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Der Herbst warf seine langen Schatten über die Stadt und verkürzte die Tage, das Licht gefärbt wie rostiges Eisen und blankes Kupfer und von spinnwebfeinem Dunst.

Die Röcke gerafft, eilte Katya durch die Gassen der Neustadt, erwartungsvoll und seltsam angespannt. Nach so langer Zeit hatte sie selbst nicht mehr gewusst, warum sie vor ihrer Abreise die Überreste der Schale aufgesammelt und zusammengekehrt hatte, ungeachtet aller Eile. Erst als sie ihr Unterzeug in die heimatliche Schublade geräumt hatte, war sie wieder auf die in Zeitungspapier gewickelten Scherben gestoßen, kurz davor, das Bündel einfach wegzuwerfen. Wozu sollte sie es auch aufheben, Thilo war ausgezogen, und sie wusste nicht einmal genau, wohin. Darüber sprachen sie nicht, wenn sie einander im Kontor begegneten oder zusammen am Besprechungstisch saßen, ihre Mienen verschlossen, die Blicke ausweichend.

Letztlich hatte Katya es sich anders überlegt und die Scherben zu Pawel gebracht. Viel Hoffnung hatte er ihr nicht gemacht, ihr aber knurrig angeboten, zwischendurch bei ihm vorbeizukommen, dann könnte er ihr sagen, ob es sich überhaupt noch lohnte.

Nach dem schnellen Lauf schlug ihr Herz heftig; sie atmete ein paarmal tief durch, bevor sie an Pawels Tür klopfte.

Pies antwortete mit einem kräftigen Bellen, das in ein sehnsüchtiges Winseln überging, als Katya Pawels Namen rief.

In einem der oberen Stockwerke flog ein Fenster auf.

»Wollense zum Polacken?«, keifte eine fast zahnlose Frau, das strähnige Haar zum Vogelnest gezwirbelt. »Is’ vorhin mit seinem Karren weg. Hat wohl den Köter dagelassen, dass ihm keiner seinen Ramsch klauen tut. Stopfense dem Viech gefälligst das Maul, sonst mach ich’s selbst!«

Das Fenster knallte zu.

Ratlos harrte Katya einige Herzschläge lang aus, während Pies jaulend an der Tür kratzte. Kurzerhand öffnete sie die Tür einen Spalt und zwängte sich hinein. Beruhigend sprach sie auf Pies ein, der vor Wiedersehensfreude schier überschnappte.

In den dünnen Lichtstrahlen, die von nebenan hereinfielen, glänzte die Schale auf dem Tisch. Katyas Finger wanderten über die verästelten Narben im Porzellan. Über die Stellen, wo eines der winzigen Bruchstücke verloren gegangen war und Pawel die Lücke mit etwas geflickt hatte, das schimmerte wie pures Gold.

Das war nun übrig von ihrer Ehe. Ihrem bisherigen Leben.

Nachdenklich kraulte sie Pies den Nacken, raufte liebevoll seine Ohren.

»Was meinst du, sollen wir Pawel irgendwie überraschen, als Dankeschön?«

Aus seinem Hundegesicht las sie nichts als Begeisterung heraus.

Als Pawel an diesem Abend die Tür öffnete und den Karren über die Schwelle zerrte, schlug ihm der Geruch seiner Kindheit entgegen. Benommen blieb er stehen.

In ihm hallte das Muhen der Kühe auf der Weide nach. Die gemütliche Stimme seines Vaters und das lockende Rufen seiner Mutter. Trockenes Gras kitzelte ihn an den nackten Beinen, und auf seiner Schulter keckerte vergnügt Sroka, die Elster.

Er schüttelte den Kopf. Das Reich seiner Kindheit war längst untergegangen, seine Jungenhaut hatte er abgestreift, und seine Eltern waren tot. Der kräftige Geruch jedoch blieb, krautig und süß und säuerlich. Ein unerwarteter Trost nach diesem harten Tag, an dem er als Leichenfledderer beschimpft worden war und einmal mehr zu spüren bekommen hatte, wie schmutzig sein Gewerbe in den Augen mancher Menschen war. Wie entwürdigend.

Sein Ruf nach Pies blieb ohne Echo, und mit gerunzelter Stirn ging er dem Lichtschein aus dem Durchgang entgegen, eher rätselnd als beunruhigt. Diebe und Räuber kamen nicht, um Barszcz zu kochen.

Pies hatte keinen Begrüßungslaut für Pawel übrig, er hob nicht einmal den Kopf, sondern klopfte nur glückstrunken mit der Rute auf den Boden, und Katya Petersen, die am Herd stand, wandte sich um.

»Co do cholery «, murmelte Pawel. Was, zur Hölle.

»Ich wollte mich bedanken«, sagte Katya Petersen und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Für die Schale. Und für alles, was Sie für Betje getan haben.«

Schweigend musterte Pawel den sorgsam gedeckten Tisch. Sogar ein besticktes Tischtuch hatte sie darauf ausgebreitet, ein paar Herbstblumen in ein Glas gestellt.

Katya Petersen, die eine Zeit lang so oft hier gewesen war, den Raum mit ihrem Wiesenduft und ihren leuchtenden Augen gefüllt hatte, dass er versucht gewesen war, all seine Vorsicht zu vergessen. Bis sie verschwand, von einem Tag auf den anderen und ohne ein Wort, und Betje gleich mit. Erst durch Hanno hatte er erfahren, wo die beiden waren, und am Ende hatte er sogar seinen Gehilfen verloren.

Und nun, eineinhalb Jahre später, stand sie hier und kochte Barszcz . Als gehörte sie hierher. Offensichtlich hatte Katya Petersen nichts Besseres zu tun, als ständig Unruhe in sein Leben zu bringen und ihm ihren Willen aufzuzwingen.

Finster starrte er vor sich hin. Womöglich stimmte es, was er über Russinnen gehört hatte. Dass sie die schönsten Frauen der Welt waren und diese Schönheit überall hinbrachten, wohin sie auch gingen. Aber dass sie einen mit Haut und Haaren verschlangen, wenn man nicht achtgab und ihnen Zügel anlegte.

Also schwieg er. Die einzige Möglichkeit, die sie ihm jetzt noch gelassen hatte, um sich dahinter zu verschanzen. Mit einer hässlichen Zufriedenheit nahm er aus dem Augenwinkel wahr, wie ihre Selbstsicherheit zu bröckeln begann.

»Entschuldigen Sie«, hörte er sie leise sagen. »Das hätte ich nicht tun sollen. Es war aufdringlich von mir.«

Das war es, keine Frage, geradezu ein Überfall. Aber auch fürsorglich und gut gemeint, das sah er sehr wohl. Und dennoch war es grausam, ihm derart den Mund wässrig zu machen. Ihm einen Einblick in ein Leben zu schenken, das ein Mann wie er sich wünschte und doch nicht haben konnte. Nicht mit ihr.

Ein staubiges Krümelchen, das sie ihm hinwarf, während der reiche und zweifellos vornehme Herr Petersen jeden Tag den ganzen Kuchen bekam.

»Schaffen Sie sich ein paar Kinder an«, raunzte er. »Dann haben Sie endlich was zu tun.«

Er sah sofort, dass er zu weit gegangen war. Grünlich glomm es in ihren Augen auf, dann erlosch das Licht darin, ihre Haltung wie verwundet. In diesem Augenblick begriff Pawel viel von Katya Petersens Hoffnungen und Träumen, Enttäuschungen und Niederlagen, wo sie an ihren eigenen Maßstäben gescheitert war. Und das machte sie auf anrührende Weise menschlicher.

»Ich gehe wohl besser«, flüsterte sie, den Kopf gesenkt, und tastete nach den Schürzenbändern.

Pawel war kein Freund von schnellen Entschuldigungen, die meist doch nur ein Reflex waren. Lieber machte er in Taten und Handlungen wieder gut, was er angerichtet hatte. Auch wenn das für ihn hieß, über seinen eigenen Schatten zu springen.

»Bleiben Sie.«

Katya schnitt das noch warme Brot auf und horchte dabei auf das Plätschern hinter sich. Verstohlen wandte sie den Kopf. Die Muskelstränge auf Pawels bloßem Rücken waren fortwährend in Bewegung, während er Wasser auf sich schaufelte, sich mit einem Tuch trocken rieb, die Arme starkknollig wie Flaschenkürbisse. Als er die Hand nach dem frischen Hemd ausstreckte, hielt er plötzlich inne, als lauschte er ebenfalls.

Katya beugte sich tiefer über das Essen. Aus dem Topf schlug ihr der Dampf entgegen und erhitzte ihr Gesicht, machte ihre Augen wässrig. Ungenügend, wie sie war, in ihrem Frauenleib. Unfruchtbar, und aus Thilos Armen von einem Mann verdrängt.

Schweigend löffelten sie die Suppe und kauten an dem Brot, während Pies unter dem Tisch geräuschvoll seinen Anteil schlabberte.

»Das habe ich lange nicht mehr gekocht«, sagte Katya nach einiger Zeit. »In meiner Erinnerung schmeckt es anders.«

»In meiner auch«, erwiderte Pawel. »Aber heute und hier muss es genau so schmecken.«

Das kleine Lächeln um ihren Mund wirkte ebenso dankbar wie zweifelnd. Er fragte sich, was in ihrem Leben vorgefallen war, dass sie immer alles noch besser machen wollte, als es schon war.

Pawels Blick fiel auf ihre Linke, die sich auf dem Tisch zur Faust geballt hatte. Behutsam legte er seine Hand darüber.

»Ich hätte das nicht sagen sollen, vorhin. Das war ungerecht und niederträchtig. Ich kann es nicht ungeschehen machen. Aber es tut mir leid.«

Katya nickte nur, ihre Finger entspannten sich jedoch merklich, und Pawel ließ seine Hand einfach auf ihrer liegen. Eine Hand in der anderen, saßen sie am Tisch wie zwei Fremde, die sich nichts zu sagen hatten. Oder wie zwei, die sich viel zu viel zu sagen hatten und nur den Anfang nicht fanden.

Zögerlich löste sich ihr Schweigen, als sie sich während des Abwaschs von ihrer Kindheit erzählten, von Barszcz und Borschtsch, Schtschi und Kapuśniak, Piroschki und Pierogi. Bei aller Unterschiedlichkeit entdeckten sie Gemeinsamkeiten in ihrer beider Muttersprachen, und sie schmunzelten darüber, dass ein und dasselbe Wort im Russischen eine Tasse bezeichnete, im Polnischen aber den Schädel. Und wenn man auf Polnisch sagte, dass ein Duft besonders gut roch, bezeichnete derselbe Ausdruck im Russischen, dass es erbärmlich stank.

Pawel hatte stets den Eindruck gehabt, dass das Polnische für fremde Zungen unaussprechlich war, weil das Wesen der Polen für Außenstehende schwer begreifbar blieb. Während er Katya beobachtete und ihr zuhörte, ging es ihm durch den Kopf, dass es sich mit dem Russischen vielleicht ganz ähnlich verhielt, weil die russische Seele voller Rätsel war.

Hinter Katyas Lächeln schien immer wieder eine Traurigkeit durch, die früher nicht da gewesen war. Lange wog Pawel Mut und Vorsicht gegeneinander ab.

»Ist bei Ihnen zu Hause mehr zu Bruch gegangen als nur die Schale?«, tastete er sich vor.

Sie nickte.

»Meistens lässt es sich wieder reparieren«, sagte er, ungeachtet seiner eigenen Erfahrungen.

In der beschämenden Hoffnung, es möge nicht so sein.

Katya schüttelte den Kopf.

Vielleicht war es das, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte. Was ihn dazu bewog, ihr den nassen Teller aus der Hand zu nehmen und sie an sich zu ziehen, ihr tiefer Atemzug die Antwort auf seine stumme Frage.

Wo bist du gewesen all die Jahre?

Wie ein Gewitter war es, das sich viel zu lange zusammengebraut hatte. In einer angespannten Stille, die so drückend war, dass sie das Atmen erschwerte. Die ersten Küsse zaudernd wie ein Donner am Horizont, der nicht so recht ins Rollen kommen mochte.

»Du hast kein Schloss an der Tür«, flüsterte Katya.

Sie war versucht, diesen Schwebezustand auszukosten, in dem sich die dräuenden Wolken vielleicht doch noch verzogen, das Heu auf den Feldern trocken blieb.

»Pies passt auf«, raunte Pawel. »Er wartet mindestens schon so lange darauf wie ich.«

Ihre Küsse schmeckten erdig, nach den roten Rüben in der Suppe und gutem Brot. Ein bisschen schweflig wie die Spur, die ein Blitz hinterließ, und nach den ersten Regentropfen auf ausgedörrtem Boden. Unwiderstehlich und süchtig machend.

Einer Naturgewalt konnte man keine Zügel anlegen. Wie Sturmböen rissen sie an ihren Kleidern, um sich mit Haut und Haar den Regenhänden zu überlassen. Nach Erlösung lechzten sie mit jedem Atemzug und bedauerten jetzt schon ihre Ungeduld, taub vom Donnern in ihren Adern und geblendet von den Funken hinter ihren Lidern. Umso fester hielten sie einander, um nicht verloren zu gehen in diesem Tosen von viel zu viel Gefühl, jede Faser so empfindlich, dass es fast schmerzte. Bis sie aufatmen konnten, einer nach dem anderen, beide ebenso berauscht wie befreit.

Zärtlich war das Murmeln danach, während die letzten Tropfen versickerten und langsam trockneten. Die Glieder schwer, die Seele satt, blinzelten sie traumverloren vor sich hin und fragten sich, ob das gerade alles wirklich und wahrhaftig so gewesen war.

Ob irgendetwas wirklich und wahrhaftig war, dort draußen in der Welt.

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