84

Grunthor war der Erste, der die Veränderung spürte. Der Druck in seinem Kopf pflanzte sich fort wie das Gefühl im Ohr, wenn er einen hohen Berg erstieg. Dann schien etwas in ihm zu platzen, als sich die Erde unter seinen Füßen auf schlimme Weise veränderte.

Achmed sah seinen Freund fragend an. Die Veränderung, welche den Sergeant-Major überkommen hatte, war unübersehbar. Die weit aufgerissenen bernsteinfarbenen Augen wurden glasig, die Haut in der Farbe eines Blutergusses wurde rot, und er blähte die gewaltigen Nasenflügel, während sein Herz große Mengen Blut pumpte. Er starrte kurz nach Westen, spannte die Muskeln an und schoss vom Rand der Senke hinunter auf die gespannt wartende Versammlung.

»Runter vom Hügel!«, brüllte er Rhapsody zu und rannte mitten in die Menge der verwirrten Cymrer, die noch vor einem Augenblick fröhlich gefeiert hatten. »Bewegt euch! Bewegt euch!« Seine Stimme donnerte durch die Luft und über die erstaunte Bevölkerung hinweg, die vor Angst erstarrt war. Er trieb sie in alle Richtungen fort von der sanften Erhebung in der Mitte der Senke. Es war nur für den Bolg-Riesen spürbar, dass sie bebte.

Rhapsody hatte sich nach Grunthors Ruf aus Gwydions Umarmung befreit und sah in die entsetzten Gesichter der cymrischen Menge, die sich rasch vor Grunthor teilte und zerstreute. Noch waren keine Schreckenslaute zu hören; alles war unheimlich still. Sie schaute zurück zu der Kanzel und riss entsetzt die Augen auf.

»Das Hörn ist fort«, sagte sie zu Gwydion und rief dann auch Achmed zu: »Das Hörn ist fort!«

Achmed drehte sich nicht um, sondern nickte nur. Im nächsten Augenblick hörte er Alarmrufe von den Wachen und von Tristans Heer im Westen. Er wirbelte herum und schirmte die Augen vor der hellen Mittagssonne ab.

Ein Reiter galoppierte über die Krevensfelder und trieb sein Pferd gnadenlos an. Selbst aus der großen Entfernung hörte der Bolg-König seine heiseren Warnrufe. Das orlandische Heer regte sich und sammelte Waffen und Rüstungen ein. Plötzlich ertönte ein weiterer Ruf.

»Es ist Anborn! Macht das Tor auf!«

Hinter ihm schwebte es schwarz im Himmel. Rauchwolken türmten sich auf, als wäre ein Vulkan mitten in der Luft ausgebrochen. Während Anborn näher kam, holte ihn der schwarze Rauch beinahe ein. Es war eine so breite Wand, dass sie von einem gewaltigen, durch heftigen Wind angefachten Buschfeuer herrühren konnte, doch bald wurde deutlich, dass es kein Feuer gab. Es war die Erde selbst, die sich auf der weiten Ebene geöffnet hatte und durch die schiere Kraft dieser Verwerfung Staub und Schotter ausspie.

Im Schatten dieser Dunkelheit marschierte ein Heer. Zuerst schienen es Legionen von Tieren zu sein, denn viele gingen nicht aufrecht, sondern schleppten sich über das Land, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft vorangezogen. Rhapsody keuchte auf und packte Gwydion am Arm. Sie erinnerte sich an ihre Vision im Turm des Observatoriums.

»Das sind die cymrischen Toten, die Gefallenen, die im Großen Krieg getötet wurden.« Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Anwyn hat sie aus der Vergangenheit herbeigerufen.«

Das Meer aus wandelnden Leichnamen erstreckte sich bis zum Horizont und tauchte den Rand der Welt in Schwärze. Die Überreste jedes Leichnams, der auf der Ebene oder in den Bergen geblieben war und nicht geopfert oder sich in anderer Weise völlig aufgelöst hatte, war durch die schiere Kraft der Erinnerung wieder belebt worden und kroch, taumelte oder glitt nun auf den Gerichtshof zu. Sie befanden sich inmitten eines Meeres aus Tod, Verwesung, Krankheit und menschlichen Fragmenten, die im Bann von Anwyns Zorn standen.

Von den Gipfeln der Zahnfelsen drang ein Brüllen wie gefangener Donner durch die Berge. Lawinen aus Geröll und Erde lösten sich vom Griwen und tosten durch Canrif und über alle kleineren Gipfel des Vorgebirges hinweg, bis sie in einem gewaltigen Hagel aus Schutt auf den Gerichtshof herabregneten. Aus den Bergen kamen weitere Soldaten Anwyns. Es waren wieder belebte Nain und Lirin, Menschen und Halbmenschen, Erwachsene und Kinder, allesamt Opfer von Anwyns und Gwylliams großem Irrsinn, die aus den Grüften der Toten krochen und dem Schall des Horns antworteten, wie sie es vor langer Zeit schon einmal getan hatten.

Vor dem Gerichtshof stellte sich das Heer von Roland, hunderttausend Mann stark, in Schlachtreihen und Legionen auf. Rhapsody erschauerte bei diesem Anblick. Zuvor waren sie ihr als gewaltige Streitmacht erschienen, die durch ihre schiere Zahl Achmeds Herrschaft über den Berg bedrohte, doch jetzt waren sie etwa hundert zu eins in der Minderheit. Sie hatte keine Zeit zum genauen Zählen.

Aus dem Bauch der Senke drang ein donnerndes Rumpeln. Der Boden warf Blasen und brach kurz darauf auf. Er zerschmetterte und schluckte Cymrer aus allen Flotten, denen es nicht gelungen war, aus dem Weg zu springen. Unter den Entsetzensschreien der Cymrer krochen weitere Totenkrieger aus vergessenen Massengräbern herbei. Sie steckten in Grabgewändern oder Resten von Leichensäcken und hielten verrottete Speere und Schwerter in der Hand. Ihre blicklosen Augen richteten sich auf die zerstiebenden Massen, die wie Krähen vor einem Sturm flohen.

Grunthor und einer kleinen Gruppe, die er eingezogen und aus seinem persönlichen Bestand bewaffnet hatte, war es gelungen, sich zwischen die fliehenden Pilger und die unzähligen herannahenden Beerdigten zu stellen. Gleichzeitig schrie Grunthor Befehle in Richtung des Walls, um das verborgene Heer der Bolg zu mobilisieren.

Inmitten des Erdbebens spürte Rhapsody, wie sich ein Gefühl der Ruhe um sie legte und den Zorn dämpfte, der hinter ihren Augen brannte. Rasch warf sie einen Blick in die Senke, die nun überall unter den Füßen der Lebenden aufbrach. Sie schäumte und wogte wie eine irdene See und füllte sich mit Wellen aus Toten.

Eine Gruppe von zumeist menschlichen Kindern war in der anfänglichen Sintflut von ihren Familien getrennt worden, als sich der Boden gehoben hatte. Ihre Angstschreie waren nur wenig lauter als die der Erwachsenen, die darum kämpften, zu ihnen zu gelangen. Von ihrem Platz am Rand der Senke sah Rhapsody einen Fluss aus noch ruhiger Erde, der möglicherweise als Brücke dienen konnte.

Gwydion drückte ihre Hand und löste dann seinen Griff, während sie einander zunickten.

»Öffnet das Tor!«, rief er der wirbelnden Masse panischer Leute in der Nähe der großen, irdenen Tore des Gerichtshofes zu. Er schoss den Hang hinunter und auf den Eingang zu, während Rhapsody in die Entgegengesetzte Richtung eilte, zu dem Riss zwischen den Kindern und Erwachsenen, wo der Boden in Erwartung einer weiteren Spaltung erbebte.

»Hier! Hier! Folgt dem unzerbrochenen Boden!«, rief sie. Ihre Stimme von königlichem Klang und mit der Befehlsgewalt der Benennerin hallte über den Aufruhr und schnitt durch den Lärm wie ein Diamant. Die Kinder drehten sich sofort um und sahen sie an. »Kommt! Kommt zu mir!« Rhapsody streckte die Arme aus und lockte die Kinder über die Erhebung in der Erde.

Auf der anderen Seite der Senke hatte Gwydion einen Hoffnungsschimmer im Blick.

»Stephen!«, rief er von einem der niedrigeren Simse der Senke aus. Der Herzog von Navarne wirbelte in dem Mahlstrom aus lebenden und toten Cymrern herum, als er den Ruf seines Freundes vernahm. »Stephen, öffne die Tore! Evakuiere den Gerichtshof!« Gwydion sah, wie sein Freund verstand. Stephen nickte, übergab seine kreischende Tochter in die ausgestreckten Arme eines Wachmannes neben ihm und bahnte sich einen Weg durch die Menge auf die irdenen Tore zu.

922

Gwydion drehte sich um und sah, wie die Leute von den Seiten des Gerichtshofes in das Innere herabregneten und sich dabei in ihrer Angst umwarfen und überrannten. Die felsigen Dämme und Sitzreihen erzitterten unter dem Aufruhr im Innern der Erde wie auch unter der Flut der Flüchtenden, die von den oberen Bereichen der Senke herabtaumelten. Er ergriff den Arm einer fallenden Halb-Lirin und stellte sich dann dem Strom der Fliehenden entgegen.

»Bewahrt Ruhe!«, sagte er befehlend. Das Grollen der bedrohlichen Wyrm-Flamme lauerte knapp unter der menschlichen Oberfläche. »Ich befehle euch, langsamer zu werden und vorsichtig die Senke zu verlassen.« Die Menge schwoll an und blieb dann stehen. Der neue Herr der Cymrer hob eine auf dem Boden liegende Frau hoch, stemmte sie mühelos über die auseinander gebrochenen Erdhügel und geleitete sie zum Ausgang. Dann wandte er sich wieder an die Masse. »Langsam«, gebot er. »Seid vorsichtig.« Er zog den ersten Mann vor und half ihm durch den Staub, der aus der aufgebrochenen Erde strömte und über dem frischen Riss schwebte. Dann gab er den anderen das Zeichen, ihm zu folgen.

Auf der inneren Erhebung der Senke zählte Grunthor die Truppen und Opfer und änderte grimmig jeden Augenblick seine Schätzungen, während sich immer mehr Leichname aus den Bergen ergossen, aus den Tälern hervorkamen und aus der Erde strömten. Die Cymrer waren zwar mächtig und langlebig, aber nicht auf eine Schlacht vorbereitet. Mit Ausnahme von Tristans Heer, das sich jetzt darauf vorbereitete, der nächsten Welle der Toten entgegenzutreten, waren die Teilnehmer des Konzils nicht für einen Kriegszug, sondern für die Pilgerschaft gerüstet. Der Sergeant-Major wusste, dass er sehr, sehr schnell sein musste, wenn er wenigstens entscheiden wollte, welche Gruppen geopfert werden mussten, anstatt auch dies Anwyn zu überlassen.

»Hätt der Hexe den Kopf von den Schultern reißen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte«, brummte er düster und schützte dann die Augen vor der blendenden Helligkeit der 923

Sonne und dem Hagel aus Kies und Staub, der mit frischen und schon lange getrocknetem Blut vermischt war.

Ihm drehte sich der Magen um, als er seine kleine Freiwilligentruppe in einem Halbkreis aufstellte, um diejenigen zu schützen, die Rhapsody in ihrer Obhut hatte. Die Erde selbst erfüllte seine Ohren mit Schreien wie das entsetzte Opfer einer brutalen Vergewaltigung, wie eine Mutter, die das Abschlachten der Kinder vor ihren Augen beweint. Gegen seinen Willen öffnete er den Mund und brüllte als Antwort einen wilden und drohenden Kriegsruf, der sich kurz über den allgemeinen Lärm erhob, dann aber von dem Grauen und der Panik um ihn herum geschluckt wurde.

Rhapsody hörte den Ruf, der ihr Blut in Eis verwandelte. Sie reichte das letzte der Kinder über die gekrümmte Landbrücke in der Mitte der Senke und kroch danach über die aufgeworfene Erde zu Grunthor. Dabei wich sie dem Meer aus Knochenhänden aus, das aus der Gruft der Erinnerung hervorquoll.

Das Licht der Sonne verschwand hinter wirbelnden Wolken aus Schwärze, die wie das Meer in einem Sturm rollten. Als die Dunkelheit zur Mittagszeit über den Gerichtshof fiel, verstummten die verstreuten Cymrer. Dann erhob sich ein Schrei und wogte durch die Senke. Wortfetzen drangen durch den wieder einsetzenden Lärm.

»Die Tore! Die Tore sind offen!«

Inzwischen hatten sich die Leichen zu einer gewaltigen Welle aufgetürmt, welche die Erde und jene verschlang, die noch auf ihr standen. Das taumelnde Heer strömte über die Bergpässe wie Flüsse aus Blut. Die schimmernden Wasserfälle färbten sich rot mit dem Lehm der aufgebrochenen Erde. Der Boden des Gerichtshofs spuckte weitere Tote aus, und der Horizont verdunkelte sich immer neu unter dem Ansturm der Soldaten der Vergangenheit, die Anwyns Ruf beantworteten und die Luft mit dem Gestank des Grabes verpesteten.

Wellen aus blauem Licht fingen Rhapsodys Blick ein. Sie drehte sich um und sah, wie Ashe das Wasserschwert Kirsdarke, das in seinen Händen kochte, in großem Bogen schwang und die Schlachtreihe der Gefallenen zurücktrieb. Er hielt seine Stellung auf einem unversehrten Hügel. Um sich herum hatte er einige alte Krieger versammelt, und gemeinsam schlugen sie die Leichen mit Stecken, Laternen und allem anderen zurück, was man als Waffe einsetzen konnte. Die Männer kämpften Seite an Seite mit ihrem neuen Herrn, dem Enkel der Frau, die dieses Unheil über sie gebracht hatte. Der Herr der Cymrer, der die Nachfolge seiner Großeltern angetreten hatte, hielt die Welle der Toten so gut auf wie möglich.

»Arial«, rief er durch den Aufruhr. »Führe sie nach draußen!«

Sie wandte sich wieder um. Hinter ihm hatte sich eine große Menge zitternder Gwadd und Menschen versammelt, die zwischen dem aufquellenden Boden und den anbrandenden Leichen gefangen waren. Ein kleiner Streifen unversehrten Bodens war alles, was über dem klaffenden Loch übrig geblieben war, das den Weg zum Tor versperrte und von Dunkelheit umhüllt war. Die verängstigten Cymrer konnten entweder die Landbrücke nicht sehen, oder sie hatten zu viel Angst, den Abgrund zu überqueren.

Rasch zog sie die Tagessternfanfare. Die Klinge aus Elementarfeuer und Sternenlicht rauschte aus der Scheide und stieß ihren Ruf über dem Gebrüll im Gerichtshof aus. Die Verängstigten hörten den Laut, sahen den hellen Lichtblitz, scheuten zurück und zitterten.

Im Kopf hörte sie die Stimme Oelendras, ihrer Lehrerin, die sie geduldig unterwies.

Iliachenva’ar. Das Wort bedeutet »die das Licht an einen dunklen Ort bringt«.

Oder aus einem dunklen Ort.

Genau.

Rhapsody hielt das Schwert hoch. Es war ein großes, brennendes Leuchtfeuer, das durch die körnige Dunkelheit des Todes schnitt, die schwer in der Luft hing.

»Kommt!«, rief sie. Ihre Stimme schwang durch die Luft.

Sie sprang von dem Hügel, auf dem sie gestanden hatte, auf den Streifen Erde, hielt das Schwert vor sich und schritt auf der Brücke über den Abgrund in Richtung des Tores. Sie betete, dass das Heer, welches Tristan mitgebracht hatte, um Achmed zu bedrohen, jetzt vor dem Gerichtshof den Truppen der Toten standhielt. Der Glanz des Schwertes fiel auf die Landbrücke; die Flammen warfen ein helles, ungleichmäßiges Licht und beleuchteten den Pfad.

Die Massen, die in Entsetzen erstarrt gewesen waren, folgten ihr nun. Sie wurde schneller, schlug bisweilen nach einer fleischlosen Hand, die unter ihren Füßen aus dem Abgrund auftauchte, und führte die Menge entsetzter Seelen näher und näher an die Türen des untergehenden Gerichtshofes heran. In der Ferne sah sie das blendend blaue Licht von Ashes Schwert, das die Wogen der Dunkelheit zurücktrieb, die sich noch immer aus dem Bauch der Erde ergossen.

Hinter ihr schwoll die Menge an. Rhapsody wurde auf einer geschwinden Welle getragen, die durch das zerbrochene Tor brandete, das von Stephen und seinen Streitkräften aufgerissen worden war. Die Cymrer, die dem sicheren Tod in der Senke entkommen waren, sahen sich jetzt dem herannahenden Heer gegenüber. Von überall her, aus allen Bergen und Tälern drangen geschundene Körper zum Kampf herbei. Manche lebten noch, manche waren schon lange tot, und alle waren in der Umarmung gegenseitiger Vernichtung gefangen.

Außerhalb des Gerichtshofes verschwand die Kraftlosigkeit, doch Verzweiflung breitete sich aus. Frauen und Männer kämpften mit Fahnenmasten, Esskörben, bloßen Händen und allem, was sie zu fassen bekamen und beteiligten sich an der Schlägerei, vor der sie sich vorhin noch versteckt hatten. Stephen Navarne, Quentin Baldasarre und Martin Ivenstrand, die Führer der Provinzen, hatten große Gruppen zusammengeschlossen und eine zweite Front hinter den Soldaten von Roland errichtet. Stephen wandte sich an Tristan, der mit der letzten Welle aus dem Gerichtshof entkommen war.

»Gut, Vetter«, keuchte er und zog sein Schwert. »Ich weiß nicht, warum du dieses Heer zu einem Friedenstreffen mitgebracht hast, aber es war trotzdem ein Glücksfall.« Tristan nickte bloß. Seine Kleider waren zerrissen und vom getrockneten Blut seiner Vorfahren besudelt.

»Seht sie euch ein letztes Mal an«, sagte Baldasarre und deutete mit dem Griff seines Schwertes auf die Unglücklichen. »Mit den Zahnfelsen im Rücken und den Toten vor und neben ihnen haben sie keine Chance. Überhaupt keine.«

»Gute Götter«, flüsterte Ivenstrand und stellte sich neben die anderen. Die Truppen der Gefallenen befanden sich jetzt in der Reichweite der Soldaten von Roland. Das orlandische Heer hatte jedes Katapult in Stellung gebracht und schleuderte brennendes Pech auf den herannahenden Wall der Toten, doch es nützte nichts. Sie waren in der Minderzahl. Die Opfer der schrecklichen Schlachten aus dem Großen Krieg bildeten eine endlose Flut und strömten in Wellen voran. Sie hatten nichts anderes im Sinn als Vernichtung, mit der Anwyn ihre Demütigung rächen wollte.

Mitten im Getümmel hatte Achmed die Kanzel von Leichen gesäubert. Er erhaschte einen Blick auf seinen Sergeant-Major, der auf den Trümmern des Gerichtshofes stand. Der riesige Bolg nickte, und der König erwiderte seine Geste.

Grunthor warf den Kopf zurück und brüllte. Sein Schrei durchdrang den Lärm unter ihm. Er vibrierte durch die Erde, lockerte Steinplatten von den Bergen und rumpelte durch die Felsen. In der Hitze der Schlacht, die auf den Feldern um die Senke tobte, spürten die Kämpfer die Erschütterungen. Sogar die erweckten Toten, die Gefallenen, schienen bei diesem Laut innezuhalten.

Einen Augenblick später öffneten sich große Spalten in den Zahnfelsen. Die Wehre und Wachttürme wurden geöffnet. Die Berge schwärzten sich, als das Firbolg-Heer ausströmte und sich über die Felsen in die Steppe ergoss.

Grunthors Kriegsschrei wurde von einer halben Million Kehlen aufgenommen, über die Gipfel geschleudert, auf die Felder gebrüllt und in die Erde gebohrt. Die Soldaten von Roland, die in den Kampf mit den Toten verwickelt waren, spürten die Bolg kommen, so wie es vor einem Jahr gewesen war, doch dieses Mal zogen sie gegen einen gemeinsamen Feind ins Feld. Der wirbelnde Mahlstrom des Krieges wurde noch schwärzer, als die Bolg herankamen und sich zu den Menschen gesellten. Gemeinsam versuchten sie, die Toten zurück in ihre Gräber zu treiben.

Martin Ivenstrand ergriff Tristan Stewards Arm, als das Meer der Firbolg wie eine Welle über die Krevensfelder schwappte.

»Du hast doch gesagt, sie seien vernichtet«, rief er durch den ohrenbetäubenden Lärm.

»Das ... das waren sie«, murmelte der Herr von Roland. »Sie...«

Die Herzöge hatten gerade noch Gelegenheit, in Deckung zu gehen, als eine Kolonne Bolg-Soldaten dort entlang stapfte, wo sie soeben noch gestanden hatten. Sie grölten ein Kriegslied und lechzten nach Vernichtung.

Rhapsody stand über einem aufgerissenen Tal in der Ebene. Rings um sie herrschte das Chaos. Der Boden rumpelte unter den Erschütterungen des Kampfes und dem Donnern der Pferdehufe. Es fiel ihr schwer, in dem Getümmel aufrecht zu bleiben. Zwischen dem Kreischen und Klappern, das die Luft erfüllte, hörte sie ein beängstigend vertrautes Kriegssignal, eine schreckliche Kadenz, die immer näher kam.

Sie sah zitternd auf. In nicht allzu großer Ferne stieg ein wirbelnder Sturm aus Staub und schwarzen Erdklumpen unter dahinpreschenden Hufen in die Luft und kam mit jeder Sekunde näher. Im Innern dieses Sturmes ritt der blutbefleckte Krieger aus ihren Albträumen auf sie zu. Seine blauen Augen funkelten wild, und er trieb sein erschöpftes Reittier unbarmherzig an. Die Adern an seinem Hals und der Stirn traten aus seinem Gesicht hervor, das grimmig zusammengekniffen war.

Es war Anborn.

Er rief etwas; er schrie regelrecht, doch Rhapsody verstand ihn in dem Lärm nicht. Er lehnte sich aus dem Sattel nach rechts und streckte ihr den Arm entgegen. Der Horizont hinter ihm war schwarz vor Bewegung, die so fern und heftig war, dass Rhapsody keine Einzelheiten erkennen konnte. Rhapsody hielt die Arme ausgestreckt und wartete darauf, von ihm auf das Pferd gehoben zu werden.

Als sie dies tat, verdunkelte sich der Himmel über ihr. Die sengende Hitze der Schlacht wurde plötzlich von einem Wind vertrieben, der ihr durch Mark und Bein fuhr. Als ob sich die Zeit verlangsamt habe, sah sie, wie die Adern an Anborns Hals steif wurden, wie er die Zähne bleckte und den Mund zu einem gewaltigen Kriegsruf öffnete, der von dem allgemeinen Lärm übertönt wurde. Er blickte von ihr zum Himmel.

Sie schaute gerade hoch, als die Klaue des Drachen, der die Sonne verfinsterte, blitzschnell zuschlug und sie hochhob. Der Drache hielt sie zwischen seinen Krallen und entführte sie rasend schnell in die Luft wie die hilflose Beute eines Raubvogels.

Загрузка...