblick in ein Kinderleben, so grundlegend anders als sein eigenes, erst einmal verdauen.

Ein seltsamer Gedanke, dass sie nicht viel älter gewesen war, als sie sich in jener Frühlingsnacht an Grischas Fersen geheftet hatte. Ein Halbwüchsiger und ein Kind, die zu Fuß durch das weite Land gewandert waren, mit kaum mehr als dem, was sie am Leib trugen.

Es hatte nicht viel Mut erfordert, dem Gehöft des Vaters den Rücken zu kehren und ins Unbekannte aufzubrechen. Eine Notwendigkeit war es gewesen, um nicht ohne Grischa zurückzubleiben. Ihr Schutzwall. Ihr Leitstern, der ihr immer ein paar Schritte voraus war.

Wenn sie Magnus davon erzählte, wie sie damals auf ihrer Wanderung einer Bärenmutter mit ihren beiden Jungen begegnet waren, im Schilf, und wie ein gutherziger Mann sie bei strömendem Regen in seinem Karren mitgenommen hatte in sein Gasthaus in Sankt Petersburg, kam es ihr manchmal selbst wie ein Märchen vor. Aber vielleicht war die Kindheit immer ein Märchen, mal idyllisch, mal grausam und voller Gefahren. Bis einen die nüchterne Wirklichkeit des Erwachsenenlebens einholte.

Je länger Magnus schwieg und Rinnen in die Erde grub, umso deutlicher war ihm anzusehen, dass er etwas auf dem Herzen hatte.

»Mein Papa«, kam es schließlich zögerlich von ihm. »Ist der ein netter Mann?«

So mäßig interessiert er den Brocken geschluckt hatte, dass Katya die Schwester seines russischen Vaters war, den er noch nie gesehen und nach dem er kaum je gefragt hatte, so sehr schien es jetzt in ihm zu gären.

»Grischa«, begann Katya behutsam, »ist groß und stark. Das war er immer schon, schon als Junge. Und genauso groß und stark ist sein Herz. Es ist leicht, mit ihm gut Freund zu sein. Wen er in dieses große Herz geschlossen hat, den wird er immer beschützen, um jeden Preis. Großzügig ist er, mit allem. So sehr, dass er sogar das aufgeben würde, was ihm das Liebste auf der ganzen Welt ist, wenn davon das Glück eines anderen abhängt.«

Katya hörte selbst, dass ihre Stimme dabei dünn klang, wie durchgescheuert.

Sie hegte keinen Groll gegen Grischa. Er hatte sich allein von seinen Gefühlen, seiner Leidenschaft leiten lassen, in jener Nacht in Madras. In den Nächten, die es danach vielleicht noch an Bord gegeben hatte. Da hatte Katya schon nicht mehr darauf geachtet, war sie längst ihrer eigenen versponnenen Träumerei zum Opfer gefallen, einer nostalgischen Schwäche.

Wenn ein Menschenherz begehrte, wurde es blind und taub für richtig oder falsch. Für das, was es mit seinem Begehren anrichtete.

Katya beobachtete die geblähten Segel eines Schiffs, das durch den Sund kreuzte. Nahezu unmöglich kam es ihr vor, Grischas Wesen in Worten einzufangen. Ihr dickköpfiger, unbezähmbarer Bruder, für den das Gefühl absoluter Freiheit die Luft zum Atmen war und für den selbst ein ganzer Ozean zu klein schien.

»Grischa ist wie die Vögel dort draußen, weißt du.«

Magnus folgte ihrem Blick zu einem der Sturmtaucher. In akrobatischem Seitwärtsflug schnitt seine wie von Ruß gefärbte Schwinge durch das Wasser, bevor er wieder in die Höhe schoss, kraftvoll und unbeirrbar wie ein gefiederter Pfeil.

Voller Staunen hatte Katya sich von Magnus erzählen lassen, was er alles über diese Vögel wusste. Wie sie sich unerschrocken in die Fluten stürzten, um sich aus der Tiefe den besten Fisch zu holen. Selten schlossen sie sich mit ihresgleichen zusammen, und wenn, dann nur auf Zeit. Jeder zog allein für sich seine Bahnen über die ganze weite Welt, nirgendwo wirklich zu Hause.

Ein Leuchten glitt über Magnus’ Gesicht, als er verstand und schließlich nickte, auf eine Art weise, wie es nur Kinder waren.

»So hat Mama es mir auch erzählt. Dass er dort draußen irgendwo ist, auf den Meeren. Und dass er eines Tages kommt und mich besucht.«

Eine Entschlossenheit, die an Grischa erinnerte, zeichnete sich um seinen Mund ab, doch das spitzbübische Glimmen in seinen Augen war ganz und gar Magnus.

»Aber sobald ich groß genug bin, fahre ich selber zu ihm hinaus aufs Meer. Mama weiß das nur noch nicht.«

Was immer ihm noch so alles durch den Kopf gehen mochte, behielt er für sich, während er sich hinhockte und mit andächtiger Miene Steinchen aus dem Boden pulte, sie an seinen Hosenbeinen säuberte und sorgfältig untersuchte. Aus der Tasche ihres Rocks holte Katya den Brief, den sie seit zwei Tagen bei sich trug. Nicht, um ihn noch einmal zu lesen; sie hielt ihn nur gern in der Hand.

»Katya!«, rief Magnus nach einer Weile aufgeregt. »Schau doch!«

Katya betrachtete den behauenen Steinsplitter, den Magnus ihr hinhielt, und lauschte seinen hervorsprudelnden Ausführungen über Pfeile und Speerspitzen. Über Wikinger und Hirtenstämme, die der Überlieferung nach schon vor Tausenden von Jahren die Insel bevölkert hatten.

Beide blickten auf, als Silja das Ufer entlang auf sie zukam, das Schultertuch fest um sich geschlungen. Der Himmel hatte sich zum Abend hin zugezogen und brachte einen böigen Wind mit sich; Katya und Magnus hatten alles um sich herum vergessen.

Freudestrahlend lief Magnus zu seiner Mutter, die seinen Fund gebührend bewunderte und ihm über den Kopf strich, bevor der Junge auf der Suche nach weiteren Schätzen davonstob.

»Jetzt wird er wohl nicht eher Ruhe geben, bis er die ganze Insel umgegraben hat.« Silja seufzte, als sie zu Katya trat.

Das Gesicht angespannt, beobachtete sie einige Zeit die Seevögel und die Wolken. Wie um zu sehen, woher der Wind wehte.

»Wirst du es Grischa sagen?«, fragte sie schließlich.

»Es ist nicht an mir, ihm das zu erzählen.«

Silja nickte.

Eine Weile schwiegen sie in der Stille über dem Sund. Schließlich deutete Silja auf den Brief, den Katya geistesabwesend zwischen den Fingern drehte.

»Aus Hamburg?«

»Von Thilo. Die Anfragen für unser Eis haben sich fast verdoppelt. Er schlägt vor, im kommenden Winter einen weiteren See mit gutem Eis ausfindig zu machen.«

Keine unwichtige Nachricht, aber auch keine, die nicht bis zu ihrer Rückkehr hätte warten können.

»Er schreibt auch, dass er mich vermisst.«

Sie hatten vereinbart, nichts voneinander hören zu lassen, bis Katya sich entschieden hätte. Dass Thilo sich darüber hinweggesetzt hatte, weckte gemischte Gefühle in ihr.

»Und du, vermisst du ihn auch?«, fragte Silja leise.

Hünenhaft groß und von jenem hellen Blond, das fast weiß war, schien Thilo einer nordischen Sage entsprungen. Wie ein Sohn des ewigen Winters wirkte er, mit seinen eisgrauen Augen, Wimpern und Brauen wie Raureif. Genauso kühl und klar arbeitete sein Verstand, mit dem er die Firma auf ein solides Fundament aus Kalkulationen und Bilanzen und Verträgen gestellt hatte, aus Frachtpapieren und Zollerklärungen. Dahinter verbargen sich jedoch ein gutes Herz und eine empfindsame Seele.

»Sehr.«

Katya vermisste den täglichen gemeinsamen Fußmarsch über die Brooksbrücke zum Lagerhaus und wieder zurück. Die Spazierrunden, die sie oft auf dem Grasbrook drehten, am Ende eines langen Tages im Kontor oder sonntags. Die unerschütterliche Ruhe Thilos, die sich wie eine warme Decke um sie legte. So anders als die lebhafte Energie Christians, die auf ihrer Haut kribbelte und die Welt bunter machte, ihr aber durch die Finger geronnen war wie Wasser.

Sie vermisste es, Thilo beim Essen gegenüberzusitzen und die Abende mit ihm in der Stube zu verbringen, bei Tee oder der Flasche guten Weins, die sie sich ab und zu gönnten. Eine behagliche und geradezu intime Zweisamkeit, in der sie sich gegenseitig Abbitte geleistet hatten. Zu ergründen versuchten, was in sie gefahren war, in jener Nacht in Madras. Zu erforschen, was sie wirklich fühlten, was sie sich erhofften, was am meisten ersehnten.

Ein Heim, das mehr war als nur ein Zuhause, darauf kamen sie am Ende immer zu sprechen. Erfüllt von Kinderlachen und den klebrigen Abdrücken kleiner Hände sollte es sein. Das war der Traum, den sie teilten und sich gegenseitig ausmalten. Die glückliche Familie, die Katya nie gehabt hatte. Die Thilo so früh durch Napoleons Soldaten genommen worden war.

Katyas Blick blieb an Magnus hängen, der selbstvergessen in der Erde wühlte, Steinchen und Wurzelstücke heraussortierte und immer wieder behutsam einen Käfer oder einen Wurm in Sicherheit brachte.

Sie hatte Christians und Hennys Tochter Jette aufwachsen sehen, aus einem Wonneproppen zu einem flatternden kleinen Schmetterling geschlüpft. Katya war ein gern gesehener Gast bei den Kaffeekränzchen in der Puppenstube und bekam jedes Mal eine herzabdrückende Umarmung und einen schmatzenden Kleinmädchenkuss, wenn sie wieder aus einem Rest indischen Stoffs ein Kleid für Jette und ein Zwillingsstück für die Lieblingspuppe gezaubert hatte.

Doch erst seit dem vergangenen Jahr wusste Katya, wie es wirklich war, für ein Kind zu sorgen. Es zu füttern und zu baden und die Nacht hindurch ein brüllendes Bündel umherzutragen, ein paar Stunden friedlichen Schlafs, ein kleines Lächeln und zufriedenes Gurgeln und Strampeln der schönste Lohn. Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, damit dieses winzige Leben in der Welt blieb und gedieh, hatte sie irgendwann vergessen lassen, dass es nicht ihr eigenes Kind war.

Als sie die kleine Marie wieder in die Arme ihrer leiblichen Mutter zurücklegen musste, hatte es sich angefühlt, als würde sie sich selbst ein Stück Fleisch herausreißen. Eine Wunde, an die sie Magnus, dieser junge Ableger ihrer eigenen Wurzeln, jeden Tag auf schmerzlich schöne Weise erinnerte.

»Ich wünsche mir so sehr ein Kind. Am liebsten gleich ein ganzes Haus voll.«

»Du bist noch jung. Dafür ist reichlich Zeit.«

Katyas Blick schweifte über das Wasser, das mal regungslos auszuharren schien, dann wieder umso eiliger vorüberfloss.

»Es ist ein seltsames Ding, diese Zeit. Als Kind in Russland empfand ich jeden Winter als eine Ewigkeit, sogar die kurzen Sommer. Die fünf Jahre in Hamburg, in denen wir versuchten, unseren Handel auf die Beine zu stellen, aber einfach nicht vom Fleck kamen, schienen genauso endlos. Gleichzeitig schnurrte jedoch die Zeit, die uns noch blieb, um das Darlehen zurückzuzahlen, umso schneller zusammen. Die letzten zwei Jahre schließlich, als der Erfolg geradezu über Nacht kam, sind nur so vorübergeflogen.«

Vielleicht lag es an Hamburg selbst, dass die Zeit dort schneller verging. In dieser Stadt, die so viel größer schien, als sie tatsächlich war. Der Takt, in dem man Waren verlud, war ihr Herzschlag, das Wechselspiel von Ebbe und Flut in den Fleeten ihr Atem.

»Ich habe so lange immer nur gewartet, weißt du. Darauf, dass ich meine Träume benennen und greifen kann. Dass irgendetwas geschieht.«

In Russland war es Grischa gewesen, der nach einem anderen, einem besseren Leben gehungert und Pläne geschmiedet hatte. Erst hier in Tromsø hatte Katya gelernt, selbst zu träumen. Und wie in einem der Märchen, die ihr Großvater früher erzählt hatte, schien jeder ihrer Wünsche, der in Erfüllung ging, weitere Wünsche nach sich zu ziehen.

»Du brauchst zwar einen Mann für ein Kind«, sagte Silja, »aber nicht unbedingt einen Ehemann. Schau mich an.«

Das Lächeln, das zwischen ihnen hin und her ging, hatte etwas Verschwörerisches.

Zwei Jahre zuvor hatte Katya noch genauso gedacht, in ihren norwegischen Nächten mit Johann Silberberg. Wo immer dieser jetzt sein mochte, sein letzter Brief aus Sibirien lag Monate zurück.

Damals hätte es niemanden am Kehrwieder groß gekümmert, hätte die Russin, die mit ihrem Bruder bei den Petersens oben zur Miete wohnte, ein uneheliches Kind gehabt. Solche Dinge kamen vor unter den einfachen Leuten auf dem Grasbrook.

Heute war das anders. Heute war sie keine kleine Näherin mehr, die abends im Wirtshaus an der Kibbeltwiete Gläser spülte und Tische abwischte. In den Kontoren Londons und bei den Sahibs von Madras war ein makelloser Ruf bare Münze wert, das witterte sie mit sicherem Instinkt, wenn sie als einzige Frau unter Männern am Besprechungstisch saß.

»Ist es falsch, alles haben zu wollen?«

Mit einem Seufzen ließ Silja sich neben ihr auf dem Stein nieder.

»Nicht, wenn du damit leben kannst, dass du am Ende vielleicht doch nicht alles bekommst.«

Es hatte einige Herren gegeben, denen das Fräulein Voronina gefiel, das so selbstverständlich bei den Verhandlungen im Kontor zugegen war, und zwar nicht, um den Kaffee zu servieren. Häufig waren danach Blumengebinde zugestellt worden, die eine oder andere Schachtel Konfekt, begleitet von schriftlichen Nettigkeiten, einmal sogar Opernkarten. Zu mehr als einer höflich-kühlen Antwort auf dem Briefpapier der Firma hatte Katya sich jedoch nie durchringen können. Zu oft war zuvor schon angeklungen, dass sie ja sicher nicht mehr im Unternehmen aushelfen müsse, sobald sie einmal unter der Haube war. Ein Bierhändler aus London hatte ihr gar mit nachsichtigem Lächeln das zweifelhafte Kompliment gemacht, dass eine solch bezaubernde junge Lady sich doch nicht in einem Lagerhaus zu verstecken bräuchte.

Thilo sah das anders. Für ihn war Katya das Herz der Firma und sollte es weiterhin sein, auch als Frau Petersen. Und trotzdem blieben Zweifel.

»Ich weiß nicht, ob das zwischen Thilo und mir für ein ganzes Leben reicht.«

Silja dachte an Reidar Ingvarsson, der sicher ein guter Mann gewesen war. Nur nicht der Mann, den sie als junge Frau gebraucht hätte. An Grischa dachte sie, alt genug, um ihr unter der Magie des Polarlichts eine Weiblichkeit zurückzugeben, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihr verloren gegangen war, aber zu jung für alles andere. Zu rastlos. Sie fragte sich, was gewesen wäre, wäre sie einem von ihnen zu einer anderen Zeit begegnet, unter anderen Umständen.

»Die Gewissheit, die du suchst, wird es wohl nie geben.«

Katya schwieg einige Herzschläge lang, während sich in ihr die Worte formten, nach denen sie so lange gesucht hatte.

»Als ich Thilo vor zwei Jahren versprach, seine Frau zu werden, habe ich es leichten Herzens getan. Jetzt fällt es mir nicht mehr so leicht. Seitdem habe ich bei Christian und Henny gesehen, wie unauflöslich eine Ehe sein kann, selbst wenn einer von beiden darin unglücklich ist. Ich habe begriffen, dass sogar eine große Liebe manchmal unrettbar verloren ist. Dass sich Risse auftun können, die nicht zu kitten sind. Weil das Leben eigene Wege geht.«

Silja sann über die vier jungen Menschen nach, von denen sie zwei nur aus Briefen kannte. Während sie in geschäftlichen Dingen offenbar so wirksam ineinandergriffen wie die Zahnräder eines Uhrwerks, schienen sie in ihren Gefühlen füreinander unheilvoll verstrickt.

Eine Geschichte ist nur halb erzählt, wenn einer allein davon spricht, versuchte sie, ihr ungutes Gefühl zu beschwichtigen.

»Was, wenn ich nie vergessen kann, dass er vor mir einmal Grischa geliebt hat?« Katyas Stimme schlich sich in ihre Gedanken.

Nach all den Gästen, die über die Jahre hier ein und aus gegangen waren, überraschte es Silja nicht mehr, dass es Männer gab, die Männer bevorzugten. Und Männer, die zwischen den Geschlechtern unentschlossen schienen. Grischa hätte sie keinem von beiden Lagern zugerechnet, und doch passte es zu ihm. Es musste die Art sein, mit der Grischa das Leben liebte, stürmisch und mit jeder Faser. Eine berauschende Naturgewalt, die für Männer bestimmt genauso unwiderstehlich war wie für Mädchen und Frauen.

Silja dachte an das Seehundfell, das Grischa ihr einmal aus Grönland mitgebracht hatte, schwarz glänzend wie eine Tintenpfütze und verführerisch seidig unter ihrer Hand. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, es vom Kürschner zerschneiden und in eine neue Form bringen zu lassen, sie wollte es so bewahren, wie es war. Wie die Erinnerung an Grischa, die ihr jeden Tag aus Magnus’ Gesicht entgegenlachte.

»Musst du es denn vergessen? Dass er auch einmal Grischa geliebt hat?«, fragte sie.

Katya senkte den Kopf, blinzelte vor sich hin. »Vielleicht nicht, nein.«

Am Ende war es fast eine Erleichterung, dass jemand wie Thilo, der sonst felsenfest in sich ruhte, Schwächen und Leidenschaften kannte, nicht unfehlbar war. Grischa und Thilo, das war ein Teil ihrer gemeinsamen Geschichte, genauso wie Katya und Christian. Sie hatten einander hintergangen und dem anderen wehgetan, ihre Wunden und Fehler schonungslos offengelegt und sich verziehen. Was für böse Überraschungen könnte es da noch geben, in dem Leben, das vor ihnen lag?

Kein Mensch schmiedet sein Schicksal allein, hatte sie einmal in einer nordischen Saga gelesen.

Katya legte die Hände um den Brief, um ihn vor den ersten Regentropfen zu schützen. Rauchig wie Schnee roch der Regen und frisch wie junges Grün, in dieser Jahreszeit des Übergangs. Des Neuanfangs.

»Ich werde eine neue Tracht brauchen. Hilfst du mir, sie zu nähen?«

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