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Ein silberner Ton, wie von einem Jagdhorn, aber voller im Klang, zerriss die Luft und die Stille des Morgens. Er hallte von den Zahnfelsen und den niedrigeren Hügeln wider, rollte in einer Klangwelle über das Land und breitete sich aus wie Kräuselungen auf einer Wasseroberfläche. Rhapsody spürte, wie der Ton durch die Senke strömte. Er durchdrang die Sängerin und bildete ein Band zwischen ihren Füßen und dem Stein, auf dem sie stand. Plötzlich begriff sie, warum sie innerhalb von Canrif bleiben musste. Der Rufer war das Instrument, durch welches das Hörn in die Macht des Gerichtshofes eindrang. Es war wie der Ruf, den sie auf dem Wind vor langer Zeit zu Ashe geschickt hatte, um ihn zu ihr nach Elysian zu holen. Das Hörn verkündete einen zwingenden Befehl, welcher an die Person gebunden war, die es blies. Der Rufer war die Landmarke, wie das Leuchtfeuer in Elysian. Durch den Verbleib des Rufers innerhalb der Senke wurden die Schwingungen und der Ruf bewahrt, bis alle Cymrer eingetroffen waren. Sie waren ein unsichtbarer Faden, dem alle folgen konnten, um Canrif zu finden, denn sie verbanden sich untrennbar mit dem Herzen der Sängerin.

Rhapsody schloss die Augen. Sie war mit dem Ruf verschmolzen, und ihr Geist folgte ihm, während er durch die Luft und Erde fuhr, über die orlandische Ebene hallte und bis in die hügeligen Steppen und Wüsten von Sorbold drang. Er tönte durch die Strömungen des Tar’afel und bis in die Wälder von Gwynwald und Tyrian, eilte über das Meer und stieß tausend Meilen entfernt mit den Wellen am Strand von Manosse zusammen.

Der Ruf verbreitete sich wie ein Befehl des Königs in jeder Seele, die sich im alten Land durch ihr Versprechen an das Hörn gebunden hatte vor all den schrecklichen Reisen, den Wanderungen durch die Wildnis, dem neuen Reich, vor Tod und Krieg. Das große Hörn schallte nur zu Anfang aus eigener Kraft durch die Luft, dann schien der Ton zu verblassen, so wie es bei jedem Hörnerschall üblich war. Doch Rhapsody wurde von der Welle davongetragen und hörte, wie der Ton neue Formen annahm. Er besaß eine uralte Magie, die aus ihm selbst hervorströmte.

Er ging von Hand zu Hand im Klimpern der Münzen, im Hämmern der Axt gegen den Baum, im Ruf des Eseltreibers und dem Knallen der Peitsche. Er rumpelte durch die Huftritte der Boten und wisperte in den Pfeilen der Jäger. Er wohnte im Knirschen des Sattels, des Mastes, der Radachse, dem Grunzen der Tiere, dem Feilschen der Kaufleute, dem Klirren der Schmieden und Knattern der Segel und trug den Ruf des Erbauer-Königs in jeden Blutstropfen, der ihm vor mehr als tausend Jahren beim Auszug Treue geschworen hatte. Der Ruf wogte und flog, reichte über den gesamten eroberten Kontinent und forderte die Erfüllung des Eides.

Jeder Ziegel, der in seinem Namen gelegt worden war, jeder für ihn eingeschlagene Nagel, jedes Artefakt, jedes Monument hallte von dem Ruf wider und brummte und summte. Als die Nacht hereinbrach, erstickte die gebieterische Stille alles: Wölfe, Wind und Wasser. Der Ruf aus Gwylliams Hörn vertrieb die Erschöpfung der vom Alter erstarrten Überlebenden der frühen Reisen. Müde Augen blinzelten plötzlich ihren Irrsinn fort. Kraftvoller Atem kehrte in die Lungen zurückgetretener Patriarchen zurück. Steife Finger dehnten sich und sehnten sich nach dem Gefühl alter Schwerter.

Jene, die den ursprünglichen Eid geleistet hatten, spürten ihn eher, als dass sie ihn hörten. Sie fühlten die Gegenwart des Königs. Sie erhoben sich, unterbrachen ihr Mahl, ihre Beratungen, ihr Bad. Als ob der Geruch und der Geist des Königs mitten unter sie getreten wäre, wurde das Gefühl vom Vater auf den Sohn wie mit einer Geste weitergegeben, nach einem Augenblick der Stille, der Erinnerung an die verlorene Vergangenheit. Es brauchte eine tiefe Gemütsruhe, um zu dem Schluss zu kommen, dass sie alle auf die Pilgerschaft gerufen wurden.

Jene aber, die keine Blutsbande mit den Cymrern hatten, fragten sich verwundert, was die Erde für einen kurzen Augenblick in ihrem Lauf angehalten hatte ...

Während Rhapsodys Visionen am Beginn der Schallwelle dahinflogen, in den Ziegelglöcklein sangen, in den Eggen raspelten, wurde Achmed von dem Gefühl, dass sich die Luft in seiner Umgebung neu zusammensetzte, beinahe wahnsinnig. Die dünnen Vorhänge aus Wind, die er für gewöhnlich sah und durchschritt, wurden zu dichtem, ätherischem Seetang, der ineinander verschlungen war, an ihm klebte und zerrte und ihn atemlos machte, sodass er schwamm, wo er eigentlich hätte gehen sollen. Der Klang war nicht nur eine Kräuselung, sondern eine Fühlbarkeit, als wäre die Senke zu einem riesigen Magen geworden, zu einem Wyrm, der alles in sich einsaugte. Rhapsody war der leuchtende Mittelpunkt, der Köder, und Achmed trieb unstet und in der Größe von Plankton unter dem Ruf des Großen Siegels dahin, der womöglich weiter als das Tageslicht reichte.

Auch Grunthor spürte den Laut eher, als er ihn hörte, doch er reagierte nicht auf das Pulsieren in der Luft. Er folgte dem Widerhall durch die Erde. Wie ein Beben, das sich den Weg von einer Verwerfung bahnt, kroch er durch die Ebene eine sich ringelnde Schlange, begraben und aufgescheucht. Er raste und hämmerte, schmetterte durch das Gebirge hinter ihnen, laut, kreischend, als ob jede Stimme, jedes Geräusch aus den Bergwänden geklaubt und in die Luft geschleudert worden sei, doch keinen Ort hatte, an den es fliehen konnte.

Rhapsody wirkte fern und verloren. Achmed krümmte sich zusammen und lehnte sich gegen einen Stein der Plattform. Grunthor hielt sich die Hände gegen die Ohren; er hatte die Augen fest geschlossen, als die Stille in ihn eindrang. Der Ruf des Horns war verwirrend und eindringlich gewesen, doch das Warten auf Antwort bedrückte noch ärger. Es verwandelte Achmeds Blick von Wasser zu Eis.

Rhapsody spürte, wie jenseits des Meeres, im entferntesten Dunkel, welches der Klang erreicht hatte, hunderte verbliebener Cymrer, die tatsächlich noch auf das Große Siegel geschworen hatten, den Atem und das Leben anhielten, als ob sie mitten auf ihrem Weg in die alltägliche Zukunft von einer unsichtbaren Peitsche der Vergangenheit zum Stillstand gezwungen worden wären. Einige starben tatsächlich aus Angst oder vor Erleichterung. Der Rest atmete weiter, doch die allgegenwärtigen Gespräche wurden nicht mehr weitergeführt. Alle fünfzig Generationen wandten sich wie ein Mann um und wollten ihre Schulden begleichen. Dies war seit tausend Jahren erst das zweite Mal, dass sie den Ruf gehört hatten.

Die ursprünglichen Cymrer hörten den Ruf als Erste, doch die Söhne lauschten den Vätern, die Töchter den Müttern und spürten die Antwort, die sie zu geben hatten, nur Sekunden später. Jede der fünfzig Generationen empfand den Ruf als so drängend wie die Bedürfnisse, Hunger und Durst zu stillen, Wasser zu lassen, zu schlafen oder sich dem Tod zu beugen. Die Familien mit direkterer Abstammung fühlten die bevorstehende Reise und machten sich einmütig an die Vorbereitungen. Sie wussten, was sie erwarten konnte. Einige hatte man sogar darauf vorbereitet, dass der Ruf möglicherweise erschallen würde und zuvor Grauen und Untergang angekündigt hatte; dennoch war es ihnen bestimmt, auf ihn zu antworten. Sie standen so tief in der Pflicht des uralten Treueschwurs, dass ihnen keine andere Möglichkeit des Weiterlebens blieb.

Bastardlinien, vermischte Abstammungen, Einzelne ohne Überlieferungen und Interesse an ihrer Herkunft wurden gleichermaßen berührt. Das Blut begehrte auf und schwoll in den Adern an, war wie wolkensanfte Blitze, zernagte jedes Zögern, jeden Widerstand, sodass nur Tage oder Stunden zwischen dem unwissenden Abkömmling und seiner Reise standen. Überall auf dem Kontinent machten sich Männer, Frauen und Kinder auf die Pilgerfahrt. Sie gehorchten einem toten Herrscher.

Die jüngste aller cymrischen Linien hörte den Ruf als Letzte. Sie waren nicht langlebig, und die meisten von ihnen trennte daher ein Abstand von fünfzig Generationen von den Ereignissen, doch sie hatten zwei Vorteile. Der erste war ihre Kultur. Sie waren von Natur aus Nomaden und Aasesser und verspürten wenig Widerstand gegen den Ruf. Der zweite war die Nähe. Sie hausten bereits in den Katakomben unter den Zahnfelsen.

Das cymrische Erbe war das höchste und wunderbarste Geheimnis der Finder. Sie stammten von denjenigen ab, die in Gwylliams letzten Tagen von den Bolg gefangen genommen worden waren. Ihre Langlebigkeit, ihre blauen Augen zeugten von ihrer Herkunft. Sie waren die unglücklichen Opfer gewesen, die Canrif nicht mehr rechtzeitig hatten verlassen können, als die Bolg den Berg überrannt hatten.

Tief in den Schächten, nahe der Hand, bei den Ambossen, in den Herbergen und Höhlen, in denen sie hausten, verspürten die Finder den Ruf gleich einem silbernen Blitz, der ihnen bis in die Knochen fuhr. Wie ein Mann legten die Bastardkinder der cymrischen Linie ihre Werkzeuge oder ihr Essen beiseite, wandten sich von ihren Arbeiten ab und machten sich auf den Weg ins Sonnenlicht des Vorgebirges. Wie blinde Fische blinzelten sie und schützten die Augen vor der Helligkeit.

Stunden nachdem sie das Hörn geblasen und das Große Siegel eröffnet hatte, befand sich Rhapsody immer noch in Verzückung und folgte dem Ruf. Achmed war wieder zu sich gekommen. Er hatte sich vom Zwang des Hörnerschalls befreit, war jedoch noch empfindsam genug für dessen Macht, um das Vakuum, das es als Zeichen für die Cymrer hinterlassen hatte, schmerzhaft in den Ohren zu spüren.

Grunthor war von der Lautstärke des Instruments überrascht, bemerkte aber kaum etwas Unangenehmes, bis die gerufenen Cymrer allmählich antworteten. So tief war ihre Schuld, so überwältigend ihr Eid, dass selbst die treuen Toten dem Ruf folgten. Überall auf und in der Ebene und den Bergen kratzten, zitterten und regten sich die Knochen. In der gewaltigen, windstillen und reglosen Stille erstreckte sich das Gefühl des Riesen wie die Aussicht auf ein endloses, schweigendes Meer, in dem eine einzelne Flosse wie ein Mast über die Oberfläche ragt. Grunthors Aufmerksamkeit war ungeheuerlich geschärft. Tausend kleine Kräuselungen vertrockneter Knochen verbreiteten sich durch die Särge und Massenbegräbnisse oder schwammen wie Treibholz unter Sanddünen und Erdhügeln hindurch. Zum ersten Mal begriff er das Ausmaß des Todes, welcher die Hinterlassenschaft der Cymrer darstellte. Als seine Sinne ihm wieder die wirkliche Stille über der Erde vermittelten, da eine Auferstehung jenseits der Macht des Horns lag, erhaschte er aus den Augenwinkeln einen Blick auf Bewegungen über den Felsklippen. Er starrte nach Osten in das blendende Morgenlicht.

»He, Dank und abermals Dank, Euer Hoheit, hast mir grade grässliche Kopfschmerzen gemacht.«

Rhapsody sah ihn zärtlich an, als die Strahlen der aufsteigenden Sonne seinen Kopf berührten. Er erglühte in dem Licht wie eine mythische Firbolg-Gottheit. »Tut mir Leid, Grunthor. Sie werden bald vergehen.«

»Wie bald?«

Sie sah sich um, während zuerst das Bild des fernen Ufers von Manosse aus dem Blickfeld ihres inneren Auges schwand und dann die Küste von Avonderre sowie die Neutrale Zone, Tyrian und Gwynwald, die orlandische Ebene und Sorbold folgten und schließlich nur noch der Ausblick zu ihren Füßen übrig blieb. Sie zuckte die Achseln und legte das Hörn auf der Steinkanzel ab.

»Ich schätze, in zwei Monaten.«

Bei dem Klang des Hornes, das über die Bolglande schallte, rannten die Einwohner des einstigen Canrif verängstigt umher, versteckten sich in ihren Hütten und Grotten und fürchteten, das Zeitalter des Todes sei zurückgekehrt. Die Bolg hasteten in großer Sorge umher und machten sich bereit, wieder in die Tiefen der Berge zurückzuweichen, wo sie sich in den Jahrhunderten vor der Ankunft von Achmed und Grunthor verborgen hatten. Sie warteten auf die Heere der Menschen, die ihre Dörfer ein weiteres Mal verwüsten und die lange erwartete Rache für den Sieg über die rolandischen Legionen üben würden.

Von ihrem hoch gelegenen Aussichtspunkt über der Senke und den Bolg-Landen schaute Rhapsody ihnen traurig zu. Sie beobachtete die Panik der Firbolg, die sich über die ganze Heide zerstreuten und ängstlich in den Höhlen der Zahnfelsen Unterschlupf suchten. Mit ihrem Herzen war sie bei ihnen. Das Letzte, das sie mit dem Hörnerschall hervorrufen wollte, war Furcht.

Doch einige Momente, nachdem der Klang verebbt war, sah sie Schatten aus den Höhlen hervorkriechen und wie verzaubert in das helle Sonnenlicht treten. Es waren höchstens einige hundert, die der Ruf des Hornes hervorgelockt hatte. Sie sahen sich um, als hätten sie sich verirrt. Schließlich wandten sich alle der Senke des Gerichtshofes zu und begaben sich dorthin. Sie versuchten, das Bedürfnis zu stillen, das in ihnen aufgestiegen war.

»Was ist da los?«, fragte Rhapsody Achmed, der auf seine Untertanen herunterschaute. Ein Schimmern trat in die Augen des Fir-Bolg-Königs, und ein Lächeln kroch über sein Gesicht.

»Ich glaube, deine geladenen Gäste sind eingetroffen. Hier sind die ersten Cymrer, die deinem Ruf gefolgt sind.« Er schaute hinüber zu Rhapsody. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelten. Grunthor hatte sich bereits an den Abstieg vom Sims gemacht. Die beiden anderen folgten ihm langsam und vorsichtig, denn sie wollten keinen Stein auf dieser Klippe aus dem Gleichgewicht bringen. Als sie den Boden der Senke erreicht hatten,, wartete Rhapsody, während der König und der Sergeant-Major die benommenen Firbolg befragten, warum sie den Ruf als zwingend empfunden hatten. Es gab keinerlei Aufzeichnungen über Bolg, die aus Serendair angereist waren; daher war es sehr unwahrscheinlich, dass sie Abkömmlinge einer der Flotten waren.

Schließlich kehrten Achmed und Grunthor zurück. Rhapsody eilte auf sie zu, um zu erfahren, was sie herausgefunden hatten.

»Also? Woher sind sie gekommen?«

Achmed sah verärgert aus. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass es Cymrer oder wenigstens deren Abkömmlinge sind. Als die Bolg in Canrif eindrangen, gab es immer noch einige Hartnäckige, die Gwylliams Festung und die Ländereien, um die sie sieben Jahrhunderte lang gekämpft hatten, nicht aufgeben wollten. Falls du es nicht schon erraten hast: Sie haben gegen die Bolg verloren. Es sind Abkömmlinge der Cymrer, die von den Bolg versklavt wurden. Ich nehme an, die Gefangenen haben nicht mehr lange gelebt, nachdem sie den Ahnen dieser wenigen Versprengten das Leben geschenkt hatten.« Rhapsody nickte.

»Sie nennen sich die Finder, weil sie einer uralten Weisung unterstehen. Als Gwylliam hinter einer verschlossenen Tür, die niemand aufbrechen konnte, auf dem Boden der Bibliothek lag und das Leben aus ihm strömte, waren die Sprachröhren geöffnet, die zur Unterwerfung dieses Berges benutzt wurden. Die Bolg mit cymrischem Blut wussten, dass seine Stimme einen Befehl aussprach, dem sie sich nicht verweigern konnten. Ihre Vorfahren hatten vor Jahrhunderten geschworen, dem König in Zeiten der Not bedingungslos beizustehen. Aber sie konnten ihn nicht finden und begriffen nicht, was er wollte, denn das Hörn lag in der Bibliothek neben ihm. Seit all den Jahren, seit all den Generationen warten sie darauf, dass die Stimme wieder ertönt und ihnen sagt, was sie tun sollen. Außerdem haben sie die Neigung, cymrische Überbleibsel zu suchen, denn sie hoffen bei jeder neuen Entdeckung, dass es das ist, um was die Stimme gebeten hatte.«

»Wenn sie Firbolg und Cymrer sind, sollte man sie vielleicht zur Ehrenwache verpflichten. Wäre das für dich in Ordnung, Grunthor?«

»Wäre bestimmt ’ne Ehre für sie, Euer Liebden. Werd ihnen aber trotzdem meine ›EinfalscherSchrittundihrseidheuteAbendmeinNachtisch‹Rede halten.«

»Sie sollten fürs Erste die einzigen sichtbaren Bolg sein, wenn die Cymrer eintreffen«, bemerkte Achmed. »Was müssen wir als Nächstes tun?«

»Wir warten. Ich werde unsere ersten Gäste begrüßen.«

Der König nickte. »Ich möchte einen Vorschlag machen.«

Rhapsody hatte bereits einige Schritte auf die Bolg zugemacht. Sie blieb stehen und drehte sich um. »Ja?«

Er sah sie von oben bis unten an. Sie steckte in ihrer üblichen Arbeitskleidung, einem weißen, langärmligen Batisthemd, einer weichen, lohfarbenen Wildlederweste sowie einer braunen Hose. »Du hast dich beschwert, dass das Leben in den Bolg-Landen dir nie die Gelegenheit gibt, eines deiner teuren, extravaganten Kleider zu tragen. Du hast meine Staatskasse ihretwegen um viel Geld erleichtert. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, eines davon anzuziehen.«

Ihr Gesicht erhellte sich. »Welch ein Spaß! Welches sollte ich als Erstes tragen?«

»Also, wenn ich auch mal was sagen darf: Ich mag das Braune oder das Grüne, aber lass das mit dem Roten erst mal, bis mehr Leute da sind. Willst bestimmt nicht, dass ein paar von den Bolg aus der Ferne glauben, du bist verletzt. Macht dich zu ’nem guten Ziel.«

Rhapsody seufzte. Plötzlich vermisste sie Tyrian, wo man sie nie als mögliche Nahrung angesehen hatte, was immer man dort von ihr auch halten mochte.

Mit jedem Tag trafen neue Reisende ein. Einige ritten zu Pferd in die Senke oder fuhren in Wagen, doch die größte Gruppe bildeten die Wanderer. Wie die verwirrten Firbolg hatten sie keine Ahnung, wo sie sich befanden oder warum sie den Zwang empfunden hatten herzukommen. Sie waren Teil der cymrischen Diaspora, der großen Gruppe von Abkömmlingen aus den cymrischen Häusern ohne Wahlrecht, die durch Anwyns und Gwylliams Krieg auseinander gerissen worden waren. Ein weiterer unschätzbarer Verlust, dachte Rhapsody, als sie ihnen in die Augen blickte und ihre Angst und Verwirrung erkannte. Wie viele Generationen cymrischer Kinder waren durch den Konflikt von ihren Häusern getrennt worden und hatten eine Bevölkerung hervorgebracht, die nichts von ihrer eigenen Abstammung wusste? Sie grüßte sie freundlich, hieß sie willkommen und brachte sie in den Zelten und Hütten unter, die Achmed auf ihren Wunsch hatte errichten lassen, während sie in Tyrian gewesen war.

Beinahe sofort ergab sich eine Schwierigkeit. Aus Gründen, die Rhapsody nicht verstand, schienen sich die nervösen Cymrer genauso zwanghaft zu ihr hingezogen zu fühlen wie zu dem Gerichtshof. Sie standen mit offenem Mund und glasigen Augen vor ihr und konnten den Blick nicht von ihr wenden. Sie folgten Rhapsody unablässig und bildeten schließlich große menschliche Herden, die nur dann auseinander stoben, wenn Grunthor dazwischen trat. Achmed fand all das außerordentlich belustigend. Rhapsody hatte wie üblich eine Erklärung dafür gefunden, die nichts mit ihrer Ausstrahlung zu tun hatte: Sie war der Meinung, dass es sich dabei um eine Auswirkung des Hörnerschalls handelte.

Er hatte die Lage selbst zu verantworten. Auf seinen Vorschlag hin zeigte sich Rhapsody jeden Tag in einem verblüffenderen Kleid. Die Kleider waren aus schimmernder Seide, glänzendem Satin und wundervoll gewebtem Leinen aus Sorbold und Canderre gefertigt. Die Kleidung hob ihre Schönheit hervor und trug so dazu bei, dass die Neuankömmlinge von ihr bezaubert waren. Die Krone aus wirbelnden Sternen auf ihrem Kopf machte alles nur noch schlimmer. Für den Fir-Bolg-König war die Nutzbarmachung dieser Macht ein interessantes Experiment. Rhapsodys Ausstrahlung könnte ein nützliches Werkzeug werden, wenn das Konzil nicht den gewünschten Verlauf nähme. Und daran hegte er keinen Zweifel.

Außerdem hatte Achmed die Macht des ersten Eindrucks erkannt. Rhapsody war diejenige, die jeden Neuankömmling begrüßte, ihn willkommen hieß und den meisten erklärte, warum sie hier waren. Sie hinterließ bei den früheren Cymrern einen guten Eindruck und den Wunsch, zum selben Volk wie Rhapsody zu gehören. Auf diese Weise sicherte sie sich den Erfolg bei ihrer Mission, diese reizbare Bevölkerung zu vereinigen. Die Diaspora umfasste jedoch nur einen kleinen Teil aller Cymrer. Allmählich zeigte sich, dass nur etwa dreißigtausend der häuserlosen Abkömmlinge erschienen waren. Das bedeutete, dass der größte Teil der Gruppe noch fehlte.

Die Häuser der Ersten, Zweiten und Dritten Flotte trafen sich vor den Zahnfelsen und festigten ihre lockeren Bündnisse. Zweifellos warteten alle darauf, dass die Versprengten aus ihren eigenen Reihen noch eintrafen, damit sie die Senke in so großer und beeindruckender Zahl wie möglich betreten konnten. Von Anfang an lagerten sie auf dem orlandischen Plateau. Ihre Feuer erinnerten in der Nacht an ein Belagerungsheer. Dieser Vergleich gefiel Rhapsody nicht, doch weder Achmed noch Grunthor schienen sich Sorgen zu machen.

»Irgendwie ziemlich theatralisch«, meinte der riesige Firbolg-Kommandant. »Als ob sie irgendjemanden beeindrucken wollten. Ganz schön kindisch, wenn ihr mich fragt.«

»Bist du wirklich sicher, dass du diese Dummköpfe wiedervereinigen willst?«, fragte Achmed Rhapsody ungläubig.

»Warum?«

»Nun, bei denjenigen, die schon hier sind, ist der Grad der Dummheit bereits so hoch, dass ich es gefährlich finde, das Schicksal noch weiter herauszufordern, indem wir so viele Hohlköpfe gleichzeitig an diesem Ort versammeln. Ich befürchte, wir werden in einen hirnlosen Abgrund gesogen, aus dem wir nicht mehr entkommen können.«

Rhapsody lachte. »Die Cymrer sind nicht dumm, sondern ungebärdig«, sagte sie und versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Außerdem sind sie jetzt hier. Wir müssen das Beste daraus machen.«

»Ich wüsste schon, was wir mit ihnen machen können, aber wahrscheinlich findet ihr meinen Vorschlag nicht so toll«, meinte Grunthor düster.

»Ich will erst gar nicht nachfragen.«

»Sie als Übungsziele benutzen.«

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