42

Die zäh verstreichende Zeit weigerte sich, vorwärts getrieben zu werden. Frische Morgen verwandelten sich in warme Nachmittage aus schräg einfallendem Sonnenlicht, die sich hin zu süßen, trägen Abenden und der tiefen Dunkelheit der Nächte wandten, nur um mit der aufgehenden Sonne den Kreislauf von neuem zu beginnen. Es war genau so wie überall, doch irgendwie schienen Rhapsody die Tage länger zu sein, wobei sie dies sehr schätzte. Im Reich der Rowans war es friedlich und schläfrig, obwohl die Kinder recht unempfindlich gegen die einschläfernde Atmosphäre zu sein schienen. Die Kinder waren glücklich hier; sie wurden stärker und gesünder unter den wachsamen Augen des Fürsten und der Fürstin sowie unter der tröstenden Liebe ihrer schönen, jungen Großmutter.

Die Jahreszeiten in der Lichtung änderten sich nicht; es war immer Frühling, kurz vor dem Sommer. Obwohl der Herbst Rhapsodys Lieblings-Jahreszeit war, vermisste sie ihn nicht. Auch das war ein Teil des Zaubers dieses Ortes: geliebte Freunde und vertraute Dinge verblassten zur reinen Erinnerung; man bemerkte ihre Abwesenheit kaum. Die Zeit verstrich einfach, blind gegen alles.

Die einzige Schwierigkeit waren die Nächte. Wenn die Sonne unterging, sah Rhapsody über die Schulter; der Fürst oder die Fürstin nickten ihr zu und bedeuteten ihr, es sei Zeit. Sie hatte diesen Zeitplan selbst gewählt; er gab ihr die Gelegenheit, ihre Abendgebete zu singen, und sie wusste, dass die Fürstin in ihrer himmelblauen Robe am Ende des Verfahrens jedes Kind in den Schlaf küsste. Also war das der beste Zeitpunkt. Ihre Nächte wurden sowieso seit langem von verstörenden Träumen heimgesucht; sie war der Ansicht, es könnte kaum schlimmer werden.

Sie hatte Unrecht.

Sie gewöhnte sich einfach nicht daran. Die Schmerzen waren unerträglich. Sie schrie unter ihnen laut auf, weil sie wusste, dass niemand sie in dem runden Gebäude hören konnte, welches alle Geräusche schluckte.

Zu Beginn hatte sie sich am Rand des Bettes festgehalten und an das Holz geklammert, bis ihr die Finger wehtaten. Verzweifelt hatte sie nach einem Weg gesucht, die Schmerzen zu lindern. Es war sinnlos. Sie spürte jeden Nadelstich so stark, als würde ihr ein Stück Fleisch aus der Brust gerissen und ihr Herz zerfetzt. Es waren Schmerzen, die sie sich nie hätte vorstellen können. In gewisser Weise war es eine letzte Gemeinschaft mit Ashe; wenigstens verstand sie nun die Qualen, die er ertrug.

Sie versuchte sich auf die Kinder zu konzentrieren und auf das Wissen, dass sie nichts verspürten, weil Rhapsody ihnen die Schmerzen wegnahm, doch das funktionierte nur bis kurz nach dem Beginn des Verfahrens. Schließlich erkannte sie die Nutzlosigkeit all ihrer Versuche und akzeptierte, dass es ihr nicht gelang, gleichmütig oder tapfer zu sein. Sie musste an Stelle der Kinder leiden. Sie hatte es freiwillig auf sich genommen. Als sie zwischen den Operationen auf dem Boden lag, weil sie in ihren Zuckungen aus dem Bett gefallen war, tröstete sie sich mit dem Bewusstsein, dass die Kinder in Frieden schliefen. Es gab ihr ein wenig Kraft, damit sie weitermachen konnte.

Als sie nach einer besonders grausamen Sitzung schluchzend auf dem Boden lag und Luft zu holen versuchte, betrat Fürstin Rowan den Raum und nahm Rhapsody in die Arme. Sie fuhr mit ihren warmen Händen über das goldene Haar der jungen Frau.

Die Schmerzen und Schluchzer verebbten. Sie nahm das tränenüberströmte Gesicht der Sängerin zwischen die Hände und sah ihr tief in die Augen.

»Sie sind stärker und älter geworden. Aria ist kein Baby mehr, und Quan Li ist schon beinahe eine Frau. Einige von ihnen können es jetzt selbst ertragen. Warum lässt du es nicht zu?«

Rhapsody schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es geht mir gut.«

Die Fürstin sah sie ernst an. »Du verbirgst etwas vor mir. Was ist es?«

Rhapsody schaute fort, doch die warmen Finger drehten ihren Kopf wieder zurück.

»Sag es mir«, meinte die Fürstin. Rhapsody wusste, dass sie die Antwort schon kannte und nur darauf wartete, dass die Sängerin es selbst aussprach. Ihre Blicke trafen sich.

»Meine Mutter«, sagte sie.

»Was ist mit ihr?«

»Ich weiß jetzt, was sie gefühlt und wie sie gelitten hat, als ich ging. Es war, als würde ihr ein Stück des Herzens herausgerissen. In gewisser Weise glaube ich, dass ich jetzt dafür Buße leiste.«

Die Fürstin berührte zart ihr Gesicht. »Du trägst großen Schmerz um deine Mutter im Herzen, nicht wahr?«

Rhapsody senkte den Blick. »Ja.« Sie spürte die Wärme des Lächelns über sich.

»Du hast nun schon seit einem Zeitraum, der drei Jahren entspricht, die körperlichen Schmerzen dieser Kinder ertragen, wie es eine Mutter tun würde, weil der Gedanke, dass die Kleinen diese Schmerzen selbst erleiden müssten, für dich noch schlimmer ist. Was glaubst du, wie würde sich deine Mutter fühlen, wenn sie wüsste, dass ihr Kind so große und unnötige Schmerzen um ihretwillen erleidet?«

Rhapsody schaute in die himmelblauen Augen der Fürstin. Die Erkenntnis kam langsam. Als sie da war, nahm Fürstin Rowan ihre Hand.

»Meine Schuld schmerzt sie noch mehr.«

Die Fürstin lächelte. »Lass es zu, dass du geheilt wirst, mein Kind, denn ansonsten wird deine Mutter es nie sein.«


Als Rhapsody in jener Nacht in der tiefen Dunkelheit ihres Zimmers schlief, öffnete Fürstin Rowan die Tür und trat ein. Sie hatte eine kleine, parfümierte Kerze bei sich, die mit Duftholz umwunden war. Rhapsody schlug die Augen auf, doch die Fürstin schüttelte nur den Kopf und stellte die Kerze auf den Tisch neben dem Bett. Sie beugte sich über die ruhende Sängerin und küsste sie sanft auf die Stirn, dann ging sie so leise, wie sie gekommen war. Kurz darauf öffnete sich die Tür erneut. Rhapsody setzte sich überrascht auf, als die junge Frau lächelnd hereinkam, sich auf den Stuhl setzte und die Füße auf das Bett legte. Sie holte ein langes, dünnes Messer hervor, legte die Hand auf das Knie und stach sich mit der Klinge spielerisch zwischen die Finger.

»Hallo, Rhaps«, sagte Jo.

Für einen Moment konnte Rhapsody nur die Bettdecke packen und aufzuwachen versuchen, doch der süße Duft der Kerze lag schwer auf ihren Lidern. Schließlich brachte sie genug Stärke auf, um sich zu erheben und nach dem Knie ihrer Schwester zu greifen.

»Nicht«, sagte Jo freundlich, ohne von ihrem Messerspiel aufzusehen. Rhapsody lehnte sich rasch gegen das Rückenteil des Bettes. Plötzlich war ihr Kopf leicht, und ein Unwohles Gefühl von Entsetzen und Freude erfüllte ihren Magen.

»Bist du das wirklich, Jo?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte. Sie erkannte sie durch den dichten Schleier selbst nicht wieder.

»Natürlich nicht«, erwiderte Jo, die noch immer mit ihrem Spiel beschäftigt war. »Du siehst nur das, was deine Erinnerung dir eingibt.« Sie schaute hoch, und ihre Blicke trafen sich zum ersten Mal. »Aber meine Liebe ist bei dir. Du musstest mich sehen, also bin ich hergekommen, zumindest für kurze Zeit.«

Rhapsody nickte, als verstünde sie, aber sie tat es nicht. »Du bist also hier? Im Reich der Rowans? Zwischen den Welten?«

Jo schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin im Nachleben. Aber ich werde immer hier sein, wenn du mich brauchst, Rhaps. Das ist das Wenigste, was ich für dich tun kann, nach allem, was du für mich getan hast.«

Rhapsody rieb sich benommen den Kopf. »Ich verstehe das nicht.«

»Natürlich nicht.« Jo steckte das Messer wieder in ihren Stiefel, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust. »Du wirst es nie verstehen. Und ich kann es dir auch nicht erklären. Es übersteigt dein Begriffsvermögen.« Ein schiefes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Komisch, nicht wahr? Im Leben war es immer so, dass du mir die Dinge zu erklären versucht hast, die ich nicht verstanden habe.«

»Erzähle mir vom Nachleben, Jo«, bat Rhapsody mit erstickter Stimme.

»Das kann ich nicht. Nun, ich kann es, aber du wirst es nicht verstehen. Du kannst es nicht. Um es zu begreifen, muss man durch das Tor des Lebens getreten sein. Hier an diesem Ort kannst du nur wenig von dem sehen, was dort hindurchgegangen ist, weil es ein Ort des Übergangs ist. Jetzt kennst du nur die Dinge, die du auf deiner Seite des Schleiers der Freude gekannt hast. Sobald du durch das Tor geschritten bist, weißt du alles. Es tut mir Leid, Rhaps. Ich wünschte, ich könnte es dir erklären.«

»Bist du glücklich, Jo?«

Ihre Schwester lächelte. »Ich bin zufrieden.«

»Aber nicht glücklich?«

»Glücklich ist ein Wort von deiner Seite des Tores. Es ist nur ein Teil der Zufriedenheit. Du kannst es nicht verstehen; wenn du dich dabei besser fühlst, solltest du glauben, dass ich glücklich bin. Das stimmt genau so wie alles andere.«

»Ich will, dass du glücklich bist, Jo. Und es tut mir so Leid, was ich dir angetan habe.«

Das Bild ihrer Schwester betrachtete sie nachdenklich.

»Nun, wenn du willst, dass ich glücklich bin, darfst du dich nicht schuldig fühlen. Das ist etwas, das ich ebenfalls empfinden kann. Rhaps, du hast mir die Möglichkeit gegeben, ewig zu leben.

Du bist die erste Person gewesen, die mich je geliebt hat. Weißt du, das ist der Schlüssel. Es sind die Verbindungen, die wir im Leben eingehen und die es uns ermöglichen, im Nachleben die Liebe zu empfinden. Du hast mir gesagt, dass meine Mutter mich geliebt hat, und du hattest Recht. Sie liebt mich. So hast du mir geholfen, sie hinter dem Tor zu finden.«

Jo stand auf.

»Ich muss gehen. Nicht!«, sagte sie, als Rhapsody sich wieder aufrichten wollte. »Arbeite mit diesen Kindern weiter, Rhapsody. Du machst dir einen Spaß daraus, dich als ihre Großmutter zu bezeichnen, aber die Bande zwischen ihnen und dem Nachleben verlaufen in beide Richtungen, wenn du weißt, was ich meine. Du sprengst gerade die Ketten, die sie in den ewigen Tod in der Gruft der Unterwelt ziehen könnten. Du weißt, dass ich Kinder nicht besonders mag, aber so etwas hat niemand verdient. Auf Wiedersehen.«

Die Tür schloss sich hinter ihr. Rhapsody blieb glückselig wie auch verwirrt zurück. Auch in den nächsten Nächten besuchte ihre Schwester sie. Der Traum dauerte jeweils nur wenige Augenblicke; daher gewöhnte sich Rhapsody daran, sofort das zu sagen, was ihr am meisten auf dem Herzen lag, sobald ihre Schwester durch die Tür kam. Sie versuchte immer noch, leichthin ›Auf Wiedersehen zu sagen, als Jo ihr eines Nachts eröffnete, sie könne nun nicht mehr kommen.

»Du hast die Antworten erhalten, die du am dringendsten gebraucht hast«, sagte sie, als Rhapsody gegen die Tränen ankämpfte. »Ich liebe dich; da ist nichts, was dir vergeben werden müsste. Und deiner Definition nach bin ich glücklich. Du solltest es auch sein, Rhaps.« Sie stand auf, beachtete die Bitten der Sängerin, sie solle doch bleiben, nicht weiter und schritt durch die Tür.

Trotz der beruhigenden Gerüche der Kerzen senkte Rhapsody den Kopf und überließ sich ihrem Kummer. Nun spürte sie eine sanfte Hand auf ihrer Stirn. Rhapsody sah im Schlaf auf und bemerkte, wie das Gesicht, das ihrem eigenen so ähnlich sah, sie anlächelte.

»Weine nicht, Emmy.« Die Hände ihrer Mutter waren sanft und schmeichelten ihr die Tränen aus dem Gesicht.

Schließlich war es überstanden. Eines klaren Tages, der sich nicht von den anderen unterschied, traf die Fürstin Rhapsody im Wald und streckte ihr die Hand entgegen. In ihr befand sich eine pfeildünne, kleine Phiole mit einer Flüssigkeit, die schwarz wie Pech war. Als Rhapsody sie verwirrt anschaute, lächelte die Fürstin.

»Nach all deinem Leiden hatte ich geglaubt, du würdest es sofort erkennen.«

Rhapsody riss die Augen weit auf. »Das ist es? Das ist das Ergebnis von sieben Jahren und von allen zehn Kindern?«

»Das ist alles, was übrig bleibt. Es ist bis zur Essenz seiner dämonischen Natur destilliert worden das Böse in seiner reinsten Form.«

Ein Schaudern durchlief die Sängerin. »Ist es in dieser Flasche sicher verwahrt?«

»Für eine Weile. Nicht für lange. Ich schlage vor, du legst es so schnell wie möglich in die Hände des Dhrakiers.« Sie öffnete die Handfläche; in ihr lag ein weiterer Behälter aus silbernem Hämatit, einem Mineral, den die Lirin Blutstein nannten. Er war wie ein Dachsparren geformt, und der Boden war mit Kork überzogen. Die Fürstin öffnete das steinerne Gefäß und steckte das gläserne hinein, dann verschloss sie es. Sie streckte Rhapsody die Hand entgegen.

»Das sollte in die Spitze der Scheide deines Schwertes passen, wohin die Klinge nicht reicht. Die Elementarkraft des Feuers und der Sterne wird es beschützen, bis du es demjenigen gibst, der damit nach dem F’dor suchen wird.«

Rhapsody nickte; sie hatte immer noch Angst davor, den Behälter zu berühren. »Soll ich jetzt gehen?«

»Ja.«

»Und was wird aus den Kindern?«

»Alle, die mit dir gehen wollen, dürfen das. Alle anderen können hier bleiben, wenn es ihr Wunsch ist. Sie haben sich das Recht des ewigen Friedens erkämpft.«

Rhapsody nickte und brachte ein Lächeln zustande. »Ich bin Euch für Eure Freundlichkeit und die des Fürsten ewig dankbar.« Widerstrebend nahm sie den Behälter entgegen. Die Fürstin sah sie ernst an. »Das musst du nicht sein, Rhapsody. Gefälligkeiten gehen für gewöhnlich mit Opfern einher. Daran brauche ich dich wohl nicht zu erinnern.«

Sie wollte gerade fragen, ob sie noch etwas schuldig sei, als die Kinder aus einer der Hütten strömten und lachend und rufend auf sie zuliefen. Die Fürstin lächelte sie noch einmal an und wurde dann undeutlicher, als die Luft um sie herum sich bewölkte. Rhapsody sah sich ängstlich um und bemerkte, dass Constantin in einiger Entfernung zu ihr stand. Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er kam herbei.

»Komm mit uns«, sagte sie und ergriff seine Hand.

Der Gladiator schüttelte den Kopf. »Nein, ich will hier bleiben.«

Tränen traten ihr in die Augen. »Warum?«

»Die Zeit ist noch nicht gekommen.« Seine Stimme war sanft und tief wie das Meer. Verzweiflung kroch in ihre Worte; der Schleier des Nebels wurde dichter. »Bitte komm mit, Constantin. Ich werde dich sonst nie wieder sehen.«

Alles, was von ihm sichtbar blieb, waren die klaren blauen Augen, die den Dunst wie Saphirstrahlen durchdrangen.

»Du wirst mich wieder sehen, eines Tages.« Er schloss die Augen und verschwand im Nebel. Sie rief seinen Namen, doch es antwortete nur der Wind in den Bäumen des Waldes. Rhapsody vergrub das Gesicht in den Händen und spürte das eisige Stechen ihrer Tränen.

»Rhapsody, sieh nur! Das Schwert!«

Sie schaute hoch; einige Fuß entfernt sah sie die Klinge der Tagessternfanfare, deren Flammen im Wind aufloderten. Es steckte noch immer mit der Spitze im Schnee. Die fallenden Flocken hatten den Griff bestäubt und bedeckten ihn bis zum Knauf mit einer dünnen weißen Kruste. Sieben Jahre waren im Reich der Rowans vergangen, doch es schien, als wäre sie weniger als einen Tag fort gewesen.

Sie dachte an Constantin, an den Blick seiner Augen in jener Nacht, als er ihr Abbild in den Armen gehalten hatte, an dieselben Augen, wie sie im Nebel hinter dem Schleier des Hoen verschwunden waren. Der Schleier der Freude, dachte sie und erinnerte sich an die traumhaften Tage dort und an die schrecklichen Nächte. Vor allem wirst du die Freude kennen lernen, hatte der Patriarch gesagt. Vielleicht konnte Constantin nun, da sie fort war, etwas davon finden.

Ein Schwall winterlicher Luft riss sie aus ihren Träumen. Sie sah hinunter auf die kleinen Gesichter, die sie erwartungsvoll anstarrten.

»Wohin gehen wir jetzt, Rhapsody?«

Sie lächelte sie an. »Nach Hause. Wir gehen nach Hause.«

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