1

Yarim Paar, Provinz Yarim

Im Winter glich die trockene, rote Erde, die Yarim ihren Namen gegeben hatte, dem Wüstensand. Körniger Staub hing schwer in der stechend kalten Luft der zugrunde gehenden Provinz und peitschte sie wie ein rächender Winddämon.

Dieser blutrote, lehmige Sand war nun von dünnem, kristallenem Frost überzogen und glitzerte im ersten Licht des Morgens. Der Frost tünchte die zerfallenden Steingebäude und vernachlässigten Straßen und kleidete sie für kurze Zeit in ein leuchtendes Gewand, wie es Yarims Hauptstadt zweifellos vor langer Zeit einmal getragen hatte. Doch diese Anmut gab es jetzt nur mehr in der Erinnerung und den flüchtigen Augenblicken des rosafarbenen Dunstes zur Zeit des Sonnenaufgangs.

Achmed brachte sein Pferd auf der Spitze eines sanft gewellten Hügels zum Stehen, der zur zerfallenden Stadt hin abfiel. Er starrte auf das Tal, als Rhapsody nachdenklich neben ihm anhielt. Der Blick auf Yarim erregte in ihm das Entgegengesetzte Gefühl eines Blickes von der Steppe am Rande der Krevensfelder hoch zu Canrif. Während die Bolg das Gebirge für sich beanspruchten, das sich mit seinen Gipfeln hoch in den Himmel reckte, lag Yarim gebrochen, stinkend und vergessen am Fuß dieses Hügels wie festgebackener Schlamm, den ein ausgetrockneter Tümpel hinterlassen hat. Wo einstmals Größe geherrscht hatte, war nun nicht nur Verfall, sondern auch Mutlosigkeit eingekehrt, als hätte die Erde selbst die Ruinen des einstigen Yarim vergessen. Es war eine Schande.

Rhapsody stieg als Erste ab und ging zum Rand des Hügelkamms. »Im Licht der frühen Sonne sieht es schön aus«, sagte sie geistesabwesend und sah bis hinter die Stadtmauern.

»Flüchtig wie die Schönheit der Jugend«, meinte Achmed und saß ebenfalls ab. »Der Dunst wird rasch unter der brennenden Sonne verschwinden, und wenn das Glitzern fort ist, bleibt nichts als ein großer verwesender Leichnam übrig. Dann sehen wir in dieser Stadt die alte Hexe, die sie wirklich ist.« Er wäre froh gewesen, wenn sich der schimmernde Dunst schon aufgelöst hätte, denn der feuchte Nebel verbarg alle Schwingungen. Er könnte auch das Kennzeichen des alten Blutes verschleiern, das durch die Adern der F’dor-Brut floss, die irgendwo in diesem Schutthaufen versteckt war.

Ein unerklärlicher Schauer durchströmte ihn, und er wandte sich an Rhapsody: »Hast du etwas gespürt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts Ungewöhnliches. Was war es?«

Achmed schloss die Augen und wartete darauf, dass die Schwingungen zurückkehrten. Doch nun spürte er nichts mehr außer den kalten, stillen Windstößen. »Ein Pricken auf der Haut«, sagte er nach einem Augenblick, als er erkannte, dass er dieses Gefühl nicht mehr heraufbeschwören konnte.

»Vielleicht spürst du Manwyn«, meinte Rhapsody. »Wenn ein Drache etwas mit seinen Sinnen untersucht, verspürt man manchmal ein Frösteln, eine Gegenwart. Es ist beinahe wie ... ein Summen; es prickelt.«

Achmed beschirmte die Augen. »Ich habe mich gefragt, was du wohl in Ashe gesehen hast«, sagte er bitter und starrte auf die morgendlichen Schatten, die sich allmählich westwärts von der Stadt entfernten. »Jetzt ist es mir klar. Manwyn weiß also, dass wir hier sind.« Er knirschte mit den Zähnen. Sie hatten gehofft, der Aufmerksamkeit der verrückten Seherin zu entgehen. Sie war ein unberechenbares Drachenkind, das vom Vater die alte Macht des Vorhersehens und von der Drachenmutter die Herrschaft über die Elemente geerbt hatte. Rhapsody schüttelte den Kopf. »Manwyn wusste bereits, dass wir kommen, noch bevor wir hier ankamen. Wenn jemand sie vor einer Woche, einem Tag oder einer Minute danach gefragt hätte, wäre sie in der Lage gewesen, es ihm zu sagen. Aber nun sind wir hier, und das ist die Gegenwart. Manwyn kann jedoch nur die Zukunft sehen. Ich glaube, es ist vorbei. Wir sind aus ihrem Bewusstsein verschwunden.«

»Hoffentlich hast du Recht.« Achmed sah sich um und suchte nach einer hohen Erhebung oder einem Gipfel, auf dem man Ausschau halten konnte. Schließlich erspähte er einen Felsen im Osten. Er stellte sein Gepäck auf den Boden und zog daraus ein Stück Tuch hervor, das einmal mit dem Blut des Rakshas getränkt gewesen war. Nun war es getrocknet und hatte dieselbe Farbe wie die Erde in Yarim. »Das ist die richtige Stelle. Warte hier.«

Rhapsody nickte und zog den Mantel enger um sich, während sie beobachtete, wie Achmed die kleine Erhebung hochlief. Sie war schon einmal Zeugin seines Jagdrituals gewesen und wusste daher, dass er vollkommene Stille und Reglosigkeit benötigte, um einen unruhigen Herzschlag im Wind zu erlauschen. Sie streichelte sanft die Pferde und hoffte, sie auf diese Weise stillhalten zu können.

Achmed erkletterte die Spitze des Vorsprungs. Er stand im Wind, der ihn von allen Seiten umgab, und schaute hinunter auf das Skelett der Stadt. Irgendwo in ihren zerfallenen Gebäuden versteckte sich eine befleckte Seele, eines von neun Kindern, die vom alten Bösen in einem absichtsvollen Feldzug von Vergewaltigung und Vermehrung gezeugt worden waren. Bei diesem Gedanken brannte das Blut in Achmeds Adern.

Mit einer einzigen sanften Bewegung zog er den Schleier fort, der sein Hautgewebe verdeckte, das Netz aus empfindlichen Nerven und hervortretenden Venen, die Hals und Gesicht durchfurchten. Er warf Rhapsody einen letzten Blick zu. Sie lächelte, blieb aber reglos. Achmed wandte sich ab.

Rhapsody wusste, dass er wegen seines dhrakischen Erbes empfänglich für die Beseitigung, nicht aber für die Rettung von allem war, was das Blut des F’dor in sich trug. Wenn er Erfolg hatte, wäre es das erste Mal, dass jemand aus seiner Rasse ein Geschöpf, das von einem F’dor gezeugt war, nicht sofort nach der Gefangennahme tötete.

Die natürliche Gleichgültigkeit, welche die Dhrakier verspürten, wenn sie diesem böswilligen Abschaum gegenüberstanden, hatte ihn verlassen. Er zitterte vor Hass. Er musste unbedingt die Ruhe bewahren und seine rassistischen Neigungen unterdrücken, damit seine Wut nicht die Oberhand gewann. Er durfte dieses Dämonenkind und all seine abscheulichen Geschwister nicht einfach abschlachten. So schluckte er, atmete flach und versuchte all seine Gedanken auf das große Ziel zu richten.

Jenes alte Blut, das sanft in der Ferne wie ein Hauch von Parfüm auf einem quirligen Markt pulsierte, konnte ihm dabei helfen, den F’dor selbst zu finden.

Achmed schloss die Augen und verdrängte die Landschaft aus seinem Bewusstsein. Er leerte den Kopf von allen bewussten Gedanken und richtete die ganze Aufmerksamkeit auf den Rhythmus seines eigenen Pulses. Wie immer in dieser Phase der Jagd konnte er beinahe die Wachskerzen in dem Kloster riechen, in welchem er aufgewachsen war, und er hörte wieder die Stimme seines Lehrers.

Kind des Blutes, hatte Pater Haiphasion leise mit seiner rauen Stimme gesagt. Bruder aller Menschen, aber verwandt mit niemandem. Der dhrakische Weise war nun schon seit mehr als tausend Jahren tot.

Die Jagd forderte von ihm ein gewaltiges Opfer, sowohl geistig als auch spirituell. Der Macht dieser Worte war es zuzuschreiben, dass es ihm möglich war, sein kirai, die Suchschwingungen, die allen Dhrakiern gegeben waren, auf die Herzschläge von Nicht-F’dor einzustellen, was eine einzigartige Gabe darstellte. Bruder aller Menschen. Während beinahe seines ganzen Lebens war er immer nur als der Bruder bekannt gewesen, ein tödlicher Verwandter jener Opfer, deren Puls für kurze Zeit mit seinem im Einklang geschlagen hatten.

Dein Selbst muss sterben, hatte ihn seine Großmutter gelehrt. Sie, die alte Lehrerin und Wächtern, war erst kürzlich verstorben. Es war aber mehr als sein Selbst. In dem Augenblick, da er seine eigenen Schwingungen unterdrückte, verschwand sogar der Teil von ihm spurlos, den er seine Seele nennen konnte, und wurde von dem fernen, pochenden Rhythmus seines Zieles ersetzt.

Er hatte sich gefragt, was wohl geschehen würde, wenn er einmal nicht der erfolgreiche Pirschjäger wäre, sondern unterliegen würde, während er seinem kirai folgte. Der Ort, an den sich sein Selbst während der Jagd zurückzog, war zweifellos die Leere, ein gewaltiger leerer Raum, das Gegenteil des Lebens. Er vermutete, dass jeder Gedanke daran sein Glück wenden und seinem Opfer die Gelegenheit geben könnte, ihn zu überwältigen und zu töten. Dann würden sich alle Teile seines Selbst sofort auflösen und in jenem leeren Raum zu winzigen Teilchen werden, die auf ewig wie Funken brennen und ihn jeglichen Seins im Nachleben berauben würden.

Das war eine Gefahr, mit der er sich abfinden konnte.

Alle Gedanken wichen zurück und wurden von einem fernen Pochen ersetzt, das mit jedem Atemzug lauter wurde.

Der Puls war für ihn gleichzeitig fremd und vertraut. Es lag eine Ahnung der alten Welt darin, ein Summen, das in den Adern jeder Seele auf serenischem Boden gesteckt hatte. Die tiefe Magie der Insel Serendair hatte einen ganz eigenen Klang und durchdrang das Blut aller, die dort gelebt hatten. Doch das war nur eine winzige Spur in dem Rhythmus, der den ganzen Herzschlag ausmachte.

Als er zum ersten Mal gelernt hatte, auf seine Haut zu lauschen, hatte er das Dröhnen von Trommeln gehört. Zahllose chaotische, kakophone Rhythmen waren unmittelbar auf ihn eingedrungen; sie hatten gedroht, ihn zu überwältigen und wie die Echowellen in einer Schlucht zu überspülen. Hier aber hörte er kaum ein Wispern.

Weil das Blut, das durch das Herz der Dämonenbrut floss, beinahe ausschließlich von dieser Welt war, konnte er dessen Rhythmus nicht erkennen und es nicht ausmachen. Das Blut der neuen Welt umwirbelte das verschwindende Flattern der alten Welt wie Meereswellen, wie ein Sturm aus vertrockneten Blättern die letzten Spuren des Herbstes. Bisweilen vermochte er einige ihrer Merkmale zu er spüren; er jagte ihnen mit seinem Atem nach, schmeckte die Mischung und Würzung der Töne und suchte nach dem tiefen Schattenlaut, hinter dem er her war.

Es war wie die Wärme eines Pulses, der über ihn hereinbrach und der von der unbekannten Mutter des Kindes kommen musste, gefolgt jedoch von einer Eiseskälte, die sein Vater, der Rakshas, hinterlassen hatte, jenes künstliche Wesen, das all diese verfluchte Nachkommenschaft für seinen dämonischen Meister gezeugt hatte. Auch lag etwas Brutales darin, etwas Rotäugiges, Wildes, Grausames. Rhapsody hatte gesagt, der F’dor habe bei der Erschaffung des Rakshas das Blut von Wölfen und anderen Nachtgeschöpfen verwendet. Vielleicht verhielt es sich so.

Mit jedem Augenblick wurde der alte Rhythmus ein wenig lauter und klarer. Achmed öffnete die linke Hand und hielt sie hoch, damit die Windstöße über die Innenfläche tanzen konnten. Jedes neue Atemholen wurde langsamer und tiefer, und jedes Ausatmen abgemessener. Als sein Atem mit dem des in der Ferne schlagenden Herzens zusammenfiel, wandte er alle Aufmerksamkeit seinem eigenen Herzen und dem Druck zu, den es auf die vom Blut durchpulsten Venen und Adern ausübte. Mit reiner Willenskraft verlangsamte er den Schlag, bis er gerade noch ausreichte, um ihn am Leben zu erhalten. Er vertrieb alle streunenden Gedanken aus seinem Kopf und leerte ihn vollkommen bis auf die Farbe Rot. Alles andere verblasste und ließ vor seinem inneren Auge eine Vision von Blut zurück.

Blut wird das Mittel sein, hatte es in der Prophezeiung geheißen.

Kind des Blutes. Bruder aller Menschen, aber verwandt mit niemandem.

Achmed hielt sich vollkommen reglos und still. Er lockerte den Schlag seines eigenen Herzens, damit er mit dem in der Ferne zusammenfiel. Wie beim Fangen eines Schwungrades gelang es ihm zuerst nur bei jedem fünften Herzschlag, dann bei jedem zweiten, bevor völliger Gleichklang herrschte. Er klammerte sich an den winzigen Halt des alten Blutes, folgte ihm durch ferne Adern, jagte seinem Fluss nach, griff nach dem Anschwellen und Verebben, bis er schließlich in den Rhythmus seines Opfers kroch. Die Herzschläge gerieten in Gleichklang.

Doch dann, als die Fährte klar wurde und sich seine Beute unfehlbar mit ihm verbunden hatte, zerschmetterte ein anderer winziger, misstönender Rhythmus den Einklang. Achmed packte sich an die Brust und taumelte zurück, während Schmerzen wie ein Vulkan in ihm explodierten.

Hinter seinem schmerzerfüllten Ächzen hörte er Rhapsodys Keuchen. Sein Körper rollte den felsigen Hang hinunter; die Glieder schlugen gegen einen gefrorenen Sims. Achmed kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, sah von Zeit zu Zeit etwas und sank dann in die Dunkelheit dazwischen. Die beiden Herzschläge, die er aufgespürt hatte, rangen mit seinem eigenen; ihm ging die Luft aus. Er biss die Zähne zusammen. Der Himmel schwamm in blauen Kreisen und wurde dann schwarz.

Er spürte, wie Wärme ihn umgab. Der Wind, der ihm in der Nase juckte, war plötzlich süßer geworden. Achmed öffnete die Augen und sah Rhapsodys Gesicht vor den Kreisen schwimmen.

»Gute Götter! Was ist passiert?« Ihre Stimme zitterte seltsam.

Achmed machte eine unbeholfene Handbewegung und rollte sich in Seitenlage zu einem Ball zusammen. Er sog mehrmals sorgfältig und abgemessen die Luft ein. Der kalte Wind stach in seiner brennenden Brust. Er bemerkte beiläufig, dass Rhapsody noch neben ihm war, doch er unterließ es, sie zu berühren. Sie lernt, dachte er und war seltsam zufrieden. Mit Sand zwischen den Zähnen und unter schmerzhaftem Stöhnen zwang er sich, sich hinzuhocken. Sie kauerten schweigend auf dem windigen Hügel oberhalb der zerfallenden Stadt. Er atmete heftig ein und richtete sich dann zitternd auf, wobei er auf Rhapsodys angebotene Unterstützung verzichtete.

»Was ist passiert?« Ihre Stimme war ruhig.

Langsam schüttelte er den Sand aus den Kleidern, legte wieder den Schleier vor und starrte hinunter auf Yarim. Die Stadt hatte sich ein wenig belebt, während er allmählich zu sich gekommen war. Nun tröpfelte menschlicher und tierischer Verkehr durch die ungepflegten Straßen und erfüllte die ferne Luft mit Lärm.

»Hier ist noch jemand«, sagte er.

»Noch ein Kind?«

Achmed nickte langsam. »Noch ein Herzschlag. Noch eine Brut.«

Rhapsody ging zurück zu den Pferden und zog eine der Satteltaschen auf. Sie holte ein in Öltuch gebundenes Notizbuch heraus und trug es zu Achmed auf den Hügelkamm.

»Rhonwyn hat gesagt, es gebe nur einen in Yarim«, meinte sie und blätterte das Buch durch.

»Hier steht es: Einer in Sorbold der Gladiator , zwei in Hintervold, einer in Yarim, einer in der östlichsten Provinz der Neutralen Zone, einer in Bethania, einer in Navarne, einer in Zafhiel, einer in Tyrian und das Ungeborene Kind in den lirinschen Feldern südlich von Tyrian. Bist du sicher, dass der zweite Herzschlag einem dieser Kinder gehört?«

»Nein, natürlich bin ich mir nicht sicher«, spuckte Achmed gereizt aus und schüttelte weiteren Sand aus Haaren und Mantel. »Vielleicht ist es gar kein anderes Kind. Aber irgendwo hier in der Nähe gibt es einen weiteren Puls mit demselben Makel und vom selben umwölkten Blut.«

Rhapsody zog ihren Mantel noch enger um sich. »Womöglich ist es der F’dor selbst.«

Загрузка...