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Die weiße Leinenbluse unter Tristan Stewards himmelblauem Samtwams schmiegte sich unangenehm fest um die Muskeln an Brust und Armen. Sie war durchnässt von Angstschweiß.

Seit Sonnenaufgang lief er auf und ab und eilte durch die langen Korridore außerhalb der Großen Halle seines Palastes. Bisweilen erinnerte er an einen Verurteilten, bisweilen auch an ein gefangenes Tier. Er trat einen Pfad in den Seidenteppich seines Arbeitszimmers, das als Ankleideraum eingerichtet worden war, fuhr sich immer wieder mit der Hand durch die Haare und verrückte dabei jedes Mal das zeremonielle Staatsband, das kunstvoll in seine Stirnlocken gewoben war.

Zum dritten Mal in dieser Stunde rief er James Edactor, den Kammerherrn, und blickte finster drein, als sich die Tür öffnete und hinter dem Mann rasch wieder schloss.

»Ja, Herr?«

»Ist sie schon da?«, platzte der Fürst von Roland heraus, drehte sich vor seinem Schreibtisch um und warf dabei einen Stapel Landkarten und Papiere zu Boden.

»Fürstin Madeleine?«

»Nein, du dämlicher Tölpel.« Tristan Steward sah ihn drohend an. »Habe ich dir nicht schon dreimal gesagt, dass die Abgesandte des Bolglandes sofort zu mir geschickt werden soll?«

Der Kammerherr räusperte sich. »Ja, Herr, aber wir konnten sie noch nicht finden.«

Der Fürst von Roland wurde blass. »Was? Was hast du gesagt?«

»Wir können sie nicht finden, Herr, es tut mir Leid. Sie hat gestern ihre Einladung am westlichen Tor vorgezeigt, aber sie ist nicht in Tannenhall erschienen, um ihr Quartier zu beziehen. Zweifellos ist sie irgendwo in der Stadt; vielleicht besucht sie Freunde.«

Der Fürst von Roland wirbelte herum und fuhr mit dem Arm wütend über den jüngst aufgestellten Ankleidetisch. Ein silbernes Tablett flog herunter und ein Hagel aus Parfumflaschen, Kämmen und Rasiermessern ging auf den Boden nieder. Der Kammerherr sprang aus dem Weg, um den umherfliegenden Glassplittern zu entgehen.

»Oh, du weißt es, nicht wahr?«, knurrte er und stürmte durch die Trümmer auf die Tür des Arbeitszimmers zu. »Sie ist entführt oder geschändet worden oder Schlimmeres.« Oder sie trifft sich mit einem der anderen Herzöge und Adligen in ihren privaten Gemächern im Innern Bethanias, dachte er. Du weißt, Edactor, dass sie mit Juwelen behängt wurde, dass man ihr Reichtum und eine Flucht aus dem Bolgland im Gegenzug für ihre Dienste versprochen hat.

In diesem Augenblick könnte sie nackt und mit schimmernder Haut in feinsten Seidenlaken liegen und die wunderbaren Beine um einen bleichen Brustkorb schlingen; sie könnte sich Ivenstrand oder Baldasarre oder MacAlwaen hingeben, während ich an ihrer Stelle sein sollte.

Bei diesem Gedanken quollen frische Schweißperlen aus seiner schon feuchten Stirn. Vielleicht war alles längst vor ihrer Ankunft vorbereitet gewesen; vielleicht hatte einer der Botschafter um sie geworben, der an den Hof von Ylorc gekommen war, um für einen von Tristans Rivalen dem verachteten Bolg-König seinen Tribut zu entrichten. Vielleicht lagen sie jetzt miteinander im Bett, lachten ihn aus, liebten sich zwischen Ausbrüchen von Scherzen auf seine Kosten und kicherten zwischen ihren sengend heißen Ausschweifungen über seine drohende Heirat mit dem Biest von Canderre.

Das Entsetzen auf dem Gesicht des Kammerherrn half wenig, seine Gedanken zu klären. Wut und manchmal auch etwas Dunkleres hämmerten hinter seinen Augen und erfüllten ihn mit schmerzhafter Erregung. Seine Hände zitterten wild.

»Geh zum Hauptmann des Palastes und sag ihm, er soll die Straßen durchkämmen. Sucht sie. Ich will sie vor der Hochzeit sehen, hier in meinem Arbeitszimmer. Ich muss wichtige diplomatische Dinge mit ihr besprechen. Erst danach kann ich mich ganz darauf konzentrieren, mein Leben fortzuwerfen und mich für alle Zeiten an diese Hexe von Canderre zu binden. Ist das klar, Edactor?« Er ergriff die Klinke und zog die schwere Tür auf, deren eiserne Angeln ein nachdrückliches Kreischen ausstießen. »Finde diese Frau und ...«

Er hielt inne. Beim letzten Wort brach seine Stimme wie die eines Jugendlichen. Vor der Tür stand ein zitterndes kleines Mädchen in einem aufgeplusterten weißen Kleid und mit Blumen in den Haaren. Sie war eine von Madeleines Mägden und brachte ihm das traditionelle Bräutigamsmahl. Das Tablett war beladen mit Torten, dampfendem Tee, frischem Haferbrei und duftenden Würsten. Das Bräutigamsmahl wurde üblicherweise von der Braut am Morgen der Hochzeit selbst zubereitet und war ein Versprechen auf die zukünftigen Mahlzeiten, die sie als Ehefrau kochen würde, doch zweifellos hatte Madeleine lediglich angeordnet, dass es von den Palastdienern gekocht werden solle. Das konnte Tristan ihr kaum zum Vorwurf machen. Er hatte dasselbe mit den Blumen gemacht, die er eigentlich mit eigener Hand hätte pflücken und ihr als Bräutigam übergeben müssen. Er sah das Mädchen angeekelt an und hustete.

»Finde diese Frau, Edactor, und wenn es dir gelungen ist, danke Madeleine für dieses wunderbare Frühstück. Sage ihr, dass ihr ergebener Bräutigam seine Liebste vor dem Feueraltar in der Basilika erwartet.«

Ashe war beinahe am nordwestlichen Tor Bethanias angekommen, als er ein seltsames Zittern auf der Haut verspürte.

Die Sonne erklomm soeben den Horizont, beleuchtete sein Gesicht, erhellte den Weg vor ihm und warf seinen grotesk verlängerten Schatten nach hinten. Vor ihm erhoben sich die Türme von Bethania in den Himmel, um die aufgehende Sonne zu begrüßen; sie glänzten vor Verheißung. In der Tiefe dieser Straßen, hinter der Stadtmauer, wartete Rhapsody auf ihn. Es war ein heimliches Treffen, das sie bereits im vergangenen Herbst geplant hatten. Er bemühte sich, seine freudige Erregung im Zaum zu halten. Die Schmerzen, die ihm früher andauernd Brust und Leib durchbohrt hatten, waren fort. Freude lag im Einatmen der frischen, kalten Luft Freude am Leben, zum ersten Mal seit seiner Kindheit.

Doch jetzt, kaum eine Meile vom nordwestlichen Tor entfernt, knisterte etwas in der Luft hinter ihm und weckte den Drachen in ihm.

Ashe zügelte den Wallach, den er vom Schlachtfeld auf den Krevensfeldern mitgenommen hatte, drehte sich um, schmeckte den Wind und erlaubte seiner Drachennatur ein tieferes Erspüren. Am äußersten Rand seines Bewusstseins fühlte er verstohlene Bewegungen. Dunkle Schatten, verlängert wie sein eigener unter der Morgensonne, krochen von jenseits des westlichen Phon-Ufers heran. Auch wenn der Drache alle Einzelheiten der Welt in seiner Umgebung deutlich spürte, konnte Ashe nicht in die Herzen der Menschen blicken. Doch er zweifelte nicht daran, dass seine unheilvollen Vorahnungen berechtigt waren.

Schwarze Wut zuckte durch seine Gedanken und hallte in seinem ganzen Körper wider. Ein weiterer Einfall, eine weitere Machenschaft des F’dor. Ein weiterer Angriff, der es dem Dämon unzweifelhaft erlauben würde, die Arglosen zu überraschen und unschuldiges Blut zu vergießen. Er war es gewohnt, solche Einfälle zunichte zu machen.

Nicht aber dann, wenn die Frau, die er liebte und die von ihm eine scheinbare Ewigkeit getrennt gewesen war, sich ganz in der Nähe befand. Sein Verlangen, Rhapsody in ihrer Hochzeitsgarderobe zu sehen, war in den letzten Monaten das Einzige gewesen, das ihn vom Wahnsinn ferngehalten hatte.

Ashe sah zurück auf die erwachende Stadt, die in der Morgendämmerung zum Licht fand. Er brummte eine Reihe hässlicher Flüche, zerrte an den Zügeln, wandte sich wieder nach Westen und ritt auf Bethania im strahlenden Licht des Tagesanbruchs zu, das nun längere, zornigere Schatten vor ihm warf.

Allmählich verzweifelte Rhapsody. Die große Uhr im Glockenturm des Herrscherpalastes hatte schon zweimal die Viertelstunde geschlagen, seit sie an der Straßenecke stand und versuchte, eine vorbeifahrende Kutsche anzuhalten. Sie hatte den ganzen Nachmittag über vorsichtig aus dem Gitterfenster der verlassenen Zisterne gespäht und dabei festgestellt, dass in geringen zeitlichen Abständen Kutschen vorbeifuhren, deren Fahrer nach Kundschaft riefen. Jetzt aber lagen die Straßen des nördlichen Bethania verlassen da. Alle Bewohner waren entweder in der Palasthalle und bereiteten sich auf die Hochzeit vor, oder sie standen vor der Feuerbasilika und hofften, einen Blick auf das königliche Paar zu erhaschen. Zweifellos wurde augenblicklich jede verfügbare Kutsche dazu benutzt, die geladenen Gäste von Tannenhall zur Basilika zu fahren, auch wenn diese nur wenige Straßen entfernt lag. Enttäuscht stampfte sie mit dem Fuß auf. Wie dumm war es von ihr gewesen, die Annehmlichkeiten und die räumliche Nähe eines Gästehauses gegen eine einsame Nacht in einer steinernen Zisterne einzutauschen. Ashe war nicht gekommen. Sie hatte die Nacht damit verbracht, bei Kerzenschein Sonette in ihr zerfleddertes Sudelbuch zu schreiben und ihr Herz davon abzuhalten, sie zu verraten. Bei Sonnenaufgang hatte sie es aufgegeben, einschlafen zu wollen, und war zum nördlichen Brunnen gegangen. Sie hatte Wasser geholt und sich gewaschen, bevor sie sich zur Hochzeit umgezogen hatte. Der Platz, auf dem der Brunnen stand, war von zänkischen Männern und Frauen, kreischenden und vor Aufregung über die Hochzeit wie verrückt herumrennenden Kindern überfüllt gewesen. Es war einfach gewesen, herzukommen und wieder zu gehen, ohne dass jemand sie bemerkte.

Nun war sie angezogen und fertig, wusste aber nicht, wie sie zur Hochzeit kommen sollte. Das Kleid aus steifer Amethystseide war wundervoll; sie hatte sich in der vergangenen Nacht an der Berührung des Stoffes erfreut und war mit den Händen an ihm auf und ab gefahren, um alle Falten zu glätten, die sich auf dem Weg in ihr Versteck gebildet hatten. Im Morgenlicht war die Farbe sogar noch wunderbarer dunkel und voll und genau zu dem glitzernden Schmuck passend, den sie dafür gekauft hatte. Ihre Schuhe aus Satin in der Farbe des Kleides würden den langen Weg zur Basilika durch den dreckigen Schnee auf dem Straßenpflaster nie überstehen. Und ihrem Kleid würde es auch nicht besser ergehen.

Sie schaute nervös die leere Straße hinauf und hinunter und fragte sich, ob ihre Einkäufe und ihre Vorbereitungen, ja diese gesamte Reise nach Bethania zwecklos gewesen waren. In diesem Augenblick hörte sie in der Ferne das Klappern von Pferdehufen.

Einen Augenblick später umrundete der Karren eines Kesselflickers eine nahe Straßenecke. Ein alter Maulesel, dessen geflecktes Fell unter der zerfetzten Decke sichtbar war, stapfte langsam und mit Scheuklappen versehen durch die gepflasterten Straßen und zog einen wackeligen Wagen voller Nachttöpfe, Bratpfannen, matter Öllampen und einem Dutzend anderer Metallgegenstände, die in einer stillen Kakophonie gegeneinander schlugen. Rhapsody kicherte.

»Entschuldigung«, sagte sie zu dem ergrauten Kesselflicker, als der Karren näher kam. »Mein Herr, dürfte ich bitte auf Eurem Wagen mitfahren? Ich muss zur königlichen Hochzeit.«

Der Mann, der eine Klappe über einem Auge trug, drehte sich um und starrte sie an. Offenbar war der Anblick eines Hochzeitsgastes in Kleid und Samtmantel sehr verwirrend, und einen Moment lang war das Erstaunen im Gesicht des Mannes so übermächtig, dass Rhapsody schon befürchtete, er könne vom Bock fallen. Die Zügel fielen ihm aus den Händen, und das Maultier, das die neue Freiheit spürte, blieb langsam stehen.

Rhapsody raffte die Röcke, eilte über die Straße und kletterte geschickt auf den Wagen neben den Kesselflicker.

»Vielen Dank«, sagte sie erleichtert. »Ich hatte schon befürchtet, ich würde die Feier verpassen.«

Der Mann nickte verständnislos und starrte sie immer noch mit seinem einen Auge an. Rhapsody wartete kurz, nahm dann die Zügel auf und drückte sie dem Kesselflicker sanft in die Hand.

»Können wir jetzt weiterfahren?«, fragte sie höflich.

Der Mann räusperte sich nervös, und das Maultier, das die Zügel nun wieder spürte, trottete vorwärts. Mit klappernden Waren rumpelte der Wagen auf den Herrscherpalast und die Feuer-Basilika zu.

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