10



Für Christian Petersen war der Glockenklang von Sankt Nikolai wie sein eigener Herzschlag gewesen, solange er zurückdenken konnte. Das Kirchenläuten hatte ihn geweckt, zum Abendbrot nach Hause gerufen oder das Mädchen, das er gerade küsste, hastig davonstieben lassen, bevor dessen Mutter sich auf die Suche machte. Ein verlässlicher und manchmal viel zu strenger Taktgeber, während er und Thilo auf dem Kehrwieder, der Elbinsel am Binnenhafen, von kleinen Jungen zu Männern heranwuchsen.

Seit einem Jahr zählte Sankt Nikolai ihm die Stunden hier am Neuen Wall vor. Aus der anderen Richtung kommend, dafür näher und lauter; nahezu die einzige Konstante, die aus seinem früheren Leben mit umgezogen war.

An diesem Morgen erwies sich die Kirchturmuhr am Hopfenmarkt als besonders gnadenlos. Während draußen der schöne Herbsttag munter voranschritt, war Christian in seinen neuen vier Wänden zum Stillstand verdammt.

»Marie«, wiederholte er sanft den Namen seiner zweiten Tochter.

Das kleine Mädchen, das vor ihm auf dem Boden saß, zeigte jedoch noch immer keine Regung. Mit weher Zärtlichkeit strich Christian über das seidige Blondhaar und fragte sich einmal mehr, was in ihrem Kopf vorgehen mochte. Was ihre großen blauen Augen, die ins Leere starrten, wohl sahen?

»Marie«, bemühte er sich unverdrossen weiter. »Komm, wir ziehen dir etwas anderes an.«

Behutsam fasste er sie beim Ärmel ihres Spielkleids, heiß geliebt und schon mehrfach geflickt, seit dem Frühstück außerdem mit Spuren von Ei und Kakao versehen. Sofort versteifte sich das Kind. Der stockende Atem verriet, dass sich der nächste Schreianfall zusammenbraute. Neben wenigen anderen Lauten war das die einzige Äußerung, die Christian und Henny je von ihrer Tochter zu hören bekamen, auch mit eineinhalb Jahren noch.

»Schon gut«, murmelte Christian und streichelte ihr besänftigend über die Schulter. »Ist ja gut, meine Kleine.«

Sein Leben lang war Ungeduld seine größte Schwäche gewesen. Jetzt lehrte Marie ihn jeden Tag, sich alle Zeit der Welt zu nehmen.

Mit der Fingerspitze wischte er eine Speichelspur von ihrem Kinn. Das kaum sichtbare Lächeln, das dabei in ihrem Mundwinkel zitterte, löste ein halb schmerzliches, halb seliges Ziehen in seiner Brust aus.

Es war ein solcher Schock gewesen, vor fast genau zwei Jahren. Aus Indien mit dem Entschluss heimgekehrt, sich von Henny zu trennen, hatten nur wenige Augenblicke gereicht, um nichts von seinen Träumen und Hoffnungen und Plänen übrig zu lassen. Als er mit bangem Mut zur Tür hereingekommen war und Henny im Bett vorfand, aufgedunsen und schwerfällig, hatte sie zu weinen begonnen. Vor Erleichterung, dass er heil zurück war und sie endlich nicht mehr allein mit der Angst um das Kind in ihrem Bauch, das es ihr so schwer gemacht hatte, das ganze halbe Jahr lang, mit Übelkeit und Schwindel, Schmerzen und Blutungen.

Eine Nacht im Ehebett, Monate her und Christian kaum im Gedächtnis geblieben, hatte sein Schicksal besiegelt.

Wie ein Schlafwandler war er durch jene Tage und Wochen getaumelt. Mit seiner Schwiegermutter Mathilde Pohl hatte er sich um Henny und seine erste Tochter Jette gekümmert, die ganz verstört war, und mit Thilo um den Vater, der sich zwischen der Sorge um Henny und dem Gemischtwarenladen buchstäblich aufgerieben hatte, bis der Stumpf über seinem Holzbein blutete und eiterte und einen Eingriff des Arztes nötig machte.

Christian konnte nur raten, ob seine Miene damals genauso zu Stein erstarrt war wie die Katyas. Ob in seinen Augen dieselbe Traurigkeit zu lesen gewesen war, die Ahnung einer Endgültigkeit. Er jedenfalls war erleichtert, als mit dem Winter die Zeit für Katya gekommen war, nach Norwegen aufzubrechen, ins Eis.

»Marie, schau mal«, versuchte er erneut, die Aufmerksamkeit seiner kleinen Tochter zu wecken. »Das da hat Tante Katya für dich genäht. Tante Katya. Für dich. Für Marie.«

Marie blinzelte nicht einmal, als er ihr die winzige norwegische Tracht hinhielt. Auch auf Katyas Namen reagierte sie nicht, obwohl sie doch sehr an ihr hing. Soweit man das bei Marie einschätzen konnte.

Machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst , hatte die Hebamme gesagt, als sie ihm das kleine Bündel übergeben hatte.

Sie hatte beide gemeint, Mutter und Neugeborenes.

Wie mit Zähnen und Klauen hatte sich dieses Kind dagegen gewehrt, von den Wehen aus dem Mutterleib herausgetrieben zu werden, obwohl es nie den Anschein gehabt hatte, dass es sich darin besonders wohlfühlte. Manchmal war es Christian so vorgekommen, als wollte sein ungeborenes Kind ebenso wenig hier sein wie er selbst. Vielleicht hatte es immer schon gewusst, was für eine Angst ihm diese Welt machen würde, mit ihrem grellen Licht, dem Lärm, den vielen Menschen und der ständigen Unruhe. Sie war noch nicht bereit dafür gewesen, einige Wochen zu früh gekommen.

Umso verbissener hatte sie sich in die Eingeweide ihrer Mutter gekrallt und daraus ein Schlachtfeld gemacht.

Arzt und Hebamme hatten Henny wieder zusammengenäht und Blutungen gestillt und das Fieber in Schach gehalten. Schließlich hatte Mathilde Pohl Jette zu sich nach Hause genommen, kam aber täglich vom Brook herüber, um Henny in ihrem Wochenbett zu versorgen, und Christian hatte mit dem Neugeborenen dagestanden. Allein.

Jede Kinderfrau, die er holte, hatte nur einen kurzen Blick auf das Kind geworfen und den Kopf geschüttelt. Keine hatte es riskieren wollen, dass dieser schrumpelige Winzling mit den spindeldürren Ärmchen und Beinchen, der Kopf nur apfelgroß, unter ihren Händen wegstarb und man ihr die Schuld dafür gab.

Halten Sie es warm , hatte eine ihm geraten und ihm mitfühlend viel Glück gewünscht.

Während das Feuer zum Schutz gegen die Januarkälte Tag und Nacht hoch aufloderte, hatte Christian schwitzend vor Hitze und Angst seine Tochter umhergetragen, die nicht aufhören wollte, gellend zu schreien, als ob man ihr die von nässendem Ausschlag übersäte Haut in Streifen abzog. Zwischen erbrochener Milch und durchfallbesudelten Windeln hatte er Marie in sein geöffnetes Hemd geschoben, damit sie an seiner bloßen Brust zu liegen kam, während er sich mit wattigem Kopf abmühte, Geschäftsbriefe zu schreiben und Werbeanzeigen zu entwerfen. Immer in der Angst, er könnte dabei einnicken und das Kind fallen lassen. Ihm in einer unbedachten Bewegung den dünnen Hals abknicken, die filigranen Rippen brechen oder einfach feststellen, dass es nicht mehr atmete.

Die Erschöpfung, die sich allzu bald bei ihm und Marie breitmachte, hatte nichts Friedliches gehabt. Ein fortdauernder Krieg war es gewesen, in dem seine kleine Tochter ihn erbittert anklagte, überhaupt auf der Welt sein zu müssen, und er genauso hartnäckig darum rang, dass sie am Leben blieb, mit wachsender Hilflosigkeit und schwindender Hoffnung.

Wie ein frischer Windhauch war dann Katya über die Schwelle geweht. Christian hatte nie herausgefunden, ob es Thilo gewesen war, der ihr nach Norwegen geschrieben hatte, oder sein Vater, oder ob eine dunkle Ahnung sie vorzeitig hergetrieben hatte. Kühl und klar hatte sie das Heft in die Hand genommen, die Wohnung gelüftet und geputzt und kräftigende Suppe gekocht, und als er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, hatte sie ihm Marie abgenommen. Nicht mit dem verzückten Girren, das Frauen beim Anblick eines Babys von sich gaben, sondern mit dem dunklen Murmeln des Russischen. Eine strenge Falte zwischen den Brauen, hatte sie das kreischende Kind auf dem Tisch vor sich gemustert, während sie sich daran zu erinnern versuchte, wie die Frauen in Russland ihre Kinder stramm in ein Tuch banden.

Die Stille danach war ohrenbetäubend gewesen. Maries schlafschwerer Atem, ihr zufriedenes Schmatzen und Nuckeln eine solche Erlösung, dass Christian hätte weinen mögen, wäre er nicht zu müde gewesen.

Wann immer er auf dem Sofa aus bleiernem Schlaf hochgeschreckt war, mit einem bösen Gefühl, einem Anflug von Panik, rollte grenzenlose Erleichterung über ihn hinweg, sobald er Marie wohlbehalten in Katyas Armen entdeckte. Ein Buch auf den Knien, wiegte sie die Kleine im Schaukelstuhl in den Schlaf oder gab ihr die Flasche mit Ziegenmilch, die Marie wesentlich besser vertrug als die einer Kuh. Sobald Katyas Blick auf seinen traf, hatten sich ihre Augen aufgehellt, und ein Lächeln hatte sich zwischen ihnen entfaltet.

Christian war fast sicher, dass sie es genauso empfunden hatte wie er. Ein Mann. Eine Frau. Ihr Kind. Und dazwischen unendlich viel Liebe.

Bis ihnen einfiel, dass es nicht Katya gewesen war, die Christians Tochter zur Welt gebracht hatte, und einer von beiden aufstand, um nach Henny zu sehen.

Sachte schob Henny die Tür zum Kinderzimmer auf. Sie waren es gewohnt, sich auf Zehenspitzen zu bewegen, die Stimmen zu dämpfen, wegen Marie. Nur Jette, inzwischen schon ein Schulmädchen, tat sich oft schwer damit, die großen Räume der Wohnung luden einfach zu sehr zum Toben ein.

Eigens für die Kinder waren sie auf die schmale Landzunge umgezogen, die sich zwischen Bleichen- und Alsterfleet erstreckte. In eines der noblen Wohnhäuser, wo die hohen Fenster freundliches Licht hereinließen und viel frische Luft, so hoch oben, dass kaum je die Geräusche von der Straße störten. Zwischen den Gesetzeshütern im Stadthaus und den vornehmen Gasthäusern König von Preußen und König von England , in die sie manchmal sonntags Vater und Mutter Pohl zum Essen ausführten, wusste Henny ihre Familie gut aufgehoben.

Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Selbst ein Herz aus Eis schmolz dahin, sah man Christian mit Marie zusammen. Liebevoll und mit unerschöpflicher Geduld versuchte er, das Mädchen aus seinem Dämmerzustand zu holen, jeden seiner noch so kleinen Fortschritte feiernd wie einen Meilenstein. Stolz schob er seine kleine Tochter in dem Kinderwagen, den er aus London mitgebracht hatte, und genoss sichtlich die hingerissenen Blicke der Passanten entlang der Alster.

Jette war ein hübsches Kind, ein richtiger Sonnenschein, aber Marie glich ganz und gar einem kleinen Engel, feingliedrig und mit zarten Zügen, die Locken wie gesponnenes Gold. Vielleicht von der Natur als Ausgleich gemeint, machte es nur augenfälliger, was mit ihr nicht stimmte.

Zurückgeblieben, lautete das Urteil sämtlicher Ärzte, zu denen sie mit dem Kind gepilgert waren, sogar bis nach London. Nicht ungewöhnlich bei einer Frühgeburt, aber irreparabel.

Seien Sie froh, dass sie sonst gesund ist , hatte man ihnen am Ende immer mit auf den Weg gegeben.

Christian hob den Kopf, und sein Blick wurde weich.

»Wunderschön siehst du aus.«

Henny errötete und strich verlegen über das Kleid, das sie sich für den Tag hatte schneidern lassen. Nach Maries Geburt und dem anschließenden Fieber waren von ihr nichts als Knochen und lose Hautfalten übrig geblieben. Nur mit Mühe hatten ihre Mutter und Katya sie wieder aufgepäppelt. Seitdem hatte Henny jedoch beständig an Gewicht zugelegt, auch wenn sie noch oft auf ihren geliebten Schnopkram verzichtete und Haushalt und Kinder sie auf Trab hielten.

Ein hellblaues Kleid war es, das sie trug, genau wie ihr eigenes Hochzeitskleid vor sieben Jahren.

Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Henny.« Christian stand vom Boden auf. »Was ist denn?«

»Nichts. Es ist nur … Ich muss schon den ganzen Morgen an unsere eigene Hochzeit denken. Wie glücklich wir da waren.«

Während sie sich angekleidet und frisiert hatte, war ihr ein Märchen ihrer Kindheit in den Sinn gekommen, das mahnte, gut abzuwägen, was man sich wünschte.

Sie hatte das feine Zuhause bekommen, von dem sie immer geträumt hatte, sogar ein Kindermädchen für Jette und eine Reinemachefrau konnten sie sich leisten. Und nichts, nichts hatte sie sich jemals sehnlicher gewünscht als noch ein Kind.

Der Preis dafür war entsetzlich hoch gewesen.

Oft dachte sie an die ersten Jahre als junge Ehefrau zurück. Sie hätte sich damit zufriedengeben sollen, im Gemischtwarenladen Mehl und Erbsen für die Kundschaft abzuwiegen und in der Wohnung darüber mit Jette und Christian und ihrem Schwiegervater ein gutes Leben zu führen. Womöglich war es eine Sünde gewesen, mehr zu begehren.

Christian zog sie in seine Arme.

»Wir sind doch glücklich«, flüsterte er in ihr blondlockiges, zu komplizierten Schleifen aufgestecktes Haar. »Nur anders als früher.«

Sich an Christians sehnige Schlankheit zu schmiegen, in die Wärme und den Duft seiner Haut, entzündete wieder den Funken, aus dem ihre Ehe entstanden war. Wie bei den allerersten Küssen, mit denen sie ihn überfallen hatte, an jenem Nachmittag auf dem Pohlschen Kanapee.

»Henny.«

Christian lachte leise auf und küsste sie auf die Schläfe; erst als er sich ihr behutsam entwand, bemerkte sie selbst, wie fest sie ihn umschlungen hatte. Wie gierig.

Traurigkeit wusch über sie hinweg, während sie zusah, wie Christian sich wieder auf dem Boden niederließ, um Marie doch noch dazu zu bewegen, sich ihr Spielkleid ausziehen zu lassen. Dieses Kind, das sie von innen her beinahe zerrissen hatte, war ihr fremd geblieben. Vielleicht durch seine Eigenarten, vielleicht, weil sie die erste Zeit mit ihm verpasst hatte.

Noch ein Kind würden sie nicht bekommen können. Erneut füllten sich Hennys Augen mit Tränen.

Zu schwer lasteten die düsteren Schatten auf dem Ehebett, die der Arzt ihr ausgemalt hatte, sollte Henny gegen jede Wahrscheinlichkeit noch einmal ein Kind empfangen. Mit dem Umzug an den Neuen Wall hatte jeder sein eigenes Schlafzimmer bezogen.

In Hennys Gesicht, immer schon eher drollig als wirklich hübsch, hatte sich eine Schwere breitgemacht, vor allem unter dem Kinn und um die Augen herum. Matronenhaft, mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren. Auch an Christian waren diese zwei Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Jetzt, da er sich den dreißig näherte, hatten sich seine scharfen Züge noch einmal stärker herausgeprägt. Hager beinahe, doch auf eine schneidige Art, die Frauen unverändert attraktiv fanden, besonders, wenn seine blitzblauen Augen manchmal wie verloren in die Ferne blickten. Das bemerkte Henny sehr wohl.

Sicher gab es nicht viele Männer, die auf Dauer der Verlockung widerstanden, sich anderswo das zu holen, was sie zu Hause nicht mehr bekamen. Sich am Ende sogar scheiden ließen, weil die Frau ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte und ihnen keines mehr schenken konnte, und Henny war unendlich dankbar dafür, dass ihr Christian keiner von dieser Sorte war.

Sankt Nikolai mahnte eine weitere halbe Stunde an.

Henny riss sich zusammen, atmete tief durch. »Wir werden zu spät kommen. Sofern wir es überhaupt noch schaffen.«

Seit Kathi Mommsen und Betty Haferkamp merklich von ihr abgerückt waren, als wäre Maries Zustand eine ansteckende Seuche, die auch ihre Kinderschar befallen könnte, fühlte sie sich oft einsam. Doch sosehr sie sich danach sehnte, wieder unter Leute zu kommen, fürchtete sie auch deren Blicke auf Marie. Die sicher gut gemeinten, aber manchmal verletzenden Fragen und Bemerkungen, die ungebetenen und vollkommen nutzlosen Ratschläge.

»Dann bleiben wir eben hier«, lautete Christians ungerührte Antwort.

»Wir können nicht bei der Hochzeit deines Bruders fehlen.«

Katya gegenüber hatte Henny sich immer befangen gefühlt. Wie eine schnatternde und plumpe Gans, verglichen mit Katyas leiser Zurückhaltung, ihrer fast schon exotischen russischen Eleganz, die alles zu durchdringen schien, was sie in die Hand nahm. Dabei wusste Henny, dass Katya und Grischa als Kinder unvorstellbar arm gewesen waren, Katya in ihrem Haushalt genauso tüchtig wirtschaftete wie Henny in ihrem. Und zimperlich konnte sie ja nicht sein, wenn sie jeden Winter mit den Männern ins Eis fuhr. Christian hatte ihr erzählt, wie rau es dort zuging, wie hart sie schuften mussten. Trotzdem war es Henny nie gelungen, eine solche Nähe zu Katya entstehen zu lassen, wie sie es von Betty und Kathi gekannt hatte. Von Frieda und ihren anderen Freundinnen, früher.

Aber Katya war da gewesen, wann immer Henny aus dem Sumpf ihres Fiebers auftauchte, mit Tee und Suppe. Mit einem feuchten Tuch, um ihr den sauren Schweiß abzuwaschen, selbst von einer wohltuenden Kühle.

Seither hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Bei dem Gedanken, dass Katya nun wirklich zu einer Art Schwester würde, wurde es Henny warm ums Herz; alles andere würde vielleicht folgen.

Die fliegenden Schritte kleiner Lackschuhe näherten sich und machen abrupt halt.

»Wir gehen nicht zur Hochzeit?«

Blankes Entsetzen zeichnete sich auf dem Gesicht von Jette ab. Wildblumen zierten ihre zum ersten Mal hochgesteckten Blondzöpfe. Seit Wochen hatte sie diesem Tag entgegengefiebert, von nichts anderem geredet und jeden Abend die kleine Tracht gestreichelt, die Katya ihr genäht hatte.

»Dann geh du mit Jette«, schlug Henny ihrem Mann vor. »Und ich bleibe mit Marie hier.«

Christian schwieg.

Diese Feier hätte er sich gern erspart. Obwohl es nichts daran ändern würde, dass Katya die Frau seines Bruders wurde. Dass sie künftig das Bett mit ihm teilen würde, während er seinem Sehnen unter der Zudecke nachgeben musste wie ein Halbwüchsiger.

»Alles wegen Marie!«, rief Jette übermäßig heftig aus und stampfte mit dem Fuß auf.

Im Sitzen begann Marie vor und zurück zu wippen, ein Summen in der Kehle und die Finger flatternd wie Schmetterlingsflügel.

Ein Warnsignal.

Beruhigend rieb Christian ihr über den Rücken und streckte die andere Hand nach Jette aus, die nur widerstrebend auf ihn zutrat.

»Du weißt doch, Marie macht das nicht mit Absicht«, erklärte er. »Sie kann nicht anders.«

Jette warf einen finsteren Blick auf ihre kleine Schwester, die sie nicht nur vom Platz des Kükens verdrängt hatte, sondern dazu noch den Löwenanteil an Zeit und Zuwendung ihrer Eltern verschlang. Mit der sie nicht spielen und auch sonst nichts anfangen konnte.

»Können wir uns nicht ein anderes Baby holen?«, flüsterte sie hoffnungsvoll.

Christian verbiss sich ein Schmunzeln, und gleichzeitig versetzte es ihm einen Stich.

»Nein, Jette. Marie gehört genauso zu uns wie du.«

Jette kaute auf ihrer Unterlippe, während sie angestrengt nachdachte. Dann erhellte sich ihre Miene.

»Wenn ich geduldiger bin mit Marie, bekomme ich dann eine Katze?«

Ihr sehnlichster Herzenswunsch, bislang immer konsequent ausgeschlagen. Christian hob die Augen zu Henny, die auffordernd mit den Brauen zuckte, um ihm zu bedeuten, dass er der Mann im Haus war, er entschied.

»Lass uns morgen darüber reden, ja?«

Mit einem Jubellaut schlang Jette die Arme um ihn; sie kannte ihren Vater.

Christian drückte sie an sich und sog ihren Duft nach Sonnenlicht und Honig ein. Er wusste, dass er strenger mit ihr sein sollte, er brachte es nur nicht fertig. Jette musste viel zu oft zurückstecken und hätte noch dazu beinahe ihre Mutter verloren. Nachdem er seine ältere Tochter in ihren ersten Lebensjahren wie aus der Ferne erlebt hatte und ein paar Monate lang nur als Besucherin an Hennys Krankenbett, genoss er das enge Band umso mehr, das seitdem zwischen ihnen gewachsen war.

Christians und Hennys Blicke verschränkten sich in einem Lächeln.

Das war alles, was zählte. Jette. Marie. Und Henny.

Es war furchtbar gewesen, sie in den Wehen so leiden zu sehen. Wie sie sich Hilfe suchend an ihn geklammert hatte, Todesangst in den Augen, weil sie deutlich spürte, dass es dieses Mal nicht nur wieder eine schwere Geburt würde, sondern etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Jahre später hatte er wirklich begriffen, warum Grischa damals der Meinung gewesen war, Katya sei zu jung für ihn. Am Ende waren es tatsächlich die Frauen, die den Preis für Lust und Leidenschaft zahlten. Das nahm man nicht auf die leichte Schulter, bei aller Verliebtheit nicht.

Bis dass der Tod uns scheide, würden Thilo und Katya in weniger als einer Stunde einander feierlich geloben.

Christian schämte sich bis ins Mark für den Gedanken, was gewesen wäre, hätte Henny diese Geburt nicht überlebt. Dafür, dass er überhaupt eine Scheidung in Erwägung gezogen hatte. Maries Einschränkungen und Hemmnisse waren die Strafe dafür, so kam es ihm manchmal vor. Aber auch eine Chance, alles wiedergutzumachen. Seine Buße, jeden Tag aufs Neue.

Henny war nicht nur die Mutter seiner Töchter, sondern auch ein liebenswerter Mensch. Sie verdiente das beste Leben, das er ihr bieten konnte, ihr und den beiden Mädchen.

»Ta«, hauchte Marie und tastete über die Blütenstickerei der Tracht.

Sie mochte Blumen und tat nichts lieber, als sie mit ihren zierlichen Fingern in ihre Bestandteile zu zerrupfen.

»Ja, Katya hat das gemacht. Für dich, Marie. Fühl mal.«

Einen Arm noch um Jette gelegt, fuhr Christian mit der Trachtenbluse über Maries Wange. Katya hatte darauf geachtet, schmeichelnde Stoffe zu verwenden, weil das Kind nichts auf der Haut vertrug, was nicht seidenweich war.

»Was meinst du, Marie? Machen wir uns fein und gehen zu Tante Katyas Hochzeit?«

Maries zart getuschte Brauen zogen sich gequält zusammen. Wie in einem inneren Kampf, in dem sie wieder und wieder gegen ihre eigenen Mauern anrannte.

Schließlich hob sie ungelenk einen Arm. Ihr Zeichen, dass sie sich dazu überwand, ihr vertrautes Spielkleid gegen etwas Neues, Unbekanntes zu tauschen.

Es waren Momente wie dieser, die sie aufatmen ließen. Die Hoffnung gaben, dass eines Tages die Schale aufbrechen würde, mit der Marie sich vor dieser beängstigenden Welt zu schützen versuchte.

Ihr Muschelkind.

Die Morgenstoppeln rings um den Bart abgeschoren und in seinem besten Anzug, stieg Grischa das Treppenhaus am Kehrwieder hinauf. Großzügiger war es als früher, heller und freundlicher, die Stufen neu und begleitet von einem schön geschnitzten Handlauf.

Das Haus glich in nichts mehr demjenigen, in dem er damals als Achtzehnjähriger seine erste eigene Bleibe gefunden hatte. Über Monate hinweg war es gründlich saniert und renoviert worden, von den vier Eisbaronen zu gleichen Teilen finanziert. Eine Investition, die langfristig über die entsprechend angepassten Mieten wieder hereinkommen sollte.

Nur die Aussicht war noch dieselbe, zum Wasser hin auf die Silhouette Hamburgs mit den Türmen von Sankt Michaelis und Sankt Nikolai und Sankt Katharinen, auf der anderen Seite in die finsteren und verwinkelten Gänge der Hinterhäuser. Auch die Klangkulisse aus dem glucksenden Wasser des Binnenhafens, den Rufen der Schiffer und dem Kreischen der Möwen war geblieben, ebenso die Katzen, die den Speicher gegen Mäuse und Ratten verteidigten.

Vor der Wohnung im obersten Stockwerk machte Grischa halt. Einige Jahre hatten sie zu dritt hier gelebt, Katya in einem, Thilo und er im anderen Zimmer. Die längste Zeit davon als Paar. Mehr oder weniger.

Kurz nach der Rückkehr von ihrer ersten Fahrt nach Indien war Grischa ausgezogen. Erst in ein Gasthaus, dann zur Untermiete in ein möbliertes Zimmer, seit ein paar Monaten in eine kleine Wohnung mit Blick auf die Schiffe im Hafen. Spärlich eingerichtet, nutzte er sie nur, um dort zu baden und sich umzuziehen, für ein paar Stunden Schlaf. Ein Liegeplatz auf einem Trockendock, während er weiter durch das Leben kreuzte, ohne Kompass und Karte, ohne festes Ziel.

Grischa legte die Hand an die Wohnungstür. Auch sie war neu, die Räume dahinter andere, nach mehreren Mauerdurchbrüchen mit der Nachbarwohnung verschmolzen. Fast schon ein Haus für sich, wie geschaffen für eine große Familie.

Thilo hatte so sehr um ihn gekämpft, bis zuletzt. Auch als es schon aussichtlos gewesen war. Was blieb, war eine tiefe Narbe quer über Grischas Herz. Noch peinvoller durch ein Gefühl des Versagens, an dem er nichts ändern konnte. Seine Entscheidung ließ sich nicht rückgängig machen, selbst wenn er es gewollt hätte. Er konnte Thilo nicht das geben, was dieser sich am meisten ersehnte, am meisten brauchte. Beständigkeit. Treue. Ein Heim. Kinder.

Katya konnte, und Katya wollte, und Katya sollte alles haben, was sie begehrte. Das Beste war gerade gut genug für seine Schwester, daran hatte sich nichts geändert.

Grischa atmete tief durch und klopfte an.

Staunend betrachtete er seine Schwester, die ihm in der Tür gegenüberstand. In einer Tracht, die ihre eigenen Farben wiederholte, Schwarz, Weiß, Blau, einzelne Wildblumen in ihrem zu einem schlichten Knoten geschlungenen Haar.

»Schau dich nur an«, entfuhr es ihm zärtlich.

Als hätte er eben erst begriffen, dass sie nun wirklich und wahrhaftig kein Mädchen mehr war.

Stumm und ein bisschen verlegen lächelten sie einander an, Bruder und Schwester, beide hochgewachsen, sie eine schlanke Birke, er mit seinen dunklen Farben eine mächtige Eiche. Dieser Tag markierte eine Wasserscheide auf ihrem gemeinsamen Weg, das wussten sie beide.

»Katyuscha.«

Grischa nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. Wie er seine Schwester das allererste Mal gehalten hatte, als sie noch keine Stunde alt gewesen war und er ein kleiner Junge. Aufgewühlt und ergriffen von diesem Wunder in seinen Händen und zugleich vom Schock eines unermesslichen Verlusts. Sein Trost an jenem Tag aus Eis und Schnee, an dem er seine Mutter verloren hatte.

»Was auch immer zwischen Thilo und mir gewesen ist … Ich weiß, er liebt dich. Er wird der beste Ehemann und Vater sein, den du finden konntest.«

Katya nickte und umschlang ihren Bruder fest, um ihm all das zu sagen, wofür Worte nicht ausreichten. Dann machten sie sich Hand in Hand auf den Weg, über die Brooksbrücke hinüber nach Sankt Katharinen, ihr Backsteinbug leuchtend wie Kupfer in der Herbstsonne.

Vor dem Portal stand Arno Petersen bereit. Hünenhaft wie sein älterer Sohn, stützte er sich auf den Gehstock, der fast kahle Kopf spiegelnd im Licht und das Gesicht gerötet vor aufgeregtem Vaterstolz. Die Anzughose verbarg sein Holzbein, neu wie manche der Balken in seinem Gemischtwarenladen.

Ein Vermögen hat das gekostet , erzählte er gern jedem, der es hören wollte, und klopfte kräftig mit der Faust dagegen. Ein Vermögen. Das Beste, was es zu kaufen gibt. Haben meine Kinder mir bezahlt, mit dem Geld, das sie in Indien gemacht haben.

Meine Kinder.

Für Arno Petersen ging an diesem Tag ein Herzenswunsch in Erfüllung. Das war ihm anzusehen, während seine wasserblauen Augen blinzelten und es um seinen Mund zuckte, weil er nicht die passenden Worte fand. Katya drückte ihm die Hand, um ihm zu sagen, dass sie ihn auch so verstand, und hakte sich bei ihm unter.

Über die Blüten, die Jette gleichermaßen strahlend wie ernsthaft vor ihnen ausstreute, und begleitet von den Wellenklängen der Orgel, schritt Katya an Arnos Arm durch die kleine Kirche. Auf Thilo zu, der im Regenbogenlicht der Glasfenster auf sie wartete.

Загрузка...