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Christian ließ sich Zeit. Einen ganzen Winter lang, der in Norwegen, wo Katya mit den Männern die Eisschicht der Seen abschälte, so viel länger dauerte.

Genug Zeit für Christian, sich in der Neustadt umzusehen und umzuhören. Sobald das erste Misstrauen überwunden war, zeigten sich die Menschen dort überaus mitteilsam, für ein paar Mark sowieso.

Es wurde März, bis er den Altwarenhändler aufsuchte. Als sich die Tür öffnete, stellte er überrascht fest, dass Pawel wesentlich kleiner war, als er von Weitem auf der Gasse wirkte, dafür umso kräftiger. Die hochgerollten Ärmel des Hemdes enthüllten starke Unterarme, die Hände dazu groß und zupackend, ein Mann fürs Grobe.

Grußlos musterte der Altwarenhändler ihn, umso lauter war das Gebell des Hundes zu seinen Füßen. Pies. Es hatte gedauert, Katyas Geheimnis mit jenem Pawel in Verbindung zu bringen, der Betje in ihren ersten Nächten in Hamburg beherbergt hatte, wie sie einmal bei einem Sonntagsessen erwähnt hatte; überhaupt war dieser Name in ihren Erzählungen häufiger gefallen, auch früher schon. Am Ende war Hamburg doch kleiner als gedacht.

Im Nachhinein hatte Christian sich gefragt, ob hier bei Pawel der Grund für den Bruch zwischen Thilo und Katya zu suchen war.

Grüßend tippte er an seinen Hut. »Christian Petersen. Katyas Schwager.«

Die eisigen Augen Pawels verrieten keine Regung.

»Darf ich hereinkommen?«

Wortlos trat Pawel zur Seite, und Christian schloss die Tür hinter sich.

Pies war verstummt, trat nur noch unruhig von einer Pfote auf die andere, während er in Christians Richtung schnupperte.

Christian mochte Hunde, als Junge hätte er liebend gern einen gehabt. Er ging in die Hocke und murmelte Zärtlichkeiten; sobald sich die Rute des Hundes zögerlich bewegte, streckte er die Hand aus und kraulte das dicke Fell, was Pies sich allzu gern gefallen ließ.

Hunde witterten Angst, hieß es. Gedanken lesen konnten sie offenbar nicht, sonst wäre Pies wohl kaum so schnell dabei gewesen, mit ihm Freundschaft zu schließen.

Erstaunlich gutes Licht drang durch das enge Fenster und lenkte Christians Blicke auf die Uhren und Möbelstücke, auf Porzellan und Kunsthandwerk. Offensichtlich alt, aber gekonnt hergerichtet.

»Interessiert Sie etwas davon?«, fragte Pawel.

Missgestimmt klang er dabei, als würde Christian ihn von der Arbeit abhalten.

»Ja. Sie. Ich wollte Katyas Liebhaber kennenlernen.«

Ungerührt fuhr Pawel damit fort, die Oberfläche eines Schränkchens abzuschmirgeln.

Seine Bewegungen, das Geräusch, dabei stellten sich Christian die Nackenhaare auf. Wie Pawel sich über das Möbelstück beugte, beugte er sich nachts über Katya, wie seine staubbedeckten Hände über das Holz fuhren, streichelte er ihren nackten Leib.

Dieser ungehobelte Klotz mit schwerfälligem Akzent, für den Katya alles aufgeben, alles hinter sich lassen wollte. Christian hatte nicht gewusst, wie gallig Eifersucht auf der Zunge schmeckte.

Er richtete sich auf und deutete auf einen Stuhl.

»Darf ich?«

»Der hat ein loses Bein. Nehmen Sie den dort drüben.«

Schwanzwedelnd folgte Pies ihm, und Christian vergrub die Finger erneut tief in seinem Pelz.

Pawel warf einen Seitenblick auf Christian Petersen. An einen Habicht erinnerte er ihn, mit dem scharf geschnittenen Gesicht, den durchdringenden Augen, und genauso energisch bewegte er sich auch. Die Sorte Mann, die ebenso charmant wie knallhart sein konnte; ihn wollte man nicht zum Feind haben.

Dass sein Vater einen Gemischtwarenladen führte, sah man ihm nicht an, und das lag nicht einmal an seinem feinen Zwirn, dem teuren Hut – die männliche Eleganz schien ihm angeboren. Er wirkte wie jemand, der immer schon gewusst hatte, dass er Großes erreichen würde, und wenn ihm das Glück dabei einmal nicht hold war, half er eben nach.

Einen Einblick in die Welt, in der Katya lebte, brachte er mit. Pawel konnte sich selbst in jener Welt nicht vorstellen, in einem solchen Anzug, in einem Kontor. Nicht einmal mit Christian Petersen an einem Tisch. Vielleicht sah es Katya genauso und wollte deshalb fortgehen.

Energischer schmirgelte er über die Kante des Schränkchens.

»Was verdienen Sie hier so im Schnitt?«, wollte Christian wissen. »Zwanzig, dreißig Mark im Monat?«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, knurrte Pawel, ohne aufzublicken.

»Katya ist eine glänzende Partie. Nicht nur finanziell.«

Pawel runzelte grimmig die Stirn. »Ihr Bankkonto ist mir egal.«

»Werden Sie denn mit in die Firma einsteigen?«

Pawel griff das Schränkchen und stellte es umgekehrt hin. »Davon kann keine Rede sein.«

Insgeheim atmete Christian auf. Zu viert war es schon schwierig, sich auf einen gemeinsamen Kurs zu einigen, ein fünftes Rad am Wagen wollten sie wahrlich nicht haben.

»Stimmt. Katya hat angedeutet, dass sie Ihretwegen aus dem Unternehmen ausscheiden will. Sie verstehen sicher, dass ich das nicht zulassen kann. Sie wird dort nämlich gebraucht.«

»Das sollten Sie Katya selbst entscheiden lassen.«

Christian nickte vor sich hin.

»Demnach macht es Ihnen nichts aus, künftig von Katyas Geld zu leben? Respekt. Ich könnte das nicht. Geradezu schäbig käme ich mir da vor. Vor allem würde ich mich die ganze Zeit fragen, ob meine Frau mich überhaupt noch achten kann.«

Pawel erstarrte, dann sah er Christian mit einem frostklirrenden Blick an.

»Was wollen Sie?«

Unter dem besorgten Fiepen von Pies zog Christian ein Stück Papier aus der Tasche seines Jacketts und legte es vor Pawel auf die Werkbank.

»Was ist das?«

»Ein Scheck. Sie können doch sicher lesen, oder?«

Pawel starrte auf das Papier vor sich, ein plötzliches Schwindelgefühl im Kopf.

»Gehen Sie«, stieß er heiser hervor.

Christian dachte gar nicht daran. Schweigend starrten sich die beiden Männer an, ein Kräftemessen ihrer Standfestigkeit, ihres Willens.

»Das ist eine Menge Geld, Pawel«, sagte Christian leise. »Damit lässt sich ein neues Leben anfangen. Ein gutes Leben. Nur auf Katya müssten Sie eben dafür verzichten.«

Pawels Hand ballte sich zur Faust, in seinen Muskeln zuckte es vor kaum unterdrückter Wut. Etwas nagte an ihm, hässlich wie ein Getümmel gieriger Ratten.

»Ist das Geld von Ihnen oder der ganzen Familie?«

»Von mir. Niemand weiß davon.«

So etwas wie Schuldbewusstsein zeichnete sich auf Christian Petersens Gesicht ab, während er liebevoll Pies kraulte, der beunruhigt von einem zum anderen blickte.

Lange betrachtete Pawel den anderen Mann, der aussah, als ob er immer nur die Sonnenseiten des Lebens kennengelernt hatte.

»Machen Sie das für Ihren Bruder?«

Christian deutete ein Kopfschütteln an. »Um meinetwillen.«

Auch nach all den Wochen strich Pies noch jeden Tag um die Tür herum, ein Winseln in der Kehle und mit halb traurig hängender, halb hoffnungsvoll schwingender Rute, weil er auf Katya wartete. Mit einem Blick, der dem Christian Petersens glich.

»Sie werden sie trotzdem nicht bekommen«, sagte Pawel rau, in einem merkwürdigen Anflug von Mitgefühl.

Um Christians Mund zuckte es, während sich sein Blick in einem Winkel der Werkstatt verlor. Heimgesucht wirkten seine Augen. Als wäre Katya ein Geist, der ihm keine Ruhe ließ.

»Ich kann sie aber auch nicht aufgeben«, flüsterte er.

Pawel wandte sich ab und lehnte sich mit dem Rücken an die Werkbank.

Von allen Schätzen, die er auf seinen Streifzügen gefunden hatte, war Katya der größte, schönste, kostbarste Schatz. Einzigartig. Als Frau, als Gefährtin.

Dennoch fragte er sich, wie viel er wirklich über sie wusste.

Er dachte an die Momente, in denen sie weit weg schien. Nachts, im Schlaf, wenn sie von ihm abgerückt dalag, sodass sie Gefahr lief, über die Bettkante zu rollen, das Kissen umklammert wie einen Nebenbuhler. Ihr traumverlorener Blick, wenn sie auf seiner nackten Brust lag und Muster auf seine Haut zeichnete. Als wartete sie auf einen Ruf aus einer anderen Welt, der sie von ihm fortholte. Dieser Ruf mochte niemals kommen, nach ihm horchen musste sie trotzdem.

Kopfgeburten seines alten Misstrauens, hatte er immer geglaubt. Aber vielleicht war doch etwas dran, etwas, das tiefer ging, weiter zurückreichte als das, was sie miteinander teilten.

In den Märchen verließ die Nixe ihr Königreich, weil sie neugierig auf die Welt jenseits des Wassers war. Mal rettete sie einen Seemann aus dem Sturm, mal einen Prinzen vor dem Ertrinken, ein glückliches Ende gab es für sie jedoch nie. Immer endete es damit, dass sie zwischen beiden Welten gefangen war und schließlich zerfiel in Gischt und Meeresschaum.

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