51

»Kniet nieder.«

Die fünf filidischen Priester, die Khaddyr begleitet hatten, knieten sich vor ihm nieder. Llauron, der neben Khaddyr stand, nickte Rhapsody zu, und auch sie kniete nieder, wobei sie den Blick abwandte, denn sie wollte nicht brennende Löcher in Llaurons Gegner bohren. Khaddyr sah Llauron an. Sanft sang der Fürbitter das Gelöbnis der Sekundanten vor. Unter der Schönheit seiner volltönenden Stimme schnürte sich Rhapsodys Kehle zu, aber sie hatte sich entschlossen, die letzte Träne schon geweint zu haben. Das Gelübde, mit dem Llauron die Sekundanten band, verlangte von ihr das Einverständnis, niemandem in dem filidischen Kreis vor dem nächsten Sonnenaufgang etwas anzutun.

Lark schwor als Erste, gefolgt von den anderen Priestern. Schließlich gab auch Rhapsody ihr Wort und wünschte sich, sie wäre sofort mit ihm zu Stephen Navarne geritten. Mehr konnte sie nicht tun, um das Grauen abzuwehren, das sie zu verschlingen drohte.

Die beiden Seiten zogen sich an Entgegengesetzte Stellen auf der Lichtung zurück. Als Khaddyr an ihr vorbeiging, schenkte er ihr ein letztes Lächeln. Rhapsody ergriff die Gelegenheit, um seinen Körper nach Anzeichen von Schwäche abzusuchen. Sie schloss die Augen und spürte ein winziges Ungleichgewicht in seinem Schritt; irgendwie belastete er das linke Knie stärker. Außerdem wurde sein Atem schneller, wenn er erregt war, und sie erkannte, dass sein Herz nicht so stark war, wie es hätte sein können. Sie gab diese Erkenntnisse an Llauron weiter, während er ihr seine Überkleider aus händigte und schließlich in der schlichten Robe aus ungefärbter Wolle dastand, die auch Khaddyr trug.

»Versuche, auf sein linkes Knie zu zielen«, riet sie ihrem Lehrer und bemühte sich, zuversichtlich zu wirken.

»Vielen Dank«, sagte Llauron. Er klang ernst, doch in seinen Augen blitzte es. »Mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Alles wird gut. Falls aber doch ein Unglück geschieht, vergiss nicht dein Versprechen, den Scheiterhaufen anzuzünden.«

Rhapsody nickte. Sie spürte, wie hinter ihr Khaddyr und die anderen ihre Positionen einnahmen. »Viel Glück, Llauron«, sagte sie und drückte ihm die Hand. »Wenn du ihn schnell genug tötest, schaffen wir es noch, rechtzeitig zum Abendessen bei Herzog Stephen zu sein.«

Llauron lachte laut auf. Rhapsody sah die verwirrten Blicke von Khaddyr und seinem Gefolge und freute sich im Stillen darüber. Der Fürbitter küsste sie auf die Wange.

»Reiß dich jetzt zusammen; zeig ihnen nicht, dass du Angst hast.« Rhapsody beobachtete ihn, wie er mit dem weißen Eichenstab in der Hand gegenüber Khaddyr Stellung bezog. Er hatte nichts über Ashe gesagt.

Lark übergab Khaddyr ebenfalls einen Stab. Im Gegensatz zu dem glatten, geschliffenen Holz, aus dem Llaurons Stab bestand, der ein Geschenk von Elynsynos an einen seiner Vorgänger gewesen war, handelte es sich bei Khaddyrs Waffe nur um einen dünnen, rauen Zweig von einem Baum, der Rhapsody unbekannt war. Aber irgendetwas an ihm war beunruhigend vertraut, etwas, das sich in ihr Denken bohrte.

Nachdem Lark ihrem Anführer die Waffe ausgehändigt hatte, kehrte sie zum Rand der Lichtung zurück, wo die Sekundanten wachsam warteten. Rhapsody war der Platz vor ihnen gewährt worden.

Als Benennerin erwartete man von ihr, dass sie den Mitgliedern der Kirche sowie dem Staatsoberhaupt, in diesem Fall Stephen Navarne, einen wahrheitsgetreuen Bericht ablieferte. Sie fühlte sich unbehaglich, als Khaddyrs Gefährten einen Halbkreis um sie bildeten, doch falls etwas Unvorhergesehenes eintreten sollte, konnte sie sich ihrer Gegner entledigen, auch wenn sie von ihnen umzingelt war.

Auf Llaurons Signal begannen die beiden filidischen Priester mit dem Kampf. Trotz des fortgeschrittenen Alters war Llauron flink und bewegte sich anscheinend mit derselben Leichtigkeit wie Khaddyr. Der gegnerische Filide war selbst kein junger Mann mehr, und Rhapsody bemerkte, dass für ihn jede Bewegung genauso anstrengend war wie für Llauron. Sie umkreisten einander, hielten die Stäbe bereit und suchten nach Fehlern in der Deckung. Rhapsody sah viele, die die beiden nicht ausnutzten, und kam zu dem Schluss, dass sie ihre Kraft für einen Großangriff oder eine bessere Gelegenheit aufsparten.

Einen Moment später bewies ihr Khaddyr, dass sie den falschen Schluss gezogen hatte. Mit einem beeindruckenden Ausfall schlug er kurz hintereinander dreimal nach Llaurons Waffe, benutzte dabei abwechselnd beide Seiten seines Stabes und zielte beim dritten Angriff auf die Brust des Fürbitters. Llauron wurde voll getroffen und taumelte zurück. Rhapsody keuchte auf. Die Filiden schlössen den Ring enger um sie, da sie wohl befürchteten, die Sängerin könnte ihren Eid brechen. Sie starrte Lark an, und die Filidin trat sofort einen Schritt zurück. Llauron fuhr sich mit der Hand an den Brustkorb und holte mehrfach zitternd Luft, begleitet von einem abgerissenen Husten. Als sich Khaddyr ihm näherte, griff Llauron wieder nach seinem weißen Stab und parierte mit überraschender Schnelligkeit den zweiten Angriff seines Herausforderers. Er trieb Khaddyr zurück, schwang den Stab wie ein Schwert und schlug seinem Gegner damit die Füße weg. Khaddyr schlug hart mit dem Rücken auf dem gefrorenen Boden auf. Ein kleines Blutrinnsal tropfte zwischen seinen Lippen hervor und verteilte rote Flecken auf Llaurons Robe.

Jetzt waren es die Filiden, die aufkeuchten. Diese Laute erregten Rhapsody unerwartet, während sie weiterhin dem Kampf aufmerksam folgte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als Llauron Khaddyr einen heftigen Schlag versetzte. Der jüngere Mann rollte sich auf die Seite, packte seinen Stab und rammte ihn aufrecht neben sich in den Boden. Llauron machte sich bereit, ihn zu töten.

Plötzlich erfüllte ein scheußlicher Gestank die Lichtung. Es war ein Geruch, den Rhapsody schon kannte, aus Sepulvarta und den Kammern des Schlafenden Kindes; vor nicht langer Zeit hatte sie ihn auf der frostweißen Ebene von Orland wahrgenommen. Der Gestank war eindeutig. Die Sängerin riss die brennenden Augen voller Entsetzen auf.

Der Stab, den Khaddyr in die Erde gesteckt hatte, erzitterte. Zuvor war er noch dünn und rau gewesen, doch jetzt bog er sich und rollte sich auf und streckte rasch Fortsätze in Llaurons Richtung aus. Schlangenartige Schlingarme schössen aus dem borkigen Stab, packten den Fürbitter und wickelten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit um ihn. Sie wanden sich wie Peitschen um seinen Hals, zogen sich zu und entlockten dem alten Mann mit ihrem Todesgriff ein tiefes, hässliches Krächzen. Dornen sprangen aus den Ranken und zerschnitten ihm Arme und Gesicht.

»Nein!«, schrie Rhapsody und stürmte vor. Die Filiden fingen sie sofort wieder ein. Sie hatten auf diesen Augenblick gewartet. Sofort warfen sie Rhapsody zu Boden und zerrten sie aus der Lichtung, während sie vergeblich versuchte, auf Llauron zuzukriechen.

Ihre Feuergabe drängte an die Oberfläche, ihre Haut verbrannte die Hände ihrer Gegner. Lark und die Männer ließen sie los und rieben sich die schmerzenden Hände. Ihre Überraschung gab Rhapsody die Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen. Sie legte die Hand auf die Tagessternfanfare, doch als sie den Griff berührte, schoss ein gewaltiger Schock durch sie hindurch. Das Schwert war in das Gelöbnis einbezogen, sich nicht einzumischen, und es hielt Wort.

Das ganze Grauen beim ersten Kampf mit diesem dämonischen Gewächs des F’dor kehrte zurück. Jos tote Augen schwammen durch ihre Erinnerung. Rhapsodys Blick traf Llaurons, als die Filiden sie wieder packten und auf die Knie zwangen. Sein Gesicht war purpurn angelaufen und zu einer Maske tödlicher Überraschung verzerrt. Der alte Mann öffnete den Mund, als wollte er etwas entgegnen, doch dann schloss er ihn wieder. Er stieß einen letzten Seufzer aus und erschlaffte im Würgegriff der dämonischen Schlingpflanze.

»Nein!«, keuchte Rhapsody; ihre Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern.

Die Filiden ließen sie unsanft los, und sie fiel nach vorn auf den gefrorenen Boden; ihre Hände steckten bis zu den Knöcheln im Schnee. Sie kämpfte sich auf die Beine und rannte in die Mitte der Lichtung, wo Llauron lag und blind in den klaren Winterhimmel starrte. Die Schlingpflanze wurde undeutlich und löste sich in der frischen Brise auf, die mit eisigem Hauch über die Lichtung blies.

Rhapsody sank zu Boden und nahm den Fürbitter in die Arme. Mit zitternder Hand tastete sie unter der wollenen Robe nach seinem Brustkorb, doch sie fand keinen Herzschlag. Seine Pupillen waren geweitet, und tief in ihnen bemerkte sie einen vertikalen Schlitz wie bei seinem Sohn, nur ruhend und fern. Sie hatte dies nie zuvor wahrgenommen. Sanft schloss sie ihm die toten Augen und beugte trauernd den Kopf über ihn.

Nichts außer dem Pfeifen des Windes war auf der Lichtung zu hören. Die Winterbrise wirbelte ihr die Haare um den Kopf. Keine helle Seele trat hervor, um in das Licht aufzusteigen. Rhapsody schnürte es die Kehle vor Grauen zu. Er ist verdammt, dachte sie wehmütig; diese Erkenntnis drehte ihr den Magen um. Die Pflanze hat ihm die Seele geraubt, wie es auch bei Jo gewesen ist. Sie warf einen Blick zurück und sah, dass Khaddyr mit ausdrucklosem Gesicht hinter ihr stand. Er versuchte die Blutung an seiner Lippe mit dem Handrücken zu stillen. Schließlich sagte er:

»Es tut mir Leid, Rhapsody.«

Ihre Augen verengten sich. »Geh weg von ihm.«

Khaddyrs Miene wurde kalt. »Es ist mein Recht als Sieger, den Leichnam zu untersuchen und seinen Amtsstab an mich zu nehmen.«

»Rühr ihn nicht an.« Sie spuckte diese Worte so giftig aus, dass Khaddyr zusammenzuckte. Sie hob Llaurons Arm und ließ ihn wieder fallen. Er schlug schlaff in ihren Schoß. »Welche zusätzliche Untersuchung benötigst du noch?«

Khaddyr nickte und versuchte immer noch, wieder zu Atem zu kommen. »Keine. Gib mir den Stab.«

Rhapsody schaute unter Llaurons steif werdende Hand. Auf dem Boden darunter lag das weiße Zepter; das goldene Blatt hatte der Schnee begraben. Sie warf Khaddyr einen scharfen Blick zu und zog dann den Stab unter dem Arm des Fürbitters hervor. Sie warf ihn dem Sieger entgegen. Als er ihn auffing, brach auf seinem Gesicht ein strahlendes Lächeln aus. Hinter ihm ertönte ein Freudengeheul von den fünf filidischen Geistlichen. Khaddyr sah zu, wie Rhapsody aufstand, dann sagte er mit sanfter Stimme:

»Es tut mir wirklich Leid, dass du das mit ansehen musstest, Rhapsody. Ich hoffe, du wirst eines Tages verstehen, warum ich gezwungen war, das zu tun.«

»Das verstehe ich jetzt schon vollkommen«, erwiderte Rhapsody mit tödlich ruhiger Stimme.

»Du bist die Hure des Dämons.«

Khaddyrs Augen weiteten sich vor Entsetzen und verengten sich dann in Wut. Doch nach einem Augenblick lächelte er nur noch. Er deutete mit seinem neuen Stab auf ihren Bauch.

»Welche Ironie«, sagte er sanft und grinste dabei abscheulich. »Nun, die Zeit wird es zeigen. Wir werden sehen, wer die Hure des Dämons ist.« Er gab seinen Gefährten ein Zeichen. Sie versammelten sich um ihn und bereiteten sich auf die Abreise vor. »Vergiss nicht, Rhapsody, dass es von dir abhängt, die Welt über meinen Sieg aufzuklären. Versuche, deine Arbeit als Benennerin besser als die der Iliachenva’ar zu machen.« Er lächelte sie noch einmal an, drehte sich dann um und ging. Sein Gefolge eilte hinter ihm her und versuchte mit dem gewaltigen Schritt eines Mannes mitzuhalten, dessen Einsatz gerade belohnt worden war.

Rhapsody wartete, bis sie den schrecklichen Geruch von Khaddyrs Truppe nicht mehr roch, bevor sie sich wieder dem Leichnam zuwandte. Sie beugte sich zu ihm herab und berührte zärtlich die alten Hände, die im Griff des Todes und des Winterschnees allmählich abkühlten. Benommen wiegte sie seinen Kopf in den Armen und schaukelte ihn, als wäre er ein Kind, so wie sie es mit Jo getan hatte. Doch diesmal trauerte sie nicht nur um sich selbst, sondern auch um Ashe. Sie spürte den Riss in ihrem Herzen, als es wieder einmal in Scherben fiel.

»Llauron«, flüsterte sie gebrochen.

Der Wind fuhr ihr über das Gesicht; er fühlte sich trocken an, denn sie hatte keine Tränen vergossen. Sie hörte, wie Oelendras Stimme auf dem Wind zu ihr drang. Es klang so, wie der Ruf der Blutsverwandten für Anborn geklungen haben musste. Eine Stimme aus der Erinnerung.

Die Iliachenva’ar ist eine geweihte Kämpferin ... eine Begleiterin oder Beschützerin der Pilger, Kleriker und anderer heiliger Männer und Frauen. Du musst all die beschützen, die dich brauchen, um Gott was immer sie darunter verstehen verehren zu können.

Sie hatte versagt.

In der Mitte des Winters setzte die Dunkelheit früh ein. Rhapsody stand auf dem Gipfel eines kahlen Hügels und wartete auf das Heraufdämmern der Sterne. Zum ersten Mal konnte sie nicht die Stimme erheben und sie begrüßen. Es war, als hätte die Musik ihre Seele verlassen, auch wenn sie wusste, dass sie die Klänge wieder finden würde, und sei es nur, um Llaurons Totenlied zu singen. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben.

Der Scheiterhaufen, den sie errichtet hatte, war feucht; sie hatte unter dem Schnee nur sehr wenig trockenes Holz gefunden. Es war egal. Selbst ein lebender Baum würde sofort unter dem Sternenfeuer auflodern.

Sie erinnerte sich an ihren Traum bei Oelendra, an den Nachtmahr, in dem sie das Sternenfeuer auf Llauron niedergeschickt und ihn bei lebendigem Leibe verbrannt hatte. Obwohl sie wusste, dass das unmöglich war, untersuchte sie seinen Leichnam noch mehrere Male, nur um sicher zu sein. Er war kalt und leblos, sein Gesicht weiß wie das Sternenlicht, in ewigem Schlaf, friedvoll auf seinem Bett aus Reisig und Brombeergestrüpp.

Bei seinem Anblick tat ihr das Herz weh. Er hatte sich ihrer Beziehung zu Ashe entgegengestellt, hatte sie ständig an ihre Unwürdigkeit erinnert, doch er war auch freundlich zu ihr gewesen und hatte ihr geholfen, als sie Hilfe benötigt hatte.

Weißt du, mein Sohn ist nicht der Einzige in der Familie, der dich liebt. In vieler Hinsicht bist du für mich wie eine Tochter.

In ihrer neuen Heimat war er ihrem Bild eines Vaters am nächsten gekommen, und sie würde ihn wie ihren eigenen Vater betrauern.

Sie versuchte, nicht an Ashe zu denken, während sie die herannahende Dunkelheit erwartete. Die Pferde schienen ihre Stimmung zu erkennen. Sie hielten sich ganz still und beobachteten sie, als sie geistesabwesend Llaurons Kleider faltete und in den Satteltaschen des Madrianers verstaute; sie sonderte nur ein Stück aus, an dem Khaddyrs Blut klebte. Als sie seinen Gürtel in die Tasche stopfte, spürte sie etwas Kaltes, das sie genauer untersuchte. Es war die winzige, mit Wasser gefüllte Kugel, die ein glühendes Licht enthielt: Crynellas Kerze, Merithyns erstes Geschenk an Elynsynos.

Sanft löste sie die Kugel vom Gürtel und steckte sie zusammen mit Llaurons befleckter Robe in ihren Beutel. Sie gehörte nun Ashe; es war eine Hinterlassenschaft an die dritte und am schrecklichsten verfluchte cymrische Königsgeneration. Sie hoffte, sie werde ihm Trost spenden. Sie spürte nichts, nicht einmal Traurigkeit bei dem Gedanken, dass der Mann, der ihr Liebhaber gewesen war, nun zum Rächer seines Vaters werden würde. Die erste Person, die er dem Gesetz nach zu vernichten hatte, war Llaurons erfolglose Beschützerin, die Iliachenva’ar. Sie hoffte, auch diese Tat werde ihm Trost spenden. Zumindest würde es bei ihr so sein.

Als schließlich ein Stern am Horizont erschien, zog Rhapsody die Tagessternfanfare und deutete mit ihr in den Himmel. Dann sprach sie wie in ihrem Traum den Namen des Sterns aus und rief sein Feuer herbei. Ein Lichtstrahl, heller als ein Blitz, schoss aus dem Himmel und rollte wie eine weiße und flammenfarbene Welle über den Scheiterhaufen auf der Hügelkuppe. Rhapsody stand in der Nähe und hoffte in ihrem Innersten, dass das Feuer auch sie verzehren würde, doch das Inferno schwappte über sie hinweg; die blendende Hitze erhellte ihr goldenes Haar wie ein Leuchtfeuer, das meilenweit zu sehen war.

Der Grabhügel ging in Flammen auf, verkohlte Llaurons Körper in Sekunden und hob seine Asche in den Wind, wo sie wie schwarze Blätter tanzte, bevor sie in der Dunkelheit über dem Feuer verschwand. Rhapsody öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Sie schluckte wütend und zwang das Lied ihre Kehle hoch; die Melodie verbrannte ihr den Hals. Das Lied des Übergangs kam krächzend heraus und war kaum mehr als ein Flüstern. Sie sang, bis das Feuer niedergebrannt war und sich alle Spuren von Holz und Stoff in weißer, heißer Asche aufgelöst hatten.

»Es tut mir so Leid, Llauron«, flüsterte sie. Nur der Winterwind antwortete ihr mit einem leisen Jammern, das ihr durch die Haare fuhr und in ihre trockenen Augen stach. Sie stand bis zum Morgen Wache und sah stumm zu, wie der Tagestern verblasste und es am östlichen Horizont dämmerte. Dann nahm sie eine Hand voll Asche aus dem erkalteten Scheiterhaufen und füllte sie in einen Sack, den sie dem Wallach um den Hals band. Sie saß auf und ritt der aufgehenden Sonne entgegen, um Stephen Navarne von Llaurons Schicksal zu berichten.

Ashe wartete im Rauch der Schlacht. Im Morgenlicht war das Ausmaß der Zerstörung deutlich sichtbar. Er wusste, dass Rhapsody bald herkommen würde. Der Baum war drei Tagesreisen von der Stelle entfernt, wo Llauron gefallen war, doch sie würde sich beeilen. Die treuen filidischen Priester eilten in dem Kreis herum, kümmerten sich um die Verletzten und räumten die menschlichen Überreste aus Ashes Ein-Mann-Rettungsaktion fort. Der Überfall war mit erstaunlicher Geschwindigkeit zum Ende gekommen. Als Ashe eingetroffen war, hatte nichts mehr die Verwüstungen aufhalten können, die seine Wut mit sich brachte. Das Wissen, dass viele der Angreifer keinen eigenen Willen besaßen und unter dem Bann des Dämons standen, besänftigte seinen Zorn keineswegs. Rhapsodys Tränen hatten ihn in eine Raserei getrieben, die kein Halten mehr kannte.

Nun konnte er seinen Vater spüren, wie er sich durch die Erde bewegte und im Wind lachte.

Ist es das wert?, dachte er, als er das Bild der Vernichtung und des Todes betrachtete. Bist du jetzt zufrieden, Llauron? Wie viele Herzen müssen noch brechen, wie viele Leben enden, bevor deine Gier nach Macht gestillt ist?

Der Wind umwirbelte ihn und spielte mit den Zipfeln seines Mantels. Ashe seufzte. Llaurons letzter Wunsch war gewesen, eins mit den Elementen zu sein. Es war unmöglich zu wissen, was ihm der Wind gerade zu sagen versuchte.

»Bist du sicher, dass ich nichts für dich tun kann, Rhapsody?«

Rhapsodys Blick begegnete dem von Herzog Stephen. Sie sah die Besorgnis in seinen Augen, war aber nicht in der Lage, sein Lächeln zu erwidern.

»Ja«, sagte sie nur. »Es geht mir gut, vielen Dank. Bitte kümmert Euch um die Pferde. Falls es Euch möglich ist, mit Anborn Kontakt aufzunehmen, wird er Euch sagen, wie man mit ihnen umgehen muss.« Eine Haarsträhne fiel ihr in die Augen. Sie schob sie beiseite und sah zu der geschwärzten Hülse des einzelnen Glockenturms. Der kalte Wind fuhr durch die Glocken, die Navarne während des sorboldischen Angriffs gerettet hatten.

Der Herzog ergriff sanft ihre Hand. Er fuhr mit dem Daumen über die kleine, vom Schwertgriff schwielige Innenfläche und war über die Kälte ihrer für gewöhnlich warmen Haut entsetzt. Ihr ansonsten so fester Griff war schlaff und matt.

»Wohin wirst du jetzt gehen?«, fragte er mit tiefer Besorgnis in den Augen.

»Zum Haus der Erinnerung«, antwortete sie nur. »Llauron hat mich um zwei Dinge gebeten: dass ich den Ausgang seines Kampfes mit Khaddyr verkünde, was hiermit geschehen ist, und dass ich mich um den Großen Weißen Baum kümmere. Für den Schössling habe ich ein Schutzlied gesungen, das den Baum ebenfalls geschützt haben sollte. Ich werde es wiederholen, um sicherzugehen. Ich würde zu dem Baum reisen, aber Gwynwald ist so weit entfernt, und ich bin nicht nach Westen, sondern nach Osten unterwegs. Es ist das Letzte, was ich für ihn tun kann, und ich werde es tun. Dann werde ich nach Hause, nach Ylorc, zurückkehren, wo ich hingehöre.«

Herzog Stephen nickte. »Kannst du ein paar Tage hier bleiben und die Kinder besuchen? Sie haben schon nach dir gefragt.«

Rhapsody schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das klug wäre«, antwortete sie. »Bitte überbringt ihnen meine Liebe.«

Die Haut um die blaugrünen Augen zeigte Fältchen, als der Herzog von Navarne auch ihre andere Hand ergriff. »Du weißt, Rhapsody, dass du eigentlich zur Familie gehörst. Glaubst du, es wird eine Zeit geben, in der du mich einfach mit meinem Vornamen anreden wirst?«

Rhapsody dachte über diese Frage so lange wie möglich nach. »Nein, mein Herzog«, sagte sie. Sie verneigte sich tief vor ihm, verließ seine Festung und lief in die peitschenden Arme des Winterwindes.

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