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Am östlichen Rand der Krevensfelder

Der Segner von Bethe Corbair war ein geduldiger Mann. Das war er schon immer gewesen. Auch in den Tagen vor der Besessenheit durch den Dämon hatte Lanacan Orlando Ausdauer bewiesen. Sein Temperament sowie seine Position waren nicht geeignet, mit Mousa oder Griswold um die Oberherrschaft zu kämpfen. Stattdessen hatte er den Weg des entbehrungsreichen, erniedrigenden Dienstes an dem Patriarchen übernommen in der Hoffnung, dass dieser und der All-Gott die Tiefe seiner gläubigen Hingabe erkennen würden. Doch die Jahre waren vorbeigezogen, Jahre, in denen er mehrfach den innigsten Dank des Patriarchen für seine beschwerlichen Dienste entgegengenommen hatte. Er heilte die eiternden Wunden der Soldaten und der Armen aus Bethe Corbair und den Bauerndörfern in den Krevensfeldern, während Macht und Ansehen für gewöhnlich den anmaßenderen und kampfbereiteren Seligpreisern vorbehalten waren. Lanacan wartete darauf, dass der Patriarch, ein sanfter Mann mit einer Abneigung gegen Streit, ihn letztlich für all seine guten Werke und sanften Manieren belohnen würde, doch dazu kam es nie. Der einzige Dank für all seine Geduld war die gute Meinung, die der Patriarch von ihm hatte.

Als Lanacan Orlando schließlich sein Abkommen mit dem Dämon geschlossen hatte, stellte er fest, dass auch dieses Wesen geduldig war. Im Gegensatz zu den anderen seiner Art, die mit allen Mitteln Chaos und Vernichtung verbreiten wollten, nach Macht gierten und Missgunst streuten, war der F’dor, der ihn genommen hatte, atemgleich in ihn eingedrungen, in seiner Lunge wie schwerer Dunst geblieben und hatte sich unter sein Blut gemischt. Er verfügte über eine weite Sicht der Welt und wollte warten, bis alle Teile seines Plans an der richtigen Stelle waren. Mit den Jahren, als er immer dämonischer wurde, schien es sogar so, als ob die Gier des F’dor durch Orlandos einstige Geduld ein wenig besänftigt worden sei.

Nun kam der Frühling. Der Seligpreiser stand im dünnen Schnee der Krevensfelder, und die Wut darüber, dass seine Pläne in solch einem wichtigen Augenblick verhindert worden waren, wurde immer wilder und größer wie ein sich rasch ausbreitendes Feuer.

Der Patriarch war nicht in Sepulvarta, sondern in Tyrian gestorben. Er war gegangen, ohne einen Nachfolger bestimmt zu haben und wichtiger noch ohne dabei den Ring zu tragen. Wäre er in Sepulvarta geblieben, wo er seit seiner Amtseinsetzung das ganze Leben verbracht hatte, wäre Orlando derjenige gewesen, der ihm in den letzen Tagen Trost gespendet hätte. Orlando hätte ihm den Übergang leichter gemacht nach eigenem Gutdünken. Und er hätte sich darum kümmern können, dass alles für seinen Aufstieg zum neuen Patriarchen bereit war, was ihm die Gelegenheit verschafft hätte, seinen Vasallen zum König von Roland zu machen.

Ach, egal, dachte er und versuchte, die kreischende Stimme in seinem Ohr zu unterdrücken.

Er hat bereits die Heere.

Nun, Tristan Steward, flüsterte er in den Wind. Beginne.

Er wartete, bis der Westwind seinen Befehl einfing, dann wandte er sich an seinen livrierten Diener und die Soldaten, die ihm als Eskorte dienten, und lächelte wohlwollend.

»Meine Herren, wir sind nur noch einen Tag von zu Hause entfernt. Ich kann beinahe die süße Musik der Glocken von Bethe Corbair im Wind hören. Sollen wir aufsatteln und Losreiten?«

Bethania

Tristan Steward riss gerade die Tür auf, als McVickers, der neue Marschall des vereinigten Heeres von Roland, klopfen wollte.

»Komm herein, McVickers«, sagte er mit belegter Stimme. Der Soldat betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er stand in Habacht-Stellung und wartete darauf, dass der Prinz etwas sagte, doch Tristan kehrte nur zu seinem Schreibtisch und dem gewaltigen Haufen von Pergamenten zurück, die er kurz zuvor noch durchgeblättert hatte. Nach einigen Minuten sagte McVickers:

»Womit kann ich Euch dienen, mein Herr?«

»Du kannst still dort stehen bleiben, während ich die Karten zusammensuche, McVickers.«

Die Stimme des Prinzen troff vor Gift. Der Soldat holte tief Luft und behielt seine stramme Haltung bei.

Schließlich fand Tristan, was er gesucht hatte. Er breitete die Blätter auf dem langen Tisch neben dem Fenster aus und winkte McVickers ungeduldig zu. Der Soldat kam herbei und stellte sich zu seinem Herrn. Er betrachtete die Landkarten, die der Prinz auf dem Tisch zurechtlegte. Nach einer Weile fragte er: »Canrif, mein Herr?«

»Ja«, antwortete Tristan und glättete die Ecken einer alten Landkarte, die sich beinahe selbst wieder aufgerollt hatte. »Die Bolglande.«

»Mein Herr?«

Stewards Augen glitzerten vor Ungeduld. »Was verstehst du daran nicht, McVickers? Ich habe Stephen Navarne gerufen und ihn gebeten, aus seinem Museum die Zeichnungen von den Tunneln und Bergdurchgängen mitzubringen, die in cymrischer Zeit gebaut wurden. Ich glaube nicht, dass es seitdem viele Veränderungen gegeben hat. Die meisten Umbauten werden die äußeren Verteidigungsanlagen, die Außenposten und vielleicht die Feldtunnel betreffen, die als Brustwerke bekannt sind.«

»Ich ... ich verstehe nicht, mein Prinz«, stammelte McVickers, als ihm die gewaltige Dimension dessen aufging, was der Prinz plante. »Ihr ... ihr wollt doch nicht etwa ... die Bolglande angreifen, mein Prinz?«

Der Wahnsinn in Tristans Augen leuchtete heller als das Morgenlicht draußen vor der Bibliothek. Seit der Krönung war er wütend und enttäuscht, als der unerwartete Tod des Patriarchen eine Panik verursacht und ihn dadurch einer Privataudienz bei der neuen lirinschen Königin beraubt hatte, nach der es ihn so sehr verlangt hatte. Er war gezwungen gewesen, sofort zusammen mit den Seligpreisern und den anderen Provinzfürsten abzureisen und zur Beerdigung nach Sepulvarta zurückzukehren. Rhapsody hatte nicht daran teilgenommen; sie hatte dem alten Mann bereits Lebewohl gesagt.

Aber wenigstens hatte sie sich nun in Tyrian niedergelassen.

Fern von den Bolg-Landen .

Aus der Schusslinie.

»Ja, McVickers«, sagte er mit düsterer Stimme. »Ja, das will ich. Der Berg ist sowieso im Moment nur noch eine leere Hülle. Irgendeine Seuche hat das Heer und die meisten Einwohner vernichtet. Die übrig gebliebenen Bolg müssen an Ort und Stelle bleiben, damit sich die Seuche nicht bis nach Roland ausdehnt. Versammle deine Generäle und beginne mit den Einberufungen. Ich will ausrücken, sobald alle Provinzen ihre Soldaten geschickt haben. In zwei Monaten werden die letzten Truppen aus Yarim hier eintreffen.«

McVickers nickte und spürte dabei das Beil des Henkers über sich schweben.

»Ja, mein Prinz.«

Lianta’ar, die Basilika des Sterns, Sepulvarta

Die schieren Ausmaße der Kathedrale, deren gewaltige Kuppeldecke eine Halle von der Länge und Breite mehrerer Hauptstraßen überwölbte, machten Achmed nur noch nervöser. Der Bolg-König hatte Grunthor bis zur Sprachlosigkeit verblüfft, als er angekündigt hatte, er wolle noch einige Momente in der Nähe der Stern-Basilika bleiben, nachdem die Seligpreiser gemeinsam mit den Trauernden gegangen waren und die Nacht am Ende der Begräbnisriten für den Patriarchen hereinbrach. Lanacan Orlando, der es abgelehnt hatte, an der Zeremonie teilzunehmen, um im Hause des Patriarchen zurückbleiben zu können und den trauernden Abt und die Priester zu trösten, war bereits auf der Heimreise nach Bethe Corbair. Sein Gefolge bewegte sich nach Norden auf die Kreuzung der Hauptstraßen durch Orland zu, die zu cymrischen Zeiten gebaut worden waren und Roland von der Küste bis zu den Zahnfelsen teilten. Achmed vermutete, dass sie ihn ohne Schwierigkeiten einholen konnten, wenn sie über Land reisten.

Du weißt, warum er im Haus geblieben ist?, hatte Achmed gefragt.

Um noch mehr Leute zu bannen?

Ja, und weil er die Basilika nicht betreten kann. Sie steht auf geheiligtem Boden.

Der riesige Sergeant-Major stand noch immer verwirrt bei der Hintertür in der dunklen Vorhalle neben dem Eingang zum Hauptschiff, dem größten Teil der Basilika, in dem die Gläubigen während der Zeremonien saßen oder standen. Er stieß mit den Zehen den Abfall beiseite, der von der Beerdigungszeremonie übrig geblieben war: verstreute Federn, die von der Versammlung hochgeworfen worden waren, um der Seele des Patriarchen schneller zum Licht zu verhelfen, und nun verschmutzt von den Sohlen zehntausender Füße inmitten einer Wachsflut und zerfetzten Blumenblättern lagen. Er fragte sich müßig, ob etwas von der Asche des Leichnams, der in einem großen Becken auf dem Altar verbrannt worden war, in den Ruß eingegangen war, der die wunderbaren Mosaike auf dem Boden unter seinen Stiefeln schwärzte.

Achmed schaute zum fünften Mal über die Schulter und vergewisserte sich, dass er wirklich allein in der großen Kathedrale war. Dann machte er sich zögernd auf den Weg durch einen der Hauptgänge zum Heiligtum, wo der Brandaltar auf einem großen Podest stand, zu dem viele Stufen hinaufführten. Vor der Kathedrale läuteten endlos im Turm die Totenglocken. Als er den Fuß der Stufen erreicht hatte, blieb er stehen und räusperte sich nervös in dem Rauch, der noch immer schwer in der Luft hing.

»Ich hasse Priester«, sagte er laut und hielt die Augen auf die Kohlen gerichtet, die verglüht waren, nachdem man sie mit heiligem Wasser übergössen hatte. Er sah das Brandbecken an, aus dem sich ein vorwitziger Rauchfaden erhob.

Achmed rieb sich den Nacken, während er in Richtung des schwelenden Haufens aus Gezweig und Asche sprach.

»Ich bin hergekommen, um auszudrücken, dass es mir Leid tut«, sagte er ruhig. »Ich hätte es nicht getan, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte.«

Die Kathedrale antwortete mit Schweigen, wenn man von den endlosen Schwingungen der läutenden Glocken absah.

»Dein Tod hat ihr das Leben gerettet. Wenn du die Wahl gehabt hättest, wärest du sicherlich damit einverstanden gewesen, auch wenn ich dich nicht gekannt habe.«

Eine plötzliche Welle des Unbehagens durchflutete Achmed. Er drehte sich schnell auf dem Absatz um und eilte durch den Gang auf die schattige Vorhalle zu. Als er sie beinahe erreicht hatte, drehte er sich noch einmal in die Richtung des Altars, der nun in völliger Finsternis lag.

»Lebe wohl, Vater«, sagte er.

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