25

»Sag mir bitte, dass das ein Scherz ist.« Gwen lächelte unbehaglich und zog dann einen dünnen, eisfarbenen Schleier über Rhapsodys Kopf und Schultern. »Ich fürchte nicht, meine Liebe. Das tragen sie in Sorbold.«

»Wo ist der Rest davon?«

»Das ist alles, meine Liebe. Die meiste Zeit des Jahres ist es dort warm, und die Nähe der Arena zu den heißen Quellen bewirkt, dass es drinnen sehr feucht ist. Jeder zeigt seinen Körper; das wird dort als völlig natürlich angesehen.«

»Was ist das Problem, Rhapsody?«, fragte Llauron mit einem Unterton der Verärgerung. Ein leichtes Glühen trat aus seiner Hand; er betastete eine kleine Kugel aus Wasser, in der eine winzige Flamme brannte. Es war Crynellas Kerze, das Liebeszeichen, das Merithyn, sein Großvater, seiner Drachengroßmutter Elynsynos gegeben hatte. Es verband die Elemente des Feuers und des Wassers und diente ihm als Schlüsselring. Llauron hatte einmal gesagt, er habe dieses Objekt von einem Antiquitätenhändler gekauft. Er drehte es immer dann zwischen den Fingern, wenn er enttäuscht war. Rhapsody schluckte nervös und wandte sich wieder dem Spiegel zu.

Angewidert starrte sie in das Glas. »Erstens haben wir Winter; ich werde mir den Tod holen. Und zweitens: Willst du wirklich, dass ich so in die Kasernen der Gladiatoren gehe? Llauron, bist du verrückt?«

»Also bitte, Rhapsody, sei doch nicht so provinziell. Ich hätte nicht geglaubt, dass eine so aufgeschlossene junge Frau wie du die Gepflogenheiten anderer Kulturen verhöhnt.«

»Ich verhöhne nichts«, antwortete Rhapsody, drehte dem Spiegel den Rücken zu und errötete, als sie sah, wie wenig von ihrem Körper bedeckt war.

»Ich will bloß nicht, dass man mich verhöhnt. Um Himmels willen, Gwen, was soll diesen Fetzen denn zusammenhalten? Reine Entschlossenheit?« Sie deutete unwillig auf die ineinander verschlungenen Schals, die das Leibchen ihrer Garderobe bildeten.

»Na, Rhapsody, so flach bist du oben herum doch nicht«, sagte Llaurons Dienerin.

»Gwen, du bist die Erste, die das sagt. Unter anderen Umständen wäre ich dir dafür sehr dankbar, doch im Moment möchte ich mich nur gern anziehen.«

Llauron stand ungeduldig auf. »Weißt du, Rhapsody, eigentlich hatte ich den Eindruck, dir sei es Ernst mit dieser Mission. Ich hatte keine Ahnung, dass du nur mit der Idee spielst. Wenn mir das bewusst gewesen wäre, hätte ich weder meine noch Gwens Zeit verschwendet.«

Rhapsody wirkte beschämt. »Es ist mir Ernst, Llauron; ich hatte bloß nicht diese Art von Kleid erwartet.«

»Es tut mir Leid, aber wenn du dir zu einem bestimmten Ort Zugang verschaffen willst, bleibt dir nichts anderes übrig, als dich wie die Leute dort zu kleiden. Wenn dir der Ort nicht gefällt, musst du deinen Gladiatorfreund anderswohin locken. Aber wenn du in deinem Abendkleid nach Sorbold gehst, wirst du sofort in die Sklaverei verkauft und endest zweifellos in etwas noch Luftigerem. Also, was ist? Willst du weitermachen oder aufgeben?«

Rhapsody seufzte. »Natürlich gebe ich nicht auf«, sagte sie und sah sich nach einem wärmeren Kleidungsstück um. Schließlich ging sie zu einem Kleiderständer, nahm ihren Umhang ab und wickelte sich in ihn. Sie setzte sich in einen Ohrensessel nahe dem Flügelspiegel, vor dem Gwen sie angezogen hatte. »Können wir jetzt unsere Strategie beraten?«

Llauron schien sich zu entspannen. Er steckte Crynellas Kerze zurück in die Tasche und entrollte eine lange pergamentene Landkarte. »In gewisser Weise hast du Glück«, sagte er.

»Der Vergnügungskomplex befindet sich in dem Stadtstaat Jakar, der nahe am südlichen Rand des orlandischen Waldes liegt eigentlich genau südöstlich davon. Das heißt, du musst nicht lange durch Sorbold reisen, um an dein Ziel zu kommen.

Das ist gut. Sorbold ist ein viel kriegerischerer Ort als Roland, und du würdest zweifellos angehalten, wenn du lange durchreisen müsstest.« Rhapsody nickte. Llauron warf einen Blick auf Gwen, die sich wortlos empfahl und den Raum verließ.

»Nun«, fuhr Llauron fort und kehrte zu dem Pergament zurück, »hier ist ein Plan des Vergnügungskomplexes. Das große Gebäude in der Mitte ist natürlich die Arena. Es wird dir leicht fallen, dich an einem Kampftag unter die Menge zu mischen. Ich bezweifle, dass du je in deinem Leben mehr Menschen gesehen hast als an diesen Tagen auf den Durchgangsstraßen.

Wenn ich mich nicht irre, kämpfen sie nach dem Mondzyklus; es gibt jeden Tag einen Wettkampf außer bei Neumond und Vollmond. Dein Gladiator hat die besten Aussichten, auf dem Programm zu stehen, wenn du einen Tag nach dem letzten Brachtag eintriffst.«

»Sein Name lautet Constantin. Hast du je von ihm gehört?«

»Ja«, sagte Llauron. »Er ist schon seit einiger Zeit aktiv. Ich weiß nicht viel über ihn, aber er ist zweifellos der typische sorboldische Gladiator: viele Muskeln, wenig beweglich.«

»Oelendra sagte, der Trick sei, ihn nicht zum Einzelkampf herauszufordern.«

Bei der Erwähnung der Lirin-Kämpferin zog Llauron die Lippen leicht hoch. Rhapsody hatte diese kaum merkliche Reaktion schon mehrfach bemerkt und war sich nie sicher, ob es nur eine Einbildung war. »Das wird etwas schwierig sein, nicht wahr? Ich dachte, dies sei eine sehr geheime Mission.«

»Das ist sie auch.«

»Warum planst du dann, Hilfe zu haben, wenn du doch allein gehst?«

Rhapsody blinzelte. »Allein? Hattest du nicht gesagt, Khaddyr sei meine Unterstützung? Ich hatte angenommen ... nun ja, ich hatte geglaubt, er würde Truppen mitbringen oder wenigstens ein paar Waldläufer.«

»Das wird er auch, aber nicht in den Vergnügungskomplex selbst. Ich werde Khaddyr und einen oder zwei sehr vertrauenswürdige Männer losschicken, die in den Wäldern außerhalb der Arena auf dich treffen. Sie werden dort mit Pferden und Vorräten warten und dich durch den Wald zurück nach Tyrian geleiten. Bist du mit diesen Wäldern vertraut?«

»Nein, aber ich glaube, ich bin einmal auf dem Weg zu Stephen durch sie gewandert.«

»Ja.«

»Das war allerdings nur der nördlichste Zipfel. Ich habe keine Ahnung, wie es im Süden aussieht.«

»Dort werden Khaddyr und seine Männer dir weiterhelfen.« Llauron schaute in das Kaminfeuer; es brannte unregelmäßig.

Auch Rhapsodys Gesichtsausdruck war zweifelnd. »Llauron«, sagte sie nachdenklich, »wenn ich so etwas mit Achmed und Grunthor planen würde, dann würde ich einfach hineingehen und ihn zu ihrem Versteck locken, aber ich glaube nicht, dass sie von mir erwarten würden, mich allein dort hinzubegeben.«

Ein Reptilienhaftes Glitzern trat in die Augen des alten Mannes. »Dann möchtest du vielleicht lieber nach Ylorc zurückkehren und sie dir zur Verstärkung holen, Rhapsody?«

Rhapsody starrte ihn kalt an. Sie wussten beide, dass das unmöglich war. Grunthor konnte sich nirgendwo einschleichen, nicht einmal in einen Ort wie Sorbold, und wenn Achmed auf sorboldischem Gebiet geschnappt würde, wie er gerade einen wertvollen Sklaven entführte, konnte das Krieg bedeuten.

Als Llauron sah, wie sich Eis in ihren Augen bildete, wurde sein Ton freundlicher. »Kopf hoch, Rhapsody. Ein einzelner Gladiator ist doch kein ernst zu nehmender Gegner für die Iliachenva’ar. Du bist von der lirinschen Meisterin ausgebildet worden, dir steht die Macht der Sterne und des Feuers zur Verfügung, um deine Musik gar nicht erst zu erwähnen. Und wenn alles andere versagen sollte, hast du deinen flinken Verstand und ein freundliches Lächeln; das wird dich überall hinbringen. Unterschätze deine eigenen Kräfte nicht. Du hast zu lange als Teil eines Trios gearbeitet.«

Sie sagte nichts darauf, sondern hielt seinem Blick stand. Schließlich warf Llauron die Hände hoch und gab nach.

»In Ordnung. Ich werde dafür sorgen, dass Khaddyr und seine Männer außerhalb der Kasernen des Gladiatorenkomplexes warten, sodass sie dir helfen können, ihn dort hinauszuholen, sobald du ihn bewusstlos gemacht hast. Und nun sieh dir die Zeichnung des Komplexes noch einmal an. Hier an der Außenseite ist eine Nische, in der du dich verstecken kannst. Ich schlage vor, dass du die Stadt hier betrittst; das ist der einfachste Zugang und Ausgang, besonders wenn ihr einen bewusstlosen Gladiator hinter euch herzieht.«

»Wie soll ich ihn bewusstlos machen?«

Llauron ging zum Tisch. »Dafür habe ich Vorbereitungen treffen lassen.« Er hob eine kleine Börse hoch und zog eine durchsichtige, verstöpselte Flasche hervor. »Das wird ihn innerhalb weniger Sekunden ohnmächtig machen, nachdem er es eingeatmet hat. Pass übrigens auf, dass du es nicht selbst in die Nase bekommst. In dieser Flasche ist genug, um ihn betäubt zu halten, bis ihr wieder in Tyrian seid. Verschwende nichts davon.«

Er steckte die Flasche zurück in den Beutel und gab ihn ihr.

»Vielen Dank«, meinte Rhapsody.

»Versuche es so einzurichten, dass er keucht, wenn er es einatmet, dann wirkt es besser.«

»Und wie soll ich das schaffen indem ich ihn erschrecke? Ihm einen Witz erzähle?«

Llaurons Augen funkelten auf eine Weise, die Rhapsody verstörend fand. »Ich bin sicher, du wirst dir etwas einfallen lassen, Rhapsody.« Seine Antwort führte dazu, dass sie den Mantel enger um sich zog.

»Ich bin mir wegen des Kleides noch nicht sicher.«

»Um Himmels willen, sie werden glauben, dass du eine Heilerin bist. Die Heilerinnen laufen immer in einem solchen Aufzug durch die Gegend. Außerdem ist das Einzige, was der Gladiator nach einem Kampf um Leben und Tod von dir will, medizinische Betreuung und vielleicht eine Massage. Du brauchst keine Angst zu haben, dass deine Tugend in Gefahr ist.« In seiner Stimme lag eine Schroffheit, die Rhapsody nicht gefiel. Llaurons Stimme wurde sanfter, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Den Gladiatoren ist es verboten, vor einem Kampf sexuelle Beziehungen einzugehen, und danach sind sie nicht mehr dazu in der Lage. Du wirst für ihn nicht mehr als ein Paar Hände sein, die seine Schmerzen lindern. Er wird dich kein zweites Mal ansehen, oder glaubst du, du hast etwas Besonderes an dir, das die Männer anzieht, wenn sie es gewöhnt sind, alle Frauen in dieser Kleidung herumlaufen zu sehen?«

»Nein«, gab sie zu.

»Dann entspann dich bitte. Es wird für dich eine wertvolle Erfahrung sein, wenn du siehst, wie Menschen in anderen Kulturen leben. Ich glaube, du solltest dein Schwert hier lassen, während du fort bist nur für alle Fälle.«

»Darüber habe ich schon nachgedacht«, sagte sie und schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Ich habe es Oelendra gegeben.« Dasselbe Prickeln lag in der Luft, wenn Ashe gereizt oder wütend war, es aber nicht zugeben wollte.

»Sehr gut. Wir haben also einen Plan. Falls du dich in dem Komplex verlaufen solltest, folge der Hitze; sie wird dich zu den heißen Quellen neben der Arena führen. Ich werde Khaddyr und die anderen erst im letzten Augenblick darüber informieren, um sicher zu stellen, dass uns niemand belauscht. Da wir gerade von Khaddyr reden ich muss mich um einige seiner Patienten kümmern. Es sind Opfer einer dieser sinnlosen Überfälle.«

Rhapsody setzte sich auf. »Brauchst du Hilfe? Ich habe meine Kräuter und meine neue Harfe dabei.«

»Nein, nein; sie haben nur kleinere Verletzungen und schlafen jetzt bestimmt schon. Außerdem wollen wir, dass deine Anwesenheit geheim bleibt. Hat dich jemand durch den versteckten Eingang hereinkommen sehen?«

»Nein, bestimmt nicht. Ich war vorsichtig.«

»Wer weiß, dass du bei mir bist?«

»Nur Oelendra. Und Gwen.«

»Gut. Und jetzt schlaf ein wenig, meine Liebe. Du musst morgen sehr früh aufstehen.« Llauron gab ihr einen Kuss auf die Wange und verließ ihr Zimmer. Er schloss die Tür leise hinter sich.

Rhapsody sah ihm nach und saß dann lange schweigend da. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie wusste nicht, was es war. Wenn sich Llauron bei einem Punkt des Plans geirrt haben sollte, konnte das schreckliche Folgen haben, aber darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken.

Sie zog den Mantel und die dünnen Schals des Sklavenmädchenkleides aus, suchte nach ihrem Schlafanzug, streifte ihn über und dachte dabei an Ashe. Er wäre sofort mit ihr losgezogen; nichts hätte ihn zurückhalten können. Das war der Grund, warum sie ihm nichts von dieser Mission erzählt hatte.

Sie zog die Laken zurück, schlüpfte unter sie und dachte dabei an ihr Zuhause. Ryle hira, lautete das alte lirinsche Sprichwort. Das Leben ist so, wie es ist. All das rührte von der Bösartigkeit des F’dor her. Evet ra hira mir lumine aber du kannst es besser machen, lautete ihr eigenes Motto. Wenn sie die Kinder zu retten vermochte, auch dieses eine, und es ihnen gelang, das Blut zu filtern, damit es Achmed als Fährte und zur Heilung der Kinder diente, würde vielleicht alles gut und schmerzlos ausgehen, bevor sie Ashe die ganze Geschichte erzählen musste. Sie seufzte bei diesem Gedanken und trieb in die Albträume, die mit dem Verlust des Drachen, der ihre Träume bewacht hatte, wiedergekehrt waren.

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