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Haguefort, Provinz Navarne

Es war ein langer, schwieriger Tag gewesen. Ein bitterkalter Wind hatte Hagueforts hellbraune Steinmauern und Fenster fast eine ganze Woche lang umtost, Herzog Stephens Kinder in der Festung eingeschlossen und dafür gesorgt, dass die großen Winterfeuer andauernd in Gang gehalten werden mussten. Die Luft im Schloss war beißend vom Rauch, und das Atmen fiel schwer.

Dass heute zufällig der Geburtstag des schon vor zwanzig Jahren verstorbenen Gwydion von Manosse war, machte das Atmen kaum leichter. Die Trauer bei der Erinnerung daran, wie er seinen Kinderfreund vor so langer Zeit zerschmettert und blutüberströmt auf dem Gras unter dem ersten sommerlichen Vollmond gefunden hatte, bedrückte Stephen und öffnete ihm die Türen für das Gefühl des Verlustes, das er auch bei Lydia empfand und das wie Ziegelsteine auf seiner Brust lag. Er brachte Melisande ohne das übliche Wiegenlied zu Bett, gab Gwydion ohne das gewohnte Gespräch einen Gutenachtkuss und berief sich dabei auf seine hämmernden Kopfschmerzen.

Gegen Mitternacht erstarb der Wind, und Stephen entschied, für einen Moment hinaus in die Kälte zu gehen. Er öffnete die Balkontüren, trat nach draußen und drückte sich gegen die Wand, als ein beißender Windstoß hereinfuhr und ihm Hände und Gesicht gefühllos machte. Trotz der Kälte war die Luft süß und rein, als er sie einatmete, doch noch immer schmeckte er Reste von Rauch, der aus den vielen Kaminen des Schlosses aufstieg.

Die Leuchttürme waren dunkel; die Lampenanzünder hatten es aufgegeben, die Lichter in diesem Wind immer wieder zu entzünden, und daher war es im Hof unter ihm finsterer als gewöhnlich. Stephen erkannte die Gebäude dennoch: den Stall und die Kasernen, die niedergebrannt und wieder aufgebaut worden waren Schäden eines unerklärlichen Bauernaufstandes im vergangenen Frühling , und das cymrische Museum, das den Hof an der Nordseite begrenzte und dessen massive Steinwände zwar von Ruß geschwärzt, aber ansonsten unbeschädigt waren. Alles schien ruhig zu sein, als ob der Wind Welt und Zeit eingefroren hätte.

Dann sah er es. Zuerst glaubte er, es sei nur eine Einbildung, ein bläuliches Schimmern, das einen Moment lang im einzigen Fenster des Museums aufblinkte und rasch wieder verschwunden war. Stephen blinzelte das Wasser fort, das der stechende Wind ihm in die Augen getrieben hatte. Es war da gewesen; er war sich sicher.

Schon wieder.

Stephen überquerte den vereisten Balkon, zog sein Hemd enger um sich und rutschte über den Schnee, der zwischen den Steinen des erhöhten Bodens gefroren war. Er stand am Geländer und starrte hinunter. Er war ganz sicher, dass er es gesehen hatte.

Da war es.

Es würde lange dauern, zum Museum zu gehen, denn dafür musste er die Festung durchqueren. Stephen verwarf diesen Gedanken und kletterte behutsam über das Geländer auf die oberste Stufe der äußeren Wendeltreppe, die von dem halbkreisförmigen Balkon hinunter in den Hof führte. Er eilte die Stufen hinab und über die Schneehaufen hinweg, die der Wind auf ihnen angehäuft hatte.

Als er den Hof durchquert hatte, stachen ihm die Beine vom Waten durch die knietiefen, Eisverkrusteten Schneeverwehungen. Seine Ohren und Hände schrien in stummem Protest auf, als der Wind wieder einsetzte.

Die Museumstür war verschlossen, und es gab keine Anzeichen von Licht, sei es blau oder hell, im einzigen Fenster des Gebäudes, einer halbmondförmigen Scheibe über einer Tür im ersten Stock. Stephen tastete mit Händen, die vor Kälte zitterten, nach seinem Schlüssel. Als er den großen Messingschlüssel an seinem allgegenwärtigen Bund gefunden hatte, steckte er ihn rasch in das rostige Schloss und drehte ihn um. Die Tür ächzte unwillig, als er sie aufdrückte, doch ihr Jammern wurde bald vom Wind verschluckt. Stephen eilte nach drinnen und zog die Tür hinter sich zu.

Das fensterlose Erdgeschoss erinnerte eher an ein Mausoleum als an einen Ausstellungsraum von Artefakten. Es war zu einer Zeit errichtet worden, als cymrische Abstammung beschämend war oder man zumindest nicht mit ihr prahlte. Viel hatte sich seitdem nicht verändert. Die Bevölkerung des Kontinents hatte unter dem Krieg zwischen Anwyn und Gwylliam schwer gelitten und daher wenig Verständnis für die Abkömmlinge all jener, die den Herrschern treu ergeben gewesen waren und so viel Vernichtung nicht nur über sie selbst, sondern auch über die Nachbarvölker gebracht hatten. Aus zwei Gründen war das Museum ohne Fenster gebaut worden. Der erste bestand darin, die historischen Schätze vor den Einwirkungen der Sonne zu schützen. Der zweite bestand darin, sie vor rachsüchtigen Barbaren zu bewahren.

Als Stephen nun einen Blick auf die Ausstellungsstücke warf, verstand er den Drang der nichtcymrischen Bevölkerung, all dies zu zerstören, und gleichzeitig auch den Drang der cymrischen Abkömmlinge, ihre Abstammung zu verheimlichen. Die düster dreinblickenden Statuen und Bruchstücke cymrischer Geschichte hatten ihn seit seiner Jugend begeistert, doch für andere mochten es Überreste aus einer Zeit der Prahlerei sein, in der die Leute mit Kräften begnadet waren, die sie nicht verstanden und die sie verführten, sich selbst als göttergleich anzusehen. Angesichts der Zerstörung, die ihre einst so große Zivilisation über die Welt gebracht hatte, war dieser Groll verständlich.

Verständlich, aber traurig. Stephen betrachtete sein historisches Werk: die sorgfältig geschützten Artefakte, die genauen Reproduktionen alter Manuskripte, die polierten Statuen Ausstellungsstücke, die liebevoll präsentiert waren, aber von niemandem besichtigt wurden. Dem cymrischen Zeitalter wohnte eine Großartigkeit inne, die niemand außer einem Historiker würdigen konnte; es lag ein Funke von Genialität und Erregung darin, ein tiefes Interesse am Leben selbst und seinen Möglichkeiten, mit dem Stephen seit seiner Geburt gesegnet war und das er noch immer in seinem Blut spürte, sogar im Angesicht der Traurigkeit und Verrücktheit seines eigenen Lebens.

Über seinem Kopf polterte etwas auf den Steinboden. Stephen fuhr zusammen. »Wer ist da?«, rief er.

Ein blaues Licht antwortete ihm. Es erfüllte die Treppe am hinteren Ende des kleinen Gebäudes. Stephen ging rasch zu einem der Waffenständer und ergriff ein Breitschwert es war die Waffe, die Faedryth, der König der Nain, auf der letzten cymrischen Versammlung im großen cymrischen Gerichtshof getragen und dort zurückgelassen hatte. Es hieß, dass Faedryth das Schwert voller Abscheu in die Schale des Gerichtshofes geworfen und damit auf ewig seine Bande und die seines Volkes zu der cymrischen Dynastie durchschnitten habe. Danach war er mit seinen Untertanen in Länder jenseits von Hintervold gezogen.

Langsam näherte er sich der Treppe, wo das Licht nun in Wellen herunterwogte.

»Wer ist da?«, wollte er erneut wissen.

Wie zur Antwort wurde das Licht heller, zwingender. Stephen kamen die gewaltigen Glasblöcke in Erinnerung, die in den Wänden der großen Seebasilika Abbat Mythlinis steckten, in der er oft betete. Die Glasblöcke waren unterhalb des Meeresspiegels eingelassen, sodass man das Wasser durch die Wände des riesigen Tempels sehen konnte. Es erfüllte die Basilika mit einem verschwommenen blauen Licht, das in Wellen über die Betenden hinwegrollte. Er schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, und ging langsam und schweigend die Treppe hoch.

Am oberen Ende glitzerte die Kupferstatue der Drachin Elynsynos in dem azurnen Licht; die Juwelen und Vergoldungen blinkten gefährlich. Stephen bückte sich und behielt seine Deckung. Dann verschwand das Licht.

»Hallo Stephen.« Die sanfte und entfernt vertraute Stimme kam aus der hinteren linken Ecke des Raumes.

Beim Klang seines Namens richtete sich Stephen auf und betrat mit dem Königsschwert in der Hand das erste Stockwerk. Eine Gestalt in Mantel und Kapuze stand in der Dunkelheit des Raumes und betrachtete die kleine Ausstellung, die Stephen aus den Habseligkeiten des Gwydion von Manosse zusammengetragen hatte. Der Mann fuhr sanft mit der Hand über das bestickte Tuch, das den Tisch bedeckte. Die Finger kamen auf dem Gestell mit den jungfräulichen Votivkerzen zur Ruhe, das vor der Ausstellung stand.

»Geburtstagskerzen?« Die Stimme der Gestalt war warm und enthielt eine Spur von Neckerei. Stephen packte das Schwert fester und hob es ein wenig. »Erinnerungskerzen. Wer bist du? Wie bist du hier hereingekommen?«

Der Mann wandte sich ihm zu. »Zuerst zur zweiten Frage. Ich bin mit dem Schlüssel hereingekommen, den du mir gegeben hast.«

Stephen trat näher. »Lüge. Außer mir hat niemand einen Schlüssel. Wer bist du?«

Der verhüllte Mann seufzte. »Vielleicht kein Lebender.« Er hob die Hände und nahm die Kapuze ab. »Ich bin es, Stephen. Gwydion.«

»Entferne dich, oder ich hole die Wachen.« Stephen trat einen Schritt zurück und tastete nach dem Treppengeländer.

Ashe packte den Schwertgriff und zog die Waffe aus der Scheide. Kirsdarkes blaues Licht strömte still hervor und glitzerte in Wellen wie fließendes Wasser. Es beleuchtete seine Haare und sein Gesicht, die eine Spur von Kupfer in das Blau mischten.

»Ich bin es wirklich, Stephen«, sagte er sanft und nahm eine passive Haltung ein. »Und ich lebe tatsächlich noch, teils dank deiner Dienste an dem Tag, als du mich auf dem Waldboden gefunden hast.«

»Das ist unmöglich«, murmelte Stephen. Der Schock hatte ihn betäubt. »Khaddyr ... Khaddyr konnte dich nicht retten. Du bist gestorben, bevor ich mit ihm zurückgekommen bin.«

Ashe stieß einen Seufzer des Unbehagens aus und fuhr sich mit der Hand durch die kupfernen Locken. »Es tut mir Leid, dass man dich belogen hat, Stephen. Man kann es einfach nicht hinreichend erklären.«

»Verdammt richtig!«, rief Stephen, warf das Nain-Schwert auf den Boden und zuckte zusammen, als es klappernd auf dem Stein aufschlug. »Du lebst? Seit all den Jahren? Welch ein ekelhafter Scherz war das?«

»Eine Notwendigkeit, fürchte ich«, sagte Ashe sanft. Das schmerzverzerrte Gesicht seines Freundes bedrückte ihn tief. »Es ist kein Scherz, Stephen. Ich habe mich versteckt gehalten.«

Und das weißt du, falls du der Wirt des F’dor bist, flüsterte seine Drachennatur misstrauisch.

»Vor mir? Du konntest nicht einmal mir vertrauen? Du hast es zugelassen, dass ich die ganzen Jahre über geglaubt habe, du seiest tot? Möge die Leere dich holen!« Stephen drehte sich wütend um und machte sich daran, die Treppe hinunterzulaufen.

»Das hätte sie beinahe getan, Stephen. Manchmal weiß ich nicht, ob es ihr nicht schon gelungen ist.«

Der Herzog von Navarne hielt inne. Er sah zurück auf den Umriss seines Freundes, der in den blauen Schatten stand. Sein Blick glitt an der wässerigen Klinge entlang.

»Kirsdarke«, sagte er mit brechender Stimme. »Ich habe es Llauron gegeben, nachdem du ... nachdem er mir gesagt hat, dass...«

»Ich weiß. Vielen Dank.«

Stephen kam zurück in den ersten Stock und rieb sich linkisch die Hände. »Ich hatte Angst davor, es an mich zu nehmen, und noch mehr Angst davor, es dort zurückzulassen, wo du so schwer verwundet gelegen hast«, sagte er langsam. Innerlich krümmte er sich vor den Bildern seiner Erinnerung. »Ich ... wir ... hatten immer Witze darüber gemacht, dass ich es dir stehlen würde, sobald du es errungen hättest...«


Ashe ließ das Schwert fallen und lief auf seinen Freund zu. Sie trafen sich auf halber Strecke in einer verzweifelten Umarmung. Stephen zitterte vor Schock, und Ashe verfluchte wieder einmal sich selbst und seinen Vater.

»Es tut mir Leid«, flüsterte er und drückte die breiten Schultern des Herzogs. »Ich hätte es dir gesagt, wenn es mir möglich gewesen wäre.«

»Möge der All-Gott mir verzeihen, weil ich seinen Segen verschmäht habe«, antwortete Stephen und gab die Umarmung zurück. Er löste den Griff von seinem Freund und ging durch das wabernde blaue Licht zu der Stelle, wo das Schwert lag. Er bückte sich, hob es auf und gab es Ashe zurück. Ashe nahm es an sich und steckte es in die Scheide, wodurch er das Licht wieder löschte.

»Komm mit mir in die Festung«, bat Stephen und drehte sich nach der dunklen Treppe um.

»Hier drinnen ist es so kalt wie in einer Hexenzitze. Wir setzen uns vor den Kamin und ...«

»Ich kann nicht, Stephen.«

»Musst du dich immer noch verstecken?«

»Meistens.« Ashe ging zurück in die Ecke und betrachtete wieder die Dinge auf dem Tisch. Rhapsody hatte sie einmal einen Schrein genannt; nun verstand er den Grund für diese Bezeichnung. Abgesehen von dem Altartuch und den Kerzen befanden sich hier die letzten Dinge, die er an jenem Tag bei sich gehabt hatte, als er dem Dämon gefolgt war: der goldene Siegelring, ein zerbeulter Dolch und das Armband, das Stephen ihm in seiner Jugend geschenkt hatte. Es bestand aus geflochtenen Lederbändern, die an einer Seite aufgerissen waren. An der Wand hinter dem Tisch hing ein Messingteller, der fein verziert und mit seinem Namen versehen war. Seine Drachensinne bemerkten, dass dieser Teller im Gegensatz zu den anderen im Museum nicht angelaufen war.

»Warum? Warum zeigst du dich mir jetzt?«

»Vielleicht weil heute mein Geburtstag ist«, meinte Ashe scherzhaft. Doch sein Lächeln löste sich zu etwas Dunklerem auf. »Ich verstecke mich nicht mehr so wie in den letzten zwanzig Jahren. Ich habe in dieser Zeit niemandem mein Gesieht gezeigt, Stephen, nicht einmal Llauron. Jetzt überlege ich sehr genau, wann und wem ich mich offenbare. Der Dämon sucht zweifellos noch immer nach mir. Ich will derjenige sein, der den Zeitpunkt auswählt, wenn ich entdeckt bin.«

»Ich erinnere mich daran, Berichte über deine Erscheinung gehört zu haben, einige sogar vor kurzer Zeit, aber ich habe sie als Gerüchte und Legenden abgetan.«

Ashe erzitterte. »Es war keins von beiden, fürchte ich. Aber ich war es nicht.«

»Kannst du mir sagen, was passiert ist?«

»Deswegen bin ich heute Abend hergekommen. Jawohl.«

Zum ersten Mal lächelte Stephen. »Das glaube ich dir nicht«, sagte er gut gelaunt. »Du hast bloß gehofft, ein Stück vom Geburtstagskuchen und ein gutes Tröpfchen zu schnorren. Komm, ich bringe dich unbemerkt in die Festung. Wir können durch die Stallungen zum Weinkeller gehen. Vielleicht finden wir auf dem Weg etwas, womit wir deinen Geburtstag feiern können.«

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