8

Als Rhapsody in den Tunnel kroch, fühlte sie sich überhaupt nicht an ihren Weg entlang der Wurzel erinnert. Im Gegensatz zur feuchten Dunkelheit der Sagia, deren Umhüllung ungleichmäßig hoch und voller faseriger, haarähnlicher kleinerer Wurzeln gewesen war, hatte man den Tunnel sorgfältig und gleichmäßig geziegelt, sodass er eher einem Aquädukt in Canrif glich einem Teil des großartigen Belüftungs- und Bewässerungssystems, das Gwylliam entworfen und in den Berg gebaut hatte. Außerdem brannte die warme und stetige Flamme der Tagessternfanfare über dem schlammigen Wasser, durch das sie watete, und erleuchtete die Tunnelwände wie der helle Tag.

Sie verdrängte alle Gedanken an Eingeschlossensein und Tiefe und konzentrierte sich stattdessen auf das ätherische Licht unter den Flammen des Schwertes. Sie starrte so gebannt auf die Waffe und war so sehr damit beschäftigt, ihre Panik im Zaum zu halten, dass sie kaum die beiden glitzernden Augen in der fernen Dunkelheit vor ihr wahrnahm.

Sobald Rhapsody sie bemerkte, blieb sie stehen. Die Flammen des Schwertes, die durch ihren Pakt mit dem Elementarfeuer eng an sie gebunden waren, schössen zusammen mit ihrer Erregung auf.

Ein Kreischen der Angst und Qual hallte durch die Katakombe, als das Sklavenkind, das vom Graben und Leben in der endlosen Dunkelheit blind geworden war, die Augen bedeckte und schluchzend davonhuschte.

Rasch steckte Rhapsody das Schwert in die Scheide und löschte so das Licht. Sie verspürte Gewissensbisse, weil sie nicht daran gedacht hatte, welchen Schrecken ein Leuchten denen bereiten mochte, die an diesem Ort der unendlichen Nacht lebten.

»Alles in Ordnung«, rief sie sanft in den Tunnel hinein. »Alles in Ordnung. Es tut mir Leid.«

Nur Schweigen und der Klang tröpfelnden Wassers antworteten ihr.

Nun selbst blind, ertastete sie sich den Weg über den geziegelten Boden und bemerkte erst jetzt die Ratten, die am Rand des Tunnels entlang liefen, die Schlangen, die sich in den tiefsten Stellen des Rinnsals wanden, und die Würmer. Da das Licht erloschen war, kehrte das Ungeziefer zurück.

Die glatte Haut einer Schlange, die ihr über die Hand schoss, erinnerte sie an die schneckenähnlichen, Fleisch fressenden Larven, welche die Wurzel der Sagia heimsuchten, und ließ sie heftig schaudern. Rhapsody schluckte, kroch weiter vorwärts und versuchte in der vollkommenen Schwärze etwas zu erkennen. Vor sich hatte sie raschelnde Bewegungen gehört. Vielleicht waren es nicht nur große Ratten, sondern etwas, das größer als Ratten war. Ihr inneres Band mit dem Schwert, das nun in seiner Scheide aus schwarzem Elfenbein steckte, schien fern und verführerisch. Schwarzes Elfenbein war ein undurchdringliches Material, das keine Schwingungen durchließ und verhinderte, dass alles, was sich innerhalb einer solchen Hülle befand, entdeckt wurde.

Das war ein großer Schutz für die Iliachenva’ar. Der Nachteil bestand jedoch darin, dass die Macht des Schwertes sie nicht erreichte und sich seine Kraft nicht mit der ihren verband, wie es der Fall war, wenn die Tagessternfanfare ungeschützt in ihrer Hand lag.

Vorsichtig tastete Rhapsody sich durch das schlammige Wasser vor ihr und erschauerte abermals, dann zwang sie sich weiter vorwärts. Die Wände des geziegelten Tunnels waren näher, als es im Licht den Anschein gehabt hatte. Sie hörte ihre eigene Stimme, wie sie in dem feuchten Tunnel entlang der Wurzel dem riesenhaften Sergeant-Major, der damals noch ein Fremder für sie gewesen und heute einer ihrer liebsten Freunde war, gegenüber gestanden hatte:

Ich bin Lirin. Und unsereins tut sich schwer unter Tage.

Das seh ich.

Ihr stülpte sich der Magen um. Sie bekämpfte den Brechreiz, während sich die Welt um sie herum drehte.

Wie hat es sich für dich angefühlt!, hatte Elynsynos, die alte Drachin, mit ihrer vieltönigen Stimme gefragt. Hast du als Lirin dich dort, in der Erde, abgeschnitten vom Himmel, wohlgefühlt?

Ihre Antwort war jetzt wie damals nur ein Flüstern.

Es war wie ein Tod bei lebendigem Leibe.

Ihre Arme zitterten. Da sie auf Händen und Knien balancierte, erbebten die Ellbogen unter dem Druck und krümmten sich für einen Augenblick. Sie zuckte nach vorn, fiel mit dem Gesicht voran in das stinkende Wasser und schlug mit dem Kinn auf den nassen Tunnelboden. Rasch richtete sie sich wieder auf. Sie wollte nach Achmed rufen, wie sie es getan hatte, als das Schwert den Tunnel erhellt hatte, nur damit sie seine Stimme hörte, doch sie erkannte gleich darauf, dass sie nicht in Panik geraten und nach Hilfe rufen durfte. Die Sklavenkinder, die irgendwo vor ihr in dem dunklen Tunnel hockten, waren nun still und hatten vermutlich vor Rhapsody genauso viel Angst wie sie vor der Katakombe, den Schlangen und den Ratten. Doch wenn sie auch nur ein Anzeichen von Schwäche zeigte, könnten sie die Gelegenheit ergreifen und sie im Verbund angreifen, denn auf diesem heimatlichen Grund, in diesem dunklen Land, das ihre Wohnstatt war, hatten sie einen klaren Vorteil. Rhapsody zweifelte nicht daran, dass sie hart, grausam und von dem schrecklichen Leben, das sie führen mussten, gestählt waren.

Sie könnten Rhapsody in Stücke reißen.

Ihr Herz raste. Sie dachte verzweifelt an Grunthor und seine Verbindung zu Erde und empfand den widersinnigen Wunsch, er wäre hier. Kind der Erde, hatte Manwyns Prophezeiung ihn genannt.

Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf, spät treten

sie in Erscheinung,

Die Lebensalter des Menschen:

Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels.

Wenn ihre Vermutung sich als richtig herausstellen sollte und sie, Achmed und Grunthor die drei Personen aus der Weissagung waren, dann war sie das Kind des Himmels ein Ausdruck, mit dem sich die Lirin selbst zu beschreiben pflegten. Es ist falsch; es ist falsch, dass ich hier bin, dachte sie benommen und kämpfte gegen die wachsende Übelkeit an. Sie sollte an der frischen Luft sein, unter den Sternen und ihre Morgen und Abendlieder in den Himmel singen.

Tod lag in der Luft; sie spürte, wie er sie schmutzig und dick umgab. War ein Kind an diesem Ort gestorben, oder vielleicht viele, die der mörderischen Arbeit, den schrecklichen Bedingungen oder dem Luftmangel unterlegen waren? Sie spürte, dass die Kinder nun näher waren. Hatten sie genug Mut gesammelt, um Rhapsody anzugreifen?

Feigling, dachte sie, als ihr Zittern stärker wurde. Du bist die Iliachenva’ar, die das Licht in die Dunkelheit trägt. Und du willst dich wie ein Kind im Mutterleib zusammenrollen. Mama, meine Täume jagen mich. Komm in mein Bett und bring Licht mit.

Die Worte der Liringlas-Aubade, des morgendlichen Liebesliedes an den Himmel, drängten sich wie von selbst auf ihre Lippen. Zitternd stimmte sie das Lied an und sang leise die Worte, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte Worte, die sie so oft zusammen mit ihrer Lehrerin Oelendra gesungen hatte; Worte, die an einem Platz in ihrer Seele geboren worden waren, der so alt war wie die Zeit selbst.

An diesem tiefen Platz spürte sie ein Flackern von Wärme und ein Pulsieren von Licht, als ob sie mit ihren Sinnen das Band berührt hätte, das sie an das Schwert geschmiedet hatte. Der Gedanke verlieh ihr Mut, und sie sang mit etwas festerer Stimme und so laut, dass sie hörte, wie die Töne von den schwarzen Tunnelwänden vor ihr widerhallten.

Einen Moment später vernahm sie ein anderes Echo, leiser als das erste und von einer anderen Stimme einer Stimme, die ihr vertraut war, die sie aber nicht erkannte. Einer hohen und verängstigten Stimme.

Einer Kinder stimme.

Mimen?

Dieses Wort klang ihr in den Ohren; es war zögerlich auf Alt-Lirin gesprochen worden, der Sprache der Liringlas, dem Volk ihrer Mutter. Seine Bedeutung war unmissverständlich.

Mama?

Rhapsody hob den Kopf. Im Tunnel vor ihr erkannte sie schemenhaft einen Kopf, Schultern dürr schienen sie zu sein und hager. Oder vielleicht war es nur ihre Einbildung; die Dunkelheit war so vollkommen, dass ihre Augen keinen Haltepunkt fanden. Sie spürte, wie sie die Luft heftig ausstieß. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie den Atem angehalten hatte.

»Nein«, sagte sie leise. »Hamimen.« Großmutter.

»Hamimen?«

»Ja«, antwortete sie noch immer in der alten Sprache der Liringlas, nun aber lauter und etwas deutlicher. »Wie lautet dein Name, mein Kind?«

»Arie.« Der Umriss des Kopfes schwankte in der Dunkelheit.

»Soll ich Licht bringen, Arie? Diesmal schwächer?«

Ein schlurfendes Geräusch der Kopf zog sich zurück.

»Nein! Nein!«

Hinter ihm, vorn im Tunnel eine raschelnde Bewegung.

»Arie, warte. Ich bin gekommen, um dich aus der Dunkelheit zu führen euch alle.«

Schweigen.

Verzweiflung verkrallte sich in ihrer Kehle. »Arie?«

Es gab keine Antwort.

Rhapsody glitt mit der Hand über den Schwertgriff. Sie umfasste ihn und zog die Klinge ein Stück weit aus der Scheide. Rhapsody atmete langsam aus und versuchte sich zu beruhigen. Als sie ihre Gelassenheit wieder fand, brannte das Schwert gleichmäßig; ein leises Flackern strömte aus der Scheide.

Die Nachtmahre des Tunnels wichen zurück und tauchten den geziegelten Aquädukt in ein schwächeres Licht als zuvor. Am Rande des Glimmens zweigten vor ihr zwei kleinere Tunnel ab zweifellos das Gebiet, in dem nach Achmeds Angaben die Kinder schliefen. Sie bewegte sich langsam vorwärts, hielt das Schwert neben sich und spähte in die abzweigenden Tunnel. Sie endeten in Nischen, in denen dreckige Stofffetzen, die vielleicht einmal als Laken Verwendung gefunden hatten, in dem schmutzigen Wasser schwammen. Rhapsody bemühte sich, nicht vor dem überwältigenden Gossengestank zurückzuweichen. Ein blondes, langknochiges Kind mit durchscheinender Haut hatte sich gegen die hintere Wand der Nische gedrückt und zitterte vor Angst. Rhapsodys Kehle wurde trocken, als die Erinnerung kam. Es war dasselbe ätherische Aussehen, dieselbe zarte Gesichtsbildung, die auch ihre eigene Mutter ausgezeichnet hatten. Doch da war noch etwas, etwas beinahe Wildes, die Andeutung eines nichtmenschlichen Vaters.

»Arie«, sagte sie sanft, »komm zu mir.«

Das Kind schüttelte den Kopf und drehte das Gesicht zur Wand.

Rhapsody kroch noch ein paar Schritte vor und blickte dann hinunter auf ihre Arme. Das Wasser stand ihr nun bis zu den Ellbogen.

Von Angst befeuerte Ungeduld überkam sie. »Komm endlich, Arie!« Das Kind zitterte nun noch heftiger.

Plötzlich überkam sie ein Gedanke. Sie kroch auf Händen und Knien rückwärts aus der Nische. Sobald sie in einer gewissen Entfernung zu dem Kind war, sang sie ein Kinderlied aus Serendair. Es war eine Melodie, die sie scherzhaft auch Grunthor einmal vorgesungen hatte.

Wach auf, kleiner Mann,

Lass die Sonne in die Augen

Der Tag lockt dich zum Spiel heraus.

Sie wich noch weiter zurück und webte ihren Zauber in die Töne und Wörter des alten Liedes.

Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir!

Rhapsody sah am Rande des hellen Flammenglanzes, den das Schwert ausströmte, neue Gesichter erscheinen und hörte Bewegungen. Sie nickte knapp und zog sich weiter zurück, wobei sie sang:

Lauf, kleiner Mann,

Zu des Himmels Ende,

Wo die Nacht den Kamm des Tages berührt.

Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir!

Weiter hinten im Tunnel erschienen noch mehr Gesichter. Sie glänzten im schwachen Licht, waren ausgezehrt und wie die Geister, die manchmal durch ihre Träume pirschten. Noch immer kroch sie zurück und sang ihr verzauberndes Lied.

Spiele, kleiner Mann,

Bis du weise wirst,

Und jage deinen Träumen nach.

Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir! Komm hierhin, komm dorthin, komm, folge mir!

Als Rhapsody den Brunnenschacht erreicht hatte, krabbelte eine kleine Herde abgerissener dürrer Jungen jeder Größe, etwa zwölf an der Zahl, hinter ihr her und füllte den Tunnel so aus, dass Rhapsody nicht mehr erkennen konnte als Köpfe und Gesichter, blass unter den verschmierten Masken aus rotem Dreck, mit hervorquellenden, umwölkten Augen und alle waren nackt. Menschliche Ratten hatte Achmed sie genannt. Sie hatte bisher keine Vorstellung davon gehabt, wie zutreffend dieser Ausdruck war. Eine Rampe aus Ziegelbrettern und anderem Abfall aus dem Brennraum war in den Brunnenschacht eingebaut worden, um die Aufgabe des Hakens zu übernehmen erst später würde Rhapsody herausfinden, dass sie den Leichnam des Gesellen verbarg, der kopfüber in den Schacht gestürzt war. Achmed starrte sie von oben herab an. Er warf einen kurzen Blick auf die scheinbar endlose Reihe dreckiger Kinder, stieß die Luft aus, nahm ein Seil, das neben ihm gelegen hatte, und warf ihr das eine Ende zu.

»Warum hat das so lange gedauert? Heb schnell die Bälger hoch; wir müssen von hier verschwinden.«

Rhapsody packte das Liringlas-Kind, das unter ihrer Berührung zusammenzuckte, sich aber nicht losriss, und ergriff das Seil, das Achmed ihr zugeworfen hatte.

»Hattest du Schwierigkeiten mit der Dämonenbrut?«, fragte sie, während sie das Seil um Arics Hüfte schlang und ihm auf die Rampe half. Sie hielt ihn fest, bis Achmed ihn aus dem Schacht zog.

»Nur ein bisschen«, sagte er lässig. »Er steckt im Brennofen.«

Rhapsody wirbelte herum und starrte den Brunnenschacht hoch. »Im Brennofen?«

»Setz dich dort hin«, befahl Achmed dem ersten Kind und deutete auf Omet, der sich zwar wieder auf seiner Pritsche befand, aber immer noch an Händen und Füßen gefesselt war. Er beugte sich wieder über den Abgrund. »Ja, im Brennofen. Wie du und einige andere verfluchte Häscher seines dämonischen Vaters scheint er unempfindlich gegen die Auswirkungen des Feuers zu sein und auch Schmerzen sehr gut ertragen zu können. So lange er genug Luft hat, sollte es ihm dort drinnen ganz gut gehen.«

Mit neuem Schwung zog Rhapsody den nächsten Jungen hervor und band ihm das Seil um.

»Wie lange ist er schon da drin?«, fragte sie nervös.

Achmed zerrte an dem Seil und zog das Kind rasch die Rampe hoch. »Eine Weile. Beeil dich, wenn du willst, dass ich ihn heraushole, bevor er zu einer Vase geworden ist.«

Hintereinander bestiegen die Kinder in völligem Schweigen die Rampe. Als der Letzte draußen war, warf Achmed das Seil noch einmal hinunter und zog Rhapsody aus dem Schacht in den Alkoven.

»Was, um alles in der Welt, ist hier geschehen?«, fragte sie und sah sich entsetzt in dem Brennraum um. Sie starrte auf den Berg aus erkaltendem Lehm und die säuberlich aufgestapelten Körper an der Außenmauer des Alkovens. Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Hättest du sie nicht wenigstens aus dem Blickfeld räumen können? Sieh doch nur, wie verängstigt die Kinder sind.«

»Genau. Wenigstens hat keines von ihnen mich belästigt oder Lärm gemacht, während ich die anderen hochgezogen habe.« Er durchschnitt Omets Fesseln mit seinem Dolch, stellte sich dann neben Rhapsody und deutete auf die Tür, durch welche die Gesellen hereingekommen waren. »Wo die hergekommen sind, gibt es noch hundert andere. Sie schlafen in Schichten in den Baracken hinter diesem Eingang. Außerdem nehme ich an, dass jemand diesen Ort sehr genau beobachtet, wenn man bedenkt, wie nahe sie ihrem Ziel sind. Wir haben keine Zeit mehr, uns um diese Kinder zu kümmern. Wem immer dieser Ort gehört, er wird nicht begeistert sein, dass wir sie befreit haben.

Jetzt, wo du unsere Lage kennst, möchte ich vorschlagen, dass du die Dämonenbrut aus dem Ofen holst er sollte inzwischen hübsch braun sein und wir in aller gebotenen Eile verschwinden. Die Hoffnung, lebend hier herauszukommen, wird mit jeder Sekunde geringer. Das meine ich ernst, Rhapsody. Du weißt, dass ich nicht zu Übertreibungen neige.«

Rhapsody nickte und eilte zu dem geschlossenen Ofen, zog den Riegel zurück und öffnete die Tür weit. Die Dämonenbrut war im hinteren Ende bewusstlos zusammengesackt und atmete sehr flach. Diejenigen Sklavenkinder, deren Augen sich an das flackernde Licht gewöhnt hatten, beobachteten erstaunt, wie sie in den rot glühenden Ofen kletterte, den Jungen packte und ihn an den Füßen hinauszog. Sie untersuchte ihn oberflächlich und zerrte ihn dann hinüber zu Omets Pritsche, wo sich die Sklaven zusammengedrängt hatten.

»Fasst ihn nicht an, wenn es nicht unbedingt sein muss. Er ist noch heiß, und ihr würdet euch verbrennen. Wartet, bis er abgekühlt ist«, sagte sie in orlandischem Dialekt zu den Jungen.

»Aber wenn er sich bewegt, springt alle auf ihn und setzt euch auf seinen Rücken.« Sie warf einen Blick zurück auf Achmed. »Wie kommen wir hier heraus?«, fragte sie auf Bolgisch.

»Durch dieselbe Hintertür wie bei unsere Ankunft. Wir können durch die innere Gasse gehen auf dieser Seite des Gebäudes gibt es keine Fenster und durch die Hinterhöfe aus der Stadt verschwinden. Wir könnten sie zu den nördlichen Außenposten von Ylorc mitnehmen ...« Er hob die Hand, um ihrem Widerspruch zuvor zu kommen. »Darüber reden wir später. Jetzt ist keine Zeit dazu.«

»Einverstanden. Aber etwas muss ich noch tun, bevor wir gehen. Ich muss den Tunnel schließen. Ansonsten wird es bald eine neue Sklavengruppe geben, die dort so lange hinuntergeschickt wird, bis sie durchbrechen, wenn es nicht schon so weit ist. Ich will nicht, dass für dieses selbstsüchtige Vorhaben eine ganze Gruppe Kinder ertrinkt.«

Achmed ging hinüber zu der Dämonenbrut, bückte sich und maß seine Körpertemperatur. Dann fesselte er das Kind grob an Händen und Füßen, wobei er dem herabbaumelnden Handgelenk und dem gebrochenen Schlüsselbein keine Beachtung schenkte. Er nahm den Jungen auf und warf ihn sich über die Schulter.

»Und wie willst du das schaffen? Grunthor ist nicht hier.«

»Ich weiß. Gib mir genau fünf Minuten. Ich verspreche, dass es auf keinen Fall länger dauern wird.«

Achmed schüttelte den Kopf, während er die Sklavenkinder herbeirief, die sofort von der Pritsche sprangen und sich vor ihm aufstellten.

»So viel Zeit bleibt uns möglicherweise nicht.«

»Dann geht. Ich hole euch schon wieder ein. Los.«

Sie beachtete den harten Blick nicht, den er ihr schenkte, sondern rannte zur Tür und sprach das Wort der Stille aus. Die Tür öffnete sich ohne einen Laut. Der Auszug der Sklavenjungen war gleichermaßen still, doch das lag wohl an dem Entsetzen, das der Anblick von Achmeds Gesicht bei ihnen hervorrief.

Sobald alle im Vorraum der Ziegelei waren, ging Rhapsody zurück in die Brennkammer. Sie starrte einen Moment lang auf das Gemetzel; dann ging sie zum ersten der vier verbliebenen Fässer, kippte es um und schüttete den Inhalt auf den Boden. Wie ein schlammiger Fluss strömte er in den Alkoven. Sie ging zum nächsten Fass, dann zum übernächsten, zog grimmig an den Ketten und hielt sich von dem Strom des glühenden Schlammes fern.

Als genug in den Alkoven geflossen war, um den Brunnenschacht bis zum Rand aufzufüllen, zog sie ihr Schwert. Die Flammen der Tagessternfanfare tanzten in der schattigen Dunkelheit und leuchteten mit großer Macht. Sie loderten tausendmal heller als die Feuer, die nun unter den großen Öfen heruntergebrannt waren.

Inmitten der Lehmströme schloss Rhapsody die Augen und suchte in ihrer Seele nach dem Band zu der Waffe und dem Elementarfeuer, das zum Mittelpunkt ihres Seins geworden war, seit sie im Herzen der Erde durch die Feuerwand geschritten war. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Brunnenschacht, in dem nun der flüssige Lehm gurgelte, und hob langsam das Schwert, bis es auf den Alkoven deutete.

»Luten«, sagte sie mit starker Befehlsgewalt. »Backe.«

Ein Flammenbogen schoss aus dem Schwert hervor und erfüllte den Alkoven mit einer Hitze, die weit größer als in den Brennöfen war; sie war heißer und heller als das Licht der Sonne. Rhapsody spürte, wie ein Schauer sie durchlief, als das Feuer in den Alkoven zischte und innerhalb von Sekunden den Lehm härtete. Der Schacht war nun mit einem unnachgiebigen Pfropfen verstopft, der so hart wie die Keramiksäulen von Manwyns Tempel war. Das obere Ende des Schachtes glühte rot und sank dann zur stumpfen Farbe gebrannten Tons herab. Das ist alles, was ich tun kann, dachte sie, steckte das Schwert in die Scheide und beeilte sich, zu Achmed und den Jungen aufzuschließen. Für die Jungen und die Entudenin.

Als sie sich in jener Nacht aus Yarim Paar fortstahlen, an den yarimesischen Wachen mit ihren gehörnten Helmen vorbeischlichen und durch die Gassen einer Stadt huschten, die wie ein trunkener Taugenichts oder ein überwinternder Bär im Schlafe lag, hielt Rhapsody einen Moment lang inne und warf einen Blick zurück auf die ausgetrocknete Fontäne und den toten Quellobelisken. Mögest du eines Tages wieder lebendig werden, dachte sie, und Yarim zu neuer Blüte führen.

Obwohl sie viele Straßen entfernt war, glaubte sie in dem stumpfen roten Lehm ein kurzes Schimmern wie das Zwinkern eines Sterns zu sehen.

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