2
Die Kühe auf der eingezäunten Weide, acht an der Zahl, gaben abwechselnd ein zufriedenes Muhen von sich. Betje, die auf das Holzgatter geklettert war, ließ munter die Beine baumeln.
Die Tage mit Joost schmeckten nach Sonne und Wind und manchmal auch nach Regen. Nach Speck und herzhaftem Käse, die Joost aus den Tiefen seiner Kiepe hervorzauberte. Die Brotkanten dazu waren meistens alt, aber gewürzt vom Abenteuer.
Aufregend war es, sich mit den Wolken über das Land treiben zu lassen. Nach Norden zogen sie, hatte Joost ein ums andere Mal versichert, zum Meer. Manchmal glaubte Betje, es schon zu riechen; salzig, hatte Joost gesagt. Wie der Granat, ein rosafarbenes Krebstierchen, das man dort aus dem Meer zog und kochte, ganze Bottiche voll, und Betje war das Wasser im Mund zusammengelaufen.
Es gab wohl nichts, wovon Joost auf seinen Wanderungen noch nicht gekostet hatte. Auf einer Viehweide war einmal ein Stier auf ihn losgegangen, angestachelt von Joosts leuchtend rotem Halstuch, und nur durch einen beherzten Sprung über den Zaun hatte er sich retten können. Eines Nachts, auf offenem Feld, hatte er mit bloßen Fäusten zwei Räuber in die Flucht geschlagen, die es auf seine Kiepe abgesehen hatten, und in einem Wald hätte ihn ein Jäger beinahe statt eines Hirschs erlegt, wäre Joost nicht flink genug gewesen.
Betje kannte nur die offenen Marschen ihres Kirchspiels, sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wohl tief in einem Wald war. Bei Joost klang es nach einem finsteren Ort, der einen zu verschlingen drohte. Ganz und gar unheimlich, und trotzdem rann ihr bei seinen Erzählungen ein wohliger Schauder über den Rücken.
Es war gut, dass sie nun zu zweit unterwegs waren, schloss Joost seine Geschichten, so konnte einer auf den anderen achtgeben. Ein ganzes Stück größer kam Betje sich vor, wenn er das sagte, wichtig und von Nutzen; bei Joost fühlte sie sich gut aufgehoben.
Dem Stand der Sonne nach zu schließen, saß sie schon einige Zeit hier. Seit Joost sich am Morgen zu der Ansammlung von Höfen aufgemacht hatte, deren Reetdächer Betje gerade noch in der Ferne erkennen konnte, zwischen dem weiten Grün von Wiesen und Weiden und dem wolkengetupften Himmel.
Joost ließ sie immer zurück, wenn ein Dorf oder ein Gehöft in Sicht kam, wo sich die Schätze aus seiner Kiepe an den Mann bringen ließen. Es machte Betje nichts aus, irgendwo in der Einöde auf ihn zu warten, froh darum, dass er ihr neugierige und im besten Fall mitleidige Blicke ersparte.
Du bist mein kleines Geheimnis , sagte er jedes Mal augenzwinkernd. Betje errötete dann verlegen; es klang, als wäre sie etwas Besonderes. Als ob Joost sie auf eine Weise sah, für die alle anderen blind waren.
Heute jedoch blieb Joost lange fort, länger noch als sonst, während Betje den Flug der Feldlerchen verfolgte. Das Schlendern der wiederkäuenden Kühe auf ihrer Weide und wie die Schwarzdrosseln einen Wurm nach dem anderen aus dem Boden zerrten.
Als wollte sie sich versichern, dass Joost sie nicht vergessen hatte, strich sie über den aufgekrempelten Ärmel ihrer neuen Bluse. Der Ersatz für ihre alte, die nicht nur schmutzig gewesen war, sondern auch fadenscheinig, mit ausgebesserten Stellen, die sich schon wieder auflösten. Eine Frauenbluse war es, die Joost ihr geschenkt hatte. In die sie hineinwachsen konnte, wenn sie gut darauf aufpasste. Jetzt erst wusste sie, wie weiß ein Stoff wirklich sein konnte, und wie fein.
Ein hübsches Kleid hatte Joost ihr außerdem versprochen, nach dem nächsten dicken Geschäft. Vielleicht sogar ein Paar Schuhe, für Amerika. Wann immer Betje daran dachte, wurde ihr schwindelig vor Glück.
Jemand, der dafür sorgte, dass sie solche schönen Sachen bekam, würde sie bestimmt nicht einfach irgendwo zurücklassen.
Betjes Magen begann zu knurren. Ein hohles Gefühl, das zunehmend in Bangigkeit überging, je weiter die Sonne auf ihrer Bahn fortschritt. Irgendwo schrie kläglich ein Esel.
Was, wenn Joost tatsächlich nicht mehr kam? Was sollte dann aus ihr werden, ganz allein auf weiter Flur? Der Gedanke, dass Joost etwas zugestoßen war oder er es sich anders überlegt hatte, plagte Betje und schnürte ihr zunehmend die Brust zu
Die Sonne stand schon tief im Nachmittag, als schließlich eine Männergestalt aus den Wiesen auftauchte. Joosts Gestalt, und Betjes Herz machte einen Satz. Sie sprang vom Gatter hinunter und lief ihm entgegen.
»Hast du ein gutes Geschäft gemacht?«
Joost mochte es, wenn sie danach fragte, das hatte sie schnell gelernt.
Belustigt zwinkerte er ihr zu. »Was glaubst du wohl?«
Betje gab ein leises Glucksen von sich. Mit Joost schien alles so leicht, so unbekümmert. So vergnügt.
»Hast du mich vermisst?«, wollte er wissen.
Sie nickte eifrig, und er zerzauste ihre feuerroten Locken; das tat er gern.
»Dann ist gut.«
Er nahm die Hand nach vorn, die er bislang hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte.
»Ich hab dir auch was mitgebracht.«
Joost schlug die Zipfel des Tuchs zur Seite und enthüllte ein Stück Butterkuchen.
»Für mich?«
Betje blicke ungläubig auf den Kuchen. Zu Hause gab es Butterkuchen nur an Festtagen, und auch dann immer nur einen schmalen Streifen für jeden.
Joost nickte. »Ganz allein für dich.«
Ein Strahlen drängte sich auf Betjes Gesicht, und fast ehrfürchtig nahm sie den Kuchen entgegen.
Sie hatte noch nie etwas so Gutes gegessen, mit gekreuzten Beinen mitten in den Wiesen, unter offenem Himmel, der Geschmack von Butter und Zucker durchmischt von Sonne und Frühlingsluft. Noch wärmer in ihrem Bauch durch Joosts Lächeln und seinen freundlichen Blick, der auf ihr ruhte.
Joost hatte ein untrügliches Gespür, für die Nacht einen leeren Schuppen ausfindig zu machen, ein halb verfallenes Haus oder eine abgelegene Scheune.
Wie ein Fuchs sich seinen Bau sucht, dachte Betje schläfrig und rollte sich mit brennenden Füßen im Heu zusammen; ein tüchtiges Stück hatten sie heute zurückgelegt auf ihrem Weg zum Meer. Unter Knistern und Rascheln streckte sich Joost neben ihr aus.
Jeder dieser Schlafplätze roch anders. Nach Stroh und Korn und mulchig wie Kartoffeln, nach verwittertem Holz und altem Stein und Ruß. Einmal hatten sie sich in einen Stall geschlichen und im warmen Geruch der Pferde geschlafen; ein anderes Mal im Freien unter dem Sternenhimmel, und Joost hatte sie mit seiner Jacke zugedeckt.
Mit Joost über das Land zu ziehen war ein einziges großes Spiel. Viel besser als das Ringelreihen und Vater-Mutter-Kind der Mädchen zu Hause, weil dieses Spiel hier wirklich war.
Frei wie die Tiere im Wald sind wir , hatte Joost einmal gesagt. Wir besitzen nicht mehr als das, was wir am Leib tragen, und trotzdem sind wir reicher als alle anderen. Denn uns gehört die ganze Welt.
Betje fuhr zusammen, als sich sein Arm um sie legte. Er gab einen beruhigenden Laut von sich, wie das Schnurren eines großen Katers, doch umso mehr versteifte sie sich.
»Kennst du das denn nicht«, flüsterte Joost, »dass dich jemand in den Arm nimmt, weil er dich gernhat?«
Betje schüttelte den Kopf.
»Arme kleine Betje«, murmelte er sanft.
In ihren Augenwinkeln prickelte es, als wollte sie gleich weinen.
»Magst du mir nicht ein Küsschen für die Nacht geben?«, fragte Joost. »Schau, so.«
Sein Mund berührte ihre Wange, und Betje duckte sich unter ihm weg. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Tante und Onkel das je bei ihren Kindern gemacht hätten.
Sie spürte Joosts Blick auf sich, schwer wie sein Arm.
»Ich hatte auch einmal ein kleines Mädchen, weißt du«, fuhr er nach einer Weile fort, seine Stimme wie aufgeschürft.
Betje blinzelte in das rauchblaue Dämmerlicht, das durch die Ritzen und Fugen der Holzlatten sickerte.
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie lebt nicht mehr.«
Erschrocken sah Betje ihn an. In Joosts Augen schimmerte es feucht; Tränen, gegen die er tapfer anzukämpfen schien. Betje war elend zumute. Schuldig fühlte sie sich, weil sie noch auf der Welt herumsprang, während Joosts kleines Mädchen, das bestimmt zwei gesunde Arme gehabt hatte, nicht mehr da war.
Betje überwand sich und streifte flüchtig mit dem Mund über seine Wange, stoppelig und rau.
Joost lächelte und streichelte ihr über den Kopf. »Siehst du. Ist doch nichts dabei.«
Er zog sie an sich und gab ihr noch einen Kuss auf das Ohr.
»Ist das nicht ein Glück, dass wir jetzt füreinander da sind? Wo wir doch sonst niemanden haben?«
Betje nickte zögerlich und kauerte sich enger zusammen.
Merkwürdig fühlte es sich an, in Joosts Arm zu liegen. In seiner Wärme, seinem strengen Männergeruch, der den süßen Duft des Heus überlagerte.
Bestimmt fühlt es sich nur merkwürdig an, weil ich es nicht kenne, redete Betje sich selbst gut zu und presste die Augen zusammen. Ich werde mich schon daran gewöhnen.
Betje schrak hoch. Die Finsternis in der Scheune war kaum von der Schwärze des Schlafs zu unterscheiden, im ersten Augenblick wusste sie nicht, ob sie nicht in einem Traum gefangen war.
Joost bewegte sich unruhig im Heu, es klang, als ob er unter Schmerzen litt.
»Joost?«
Er antwortete nicht, keuchte nur, und Betje tastete in der Dunkelheit nach ihm. Wie im Fieber lag er da, angespannt und ein Zucken unter der Haut. Besorgt rüttelte sie an ihm.
»Joost! Sag doch was!«
»Gleich vorbei«, brachte er mühsam hervor.
Die Angst, Joost könnte hier in der Scheune sterben, noch bevor es Tag wurde, fraß sich in sie hinein.
»Was kann ich tun?«
»Das darf ich nicht von dir verlangen, kleine Betje«, rang er sich ab, hörbar gequält.
Betje war den Tränen nahe. »Doch, Joost. Alles! Wenn es dir nur hilft.«
Eine Weile atmete er schwer, wie gegen einen Widerstand. Dann tastete er nach ihrer Rechten und führte sie dorthin, wo seine Haut glühte. Zu etwas, das unter ihrer Berührung zuckte und bebte, dick und hart wie eine Wurst.
Middelbeen. Piethahn. Trummelstock.
Die Begriffe, die Betje dafür aufgeschnappt hatte, jagten ihr durch den Kopf. Es konnte nicht recht sein, ihn dort anzufassen.
»So, Betje. Genau so.«
Erst sein erleichtertes Seufzen lockerte ihre verkrampften Finger; was wusste sie denn schon, von welchen Leiden ein Mann heimgesucht werden konnte. Folgsam streichelte sie ihn dort, wie er sie geheißen hatte, wie das Fell einer Katze.
»Gib mir noch mal ein Küsschen. Hier unten.«
Er packte sie im Genick und drückte ihren Kopf hinunter. Umso fester, je heftiger sie sich sträubte.
»Du wolltest doch alles für mich tun«, erinnerte er sie liebevoll.
Er roch schlecht dort unten. Eklig fühlte es sich an ihrer Wange, ihrem Mund an, und er tat ihr weh. Sie bettelte darum, dass er sie losließ und alles wieder so schön war wie zuvor, und brachte dabei keinen Laut heraus. Sauer quoll es in ihrer Kehle hoch und ließ sie würgen.
»Hast du mich denn so wenig lieb?«, flüsterte er betrübt.
Natürlich hatte sie Joost lieb, niemand war je so gut und freundlich zu ihr gewesen. Betje wollte dankbar sein und ihm gehorchen und schaffte es nicht, und es riss sie beinahe entzwei.
»Ich bin doch alles, was du hast, meine kleine Betje.«
Jetzt konnte sie es fühlen. Das Böse, das aus den Winkeln der Scheune herankroch und sich zwischen ihr und Joost zusammenzog.
Betje bäumte sich auf und drosch mit ihrer Faust auf Joost ein; nicht mehr als das Strampeln eines Karnickels, das man an den Ohren hochhielt. Erst als sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste und wahllos die Zähne in ihn grub, gab er sie aufbrüllend frei. Sein Knie rammte sich in ihren Magen, und sie kippte hintenüber. Hastig robbte und krabbelte sie durch das Heu, schlug hart auf dem Boden auf, stieß sich die Schulter, den Kopf an.
Joosts Stimme lockte und schmeichelte, fluchte und drohte. Überall gleichzeitig schien er zu sein, wohin Betje sich auch wandte, im Dunkeln herumstolperte und umhertastete; eine grausame Art, Blindekuh zu spielen.
Ein Windstoß fuhr um die Scheune und rappelte am Tor. Betje stürzte auf das klappernde Geräusch zu, dem Luftzug nach. Mit aller Kraft riss sie an den zusammengenagelten Latten, dass die Angeln kreischten, und warf sich ins Freie. Ihr lahmer Arm einmal kein totes Gewicht, sondern ein tröstlicher Strohhalm, an dem sie sich festklammerte, flog sie unter dem wolkenfinsteren Himmel dahin, in die Nacht hinaus.