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Südwestliches Navarne, am Rande des Waldes von Tyrian

»Hatte ja keine Ahnung, dass du auch Flöten machen kannst«, bemerkte Grunthor, während er das erlöschende Feuer mitten in ihrem Lager am Rande von Tyrian betrachtete. »Du bist wirklich ’n Mann mit vielen Talenten.« Er blickte in die Dunkelheit des Waldes und rechnete nach, dass sie bei ihrer Geschwindigkeit einen Tag vor der Krönung eintreffen würden. Achmed trieb langsam einen spitzen Schneckenbohrer in das lange, lackierte Instrument, das er in Gwylliams Schatzgruft in einer Kiste mit Messingbändern gefunden hatte.

»Mir gefällt die Vorstellung nicht, unbewaffnet zu sein. Diese Flöte ist ein Geschenk für Rhapsody; ich glaube, es ist eine Antiquität. Falls nicht, dann sieht sie jedenfalls so aus, wenn ich mit ihr fertig bin.« Seine Stimme schwang in den Rhythmus seiner Arbeit ein. Verstehen legte sich in Grunthors Stimme. »Erwartest du ’n Problem bei der Krönung? Von wem?«

»Von keinem und jedem. Die Lirin nehmen ihre ›Keine Waffen‹ Regel sehr ernst. Als ich das hier mitgenommen habe, habe ich mir gedacht, es könnte als Stock dienen, aber ich will unbedingt vorbereitet sein, falls jemand erscheint, der nicht eingeladen ist.« Grunthor nickte.

»Ich erwarte zwar, dass die Lirin Rhapsody gut bewachen, aber ich will nicht hilflos sein, falls es eine Panne gibt.«

»Was für Pfeile willst du denn in deiner ›Flöte‹ benutzen?«

»Die schweren. Aus diesem Grund muss das Innere gefurcht sein.«


»Klingt wie Hrekin.«

»Das wird ihr egal sein. Es ist der gute Vorsatz, der zählt. Besonders wenn er ihr das Leben rettet.«

Die Reisenden arbeiteten eine Weile weiter und hörten erst auf, als der Feuerkreis völlig dunkel geworden war. Grunthor fütterte die Pferde, die ein paar Schritte entfernt standen, und deckte sie für die Nacht zu; dann begab er sich in das geschützte Gebiet zwischen Achmeds Wachtposten und dem Feuerkreis und legte sich schlafen. Er sah in die Richtung des Fir-Bolg-Königs und erkannte schwach seine Umrisse. »Wirst du ihr etwas von dem anderen Zweck der Flöte sagen?«

»Nein. Das ist nicht nötig, wenn du die Pfeile aus den Körpern entfernst, bevor Rhapsody sie bemerkt.« Achmed kauerte sich dichter über den Boden. »Es ist wichtig, dass sie es nicht weiß. Sie hat jetzt ihren Platz gefunden, und wenn sie sich das Leben erobern möchte, das sie haben will, muss sie das Gefühl haben, allein für sich verantwortlich zu sein.«

Ein verärgertes Seufzen kam von der Stelle, wo Grunthor lag, und in der Antwort des Riesen war ein tiefes Grummeln zu hören. »Ich hass es, sie hinters Licht zu führen. Ihr lebt alle mit so vielen Lügen. Ich weiß nich, wie ihr das aushaltet.«

»Alle außer dir, mein Freund; ich weiß. Wenn man über einige Dinge die Wahrheit sagt, bedeutet das, dass man sie über alles sagt. Die Lügen helfen uns dabei, uns selbst auszuhalten. Ich hoffe, du lebst lange genug, um zu verstehen, was ich meine.«

Grunthor, der den Klang der verwirrenden Stimme schon so lange kannte, war bereits eingeschlafen.

Der Lirin Palast in Newydd Dda

Rhapsody sah aus dem Balkonfenster in die Dunkelheit des Hofes. Den ganzen Tag und bis tief in die Nacht waren Vorbereitungen getroffen und die Bäume von Tyrians Wald mit Winterblumen und Windspielen behangen worden.

Im Hof hatte man ein Podest errichtet, wobei man die bereits bestehenden Tribünen benutzt und so hingestellt hatte, dass die Ehrengäste vor der frisch gekrönten Königin vorbeidefilieren konnten. Das andauernde Hämmern und Sägen vor dem Fenster erinnerte Rhapsody an die Errichtung eines Galgens. Das war ein passendes Bild, denn sie fühlte sich in der Tat wie eine Gefangene, die am nächsten Morgen hingerichtet werden sollte.

Als der Lärm verstummt war, öffnete sie die großen Glastüren, um die Nachtluft hereinzulassen. Die Vorhänge bauschten sich im Wind, der das Schlafzimmer mit dem süßen Duft einer warmen Winternacht erfüllte. Die Blätter der Bäume, die den Baldachin des Bettes bildeten, raschelten über ihr, als sie sich untröstlich niedersetzte und wünschte, sie wäre in Elysian.

Die Vorhänge flatterten wieder auf und eine verhüllte Gestalt trat aus dem Schatten auf den Balkon und kam in das Zimmer. Rhapsody schaute auf und war entsetzt über die Lücke in den Sicherheitsvorkehrungen. Doch dann legte sich ein breites Grinsen der Erleichterung auf ihr Gesicht. Sie sprang aus dem Bett und lief auf den Eindringling zu.

»Du bist gekommen! Ich hatte es so gehofft. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen.«

»Das Schafott ist fast fertig«, sagte Achmed mit einem trockenen Lächeln. »Noch ist Zeit zur Flucht.«

»Führe mich nicht in Versuchung. Ich habe gehofft, du würdest mich davon abhalten.«

Rhapsody nahm ihm den Mantel ab und hängte ihn in ihren Schrank.

»Es gibt keine neuen Welten mehr, in denen du Zuflucht suchen könntest«, sagte Achmed und goss aus der Karaffe auf der Anrichte Branntwein in ein schweres Kristallglas.

Rhapsody erzitterte. Selbst nach dieser langen Zeit war die Erinnerung an die Wurzel noch sehr lebendig in ihr. »Ich dachte, du bist hier, um mich aufzumuntern.«

»Das Fenster ist offen; wir können gehen«, sagte er und setzte sich in einen der samtenen Ohrensessel vor dem Kaminfeuer.

»Warum machst du es dir dann bequem?«

»Weil ich finde, dass es an der Zeit ist, es mir bequem zu machen.« Achmed sah das Feuer an, das verführerisch brannte. »Jetzt musst du dir einen Platz aussuchen, an dem du leben möchtest. Dieser hier scheint so gut wie jeder andere zu sein.«

Rhapsody seufzte. »Wunderbar. Damit bin ich wohl aus Elysian verbannt. Bist du den ganzen Weg bis hierher gekommen, nur um mir mein Herzogtum wegzunehmen?«

»Natürlich nicht.« Achmed nahm einen Schluck. »Du brauchst es dringender denn je.«

Rhapsody ging zurück zum Fenster und schloss die Balkontüren. Sie drehte sich um und lehnte sich dagegen, verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte Achmed mit einem langen Blick. »Warum ist es ein so seltsames Gefühl? Bedeutet das, dass es unklug war?«

»Ich würde mir an deiner Stelle Sorgen machen, wenn ich kein seltsames Gefühl hätte«, sagte er. »Dann nämlich wären deine natürlichen Instinkte umwölkt. Wenn du nervös bist, ist das ein gutes Zeichen. Wenigstens gehst du die ganze Sache mit offenen Augen an.«

Sie kam hinüber zu seinem Sessel, bückte sich neben ihn, nahm sein Kinn in die Hand und zwang ihn, sie anzusehen. »Hilf mir«, sagte sie.

Er sah sie mitleidslos an. »Du brauchst meine Hilfe nicht. Du hast alles unter Kontrolle. Du hast ganze Heere, falls du Schutz brauchst. Du hast Ratgeber, falls du Rat brauchst. Du hast einen Staatsschatz, falls du neue Kleider und anderes Spielzeug haben willst, auch wenn die Götter allein wissen, warum das der Fall sein sollte. Du hast meine Schatztruhen geleert, um all das zu kaufen. Welche Hilfe könnte ich dir also geben?«

»Sag mir, ob ich das Richtige tue.«

»Nein. Das weißt du bereits. Du bekommst nicht erst morgen deine Krone, du hast schon eine, die dir um den Kopf wirbelt. Wenn du die Zeremonie absagen willst, dann tu es. Darin sieht hier außer dir niemand ein Problem.«

»Ist das alles? Das ist dein bester Rat?«

Er kicherte. »Meinen besten Rat habe ich dir schon vor langer Zeit gegeben: Zieh das Kinn ein, denn du wirst eine Abreibung bekommen. Rechne damit und sei bereit; vielleicht siehst du es sogar kommen. Das bezieht sich nicht nur auf Schlachten und Taktik.«

Gegen ihren Willen musste Rhapsody lächeln. »Davon gehe ich aus. Kannst du hier bleiben?«

»Eben hast du mich noch gefragt, warum ich es mir bequem mache.«

»Da hatte ich noch gehofft, du würdest mich mitnehmen.«

»Du musst selbst entscheiden, ob du gehen oder bleiben willst. Das kann ich dir nicht abnehmen.«

Rhapsody seufzte ein weiteres Mal und trat wieder zum Fenster. Sie schaute hinaus in die Finsternis des Hofes, erkannte aber weder die Tribüne noch das Podest. Sie lehnte den Kopf gegen das kühle Glas.

»Ich bleibe.«

Hinter ihr lächelte Achmed. »Wie dem auch sei, brauchst du dich nur umzudrehen, wenn du fertig bist. Ich werde immer dicht hinter dir sein.«

»Äh, Herrin, darf ich Euch für einen kurzen Augenblick belästigen?«

Rhapsody zog den Gürtel um ihr Seidenkleid und öffnete die Tür zu ihren Gemächern. »Ja, Sylvia?« Sie schirmte die Augen vor der Morgensonne ab, deren Licht sich durch das Fenster neben der Tür ergoss.

Die Kammerdienerin rang nervös die Hände. Sie war eine ältere Frau, die Rhapsody sehr mochte. Ihre mandelförmigen Augen, obsidianschwarz wie die der Lirin der Städte, blinzelten im Morgenlicht, als sie mit ruhiger Stimme zu sprechen versuchte.

»Da ist ein ... ein Herr, der Euch sehen möchte und der sagt, er sei ein herbeigebetenes Mitglied Eurer Ehrengarde.«

Rhapsody ergriff beruhigend die Hände der Frau. Vielleicht war es Anborn; seine Schroffheit übte oft eine einschüchternde Wirkung auf die Leute aus. »Worum geht es?«

»Er ... nun ja ...«, stammelte die Kammerdienerin ängstlich. »Er ist groß, Herrin.«

Ein erfreutes Lächeln legte sich über das Gesicht der zukünftigen Königin. »Oh, natürlich! Bitte führe ihn sofort herein.«

Sylvia erblasste. »Hier herein, Herrin?«

Rhapsody streichelte der Frau über die Wange. »Es ist schon in Ordnung, Sylvia. Er ist ein alter Freund einer meiner liebsten. Bitte bring ihn her.« Sylvia starrte sie an, nickte dann und verschwand. Einen Augenblick später betrat ein gewaltiger, grinsender Firbolg den Raum. Rhapsody rannte erfreut in seine Arme.

»Grunthor! Ich bin so froh, dich zu sehen.«

»Ganz meinerseits, Herzchen«, erwiderte der Sergeant und gab die Umarmung zurück. Dann setzte er sie vorsichtig wieder auf dem Boden ab und schlug die Hacken zusammen. »Ich dank dir dafür, dass du mich in deine Ehrengarde aufgenommen hast.«

»Aufgenommen? Sie steht unter deinem Kommando.«

Grunthor grinste vor Freude. »Oh, wundervoll. Also, ich bin sicher, das wird ihnen gefallen!«

Rhapsody lachte. »Nun, es wird bestimmt eine große Freude sein, euch zuzusehen. Es muss an diesem schrecklichen Tag doch wenigstens etwas geben, worauf man sich freuen kann.«

»Na na, das will ich aber nich hören«, meinte Grunthor ernst. »Das is’n wichtiger Tag, wirklich. Hab schon immer gedacht, so was hast du verdient, nachdem du von zu Hause fort musstest und so weiter. Dein Wald ist bestimmt’n schöner. Bist du glücklich hier?«

»So glücklich wie ich sein kann, wenn ich von dir und Achmed getrennt bin, glaube ich«, meinte Rhapsody und hielt ihm das Frühstückstablett entgegen. »Bist du hungrig? Sieht hier irgendetwas verlockend für dich aus?«

»Hast du ’n paar von diesen kleinen mit Lirin gefüllten?«, fragte der Bolg ernsthaft, während er mit der Klaue über eine der Pasteten strich. »Die hab ich am liebsten.«

»Das ist nicht witzig«, sagte Rhapsody, obwohl auch sie lachen musste.

Grunthor betrachtete das unangerührte Tablett und gönnte sich dann einige der Delikatessen.

»Hast ja keinen Bissen gegessen, Herzchen. Na jetzt aber, na los, iss was. Sonst wirst du noch mitten in deiner eigenen Feier ohnmächtig.«

»Gut«, meinte Rhapsody und stellte das Tablett ab. »Vielleicht glauben sie dann, ich sei plötzlich gestorben, und krönen jemand anderen. Aber leider werde ich nie ohnmächtig.« Sie nahm eine Pastete und biss hinein.

Ein Klopfen ertönte an der Tür. »Seid Ihr fertig, Herrin? Die Prozession stellt sich auf.«

»Mmmment«, nuschelte Rhapsody mit dem Mund voller Pastete. Sie schluckte rasch. »Ich bin gleich fertig, Sylvia.« Gedankenlos zog sie ihr Kleid vor Grunthor aus, glättete den Unterrock und rannte in das Ankleidekabinett. Das wunderbare Kleid, an dem die Näherinnen endlos gearbeitet hatten, hing auf einem Satinbügel. Sie nahm es vorsichtig ab und schlüpfte hinein.

»Grunthor, machst du bitte mal den untersten Knopf zu?« Sie reichte ihm den Knopfhaken. Er starrte das Instrument hilflos an, als Sylvia noch einmal klopfte und eintrat. Sie hielt eine glitzernde Perlenkette in der Hand, ein Geschenk der See-Lirin, das in Rhapsodys Haar gewoben werden sollte.

»Lass mich das tun«, sagte sie rasch und knöpfte eigenhändig den unteren Teil von Rhapsodys Kleid zu. »Dreht Euch um, Herrin, und lasst Euch anschauen.«

Rhapsody gehorchte. Sowohl der Firbolg-Riese als auch die kleine lirinsche Kammerdienerin sahen sie erstaunt an. Ihr wunderbares Haar war über der Stirn zu Mustern gelegt, die an kleine goldene Blumen erinnerten. Die vorderen Locken waren zurückgekämmt, sodass ihr schönes Gesicht ganz frei war. Der Rest der Haare war am Hinterkopf zu einem weichen Knoten zusammengesteckt und mit einer Nadel gesichert, die jene sandkorngroßen Splitter des Diamanten enthielt, welche zu klein gewesen waren, um bei der Herstellung der Krone Verwendung zu finden.

Das Kleid selbst war ein Wunder. Es passte vollkommen zu Rhapsodys Figur und Farbe, schimmerte irisierend und bestand aus einem Seidenstoff, der alle Farben des Regenbogens enthielt und gleichzeitig weiß glänzte. Die lirinschen Näherinnen wussten besser als alle anderen, wie man einen lirinschen Körper bekleidete, und sie hatten Rhapsodys Figur betont, indem sie das Kleid ihren schlanken Linien angepasst hatten. Die langen Ärmel liefen an den Handgelenken spitz zu; die Taille war unter dem Bauch angesetzt und in einem Unterteil fortgeführt, das bis auf den Boden reichte. Ein Umhang aus weißem Satin lag um die Schultern des Kleides, sowohl zur Zierde als auch um sie in der Winterkälte warm zu halten. Als sie sich umdrehte, lugten die Spitzen winziger Schuhe hervor.

»Du siehst toll aus«, meinte Grunthor begeistert. »Nu aber los. Hab noch nie ’ne Ehrengarde befehligt. Da will ich nich zu spät kommen.«

Der Krönungszeremonie wohnten nur die höchstrangigen Lirin aus dem Wald, den Ebenen, von der See und aus Manosse sowie Rhapsodys engste Freunde und die Ehrengarde bei. Grunthor war als Befehlshaber ausgewählt worden, weil die Soldaten die Einzigen waren, die von dem Verbot des Waffentragens ausgenommen waren, und Rhapsody wusste, dass er ohne seine Waffen verloren gewesen wäre.

Zusätzlich zu ihrem riesigen Firbolg-Freund hatte sie trotz Oelendras Einwänden Anborn gefragt sowie Gwydion Navarne, den Sohn von Herzog Stephen, ob sie auch in der Ehrengarde dienen wollten. Anborn schien erfreut zu sein, auch wenn er zusammen mit einem Dreizehnjährigen unter dem Befehl eines Bolg stand. Er winkte Rhapsody auf skandalöse Weise zu, als sie die Rotunde des Palastes von Newydd Dda betrat. Er machte eine geschwungene Handbewegung und deutete damit an, dass sie hinreißend aussah. Rhapsody lachte; sie war ihm dankbar dafür, dass er die Feierlichkeit durchbrach, die sie bereits in Panik zu versetzen drohte.

Sie küsste Gwydion Navarne, ihren ersten adoptierten Enkel, und sah, wie sein Gesicht die Farbe von Rials scharlachroter Schärpe annahm. Er zitterte vor Erregung, denn er war der Kompanie des legendären cymrischen Helden und des massigen Sergeant-Majors zugeteilt worden, der ihm während der Wartezeit gezeigt hatte, wie man Nissen aus Hautfalten und anderen intimen Körperteilen entfernen konnte. Ein silbernes Hörn ertönte und kündete die Ankunft ihres Schlittens an. Die großen Portale des niedrigen Palastes von Newydd Dda wurden aufgestoßen. Rhapsody schaute zu, wie vier zueinander passende Rotschimmel unregelmäßiger Färbung einen reich verzierten hölzernen Schlitten herbeizogen und genau vor der Tür stehen blieben. Rotschimmel waren Rösser, welche die Lirin sehr schätzten, besonders die Gefleckten, denn sie waren im Wald am besten getarnt und gut zu verstecken. Die Pferde waren sorgfältig gestriegelt und fein geschmückt, und ihr warmer Atem bildete Dampfwolken und Eiskristalle in der frostigen Luft.

Rial geleitete Rhapsody über den ausgelegten Teppich, half ihr auf den gepolsterten Sitz und richtete den Umhang für sie. Dann ging die Prozession los, zog langsam durch den Schnee und den Berg hoch nach Tomingorllo und in den Thronsaal, wo die Krone wartete.

Kein Geistlicher oder Adliger krönte die neue Königin, denn es gab keine solchen. Das Waldvolk von Tyrian war eher der Religion von Gwynwald als der von Sepulvarta verbunden, obwohl mehrere Jahrhunderte zuvor Repräsentanten beider Glaubensrichtungen hier vertreten gewesen waren. Rhapsody hatte den Vorschlag abgelehnt, dass der Fürbitter sie offiziell segnete, und keinen Grund dafür angegeben. Es stellte sich sowieso als unmöglich heraus, denn einige Tage vor der Zeremonie wurde die Nachricht überbracht, dass Khaddyr, der neue Inhaber dieses Amtes, verschwunden und seit dem großen Waldbrand vor vierzehn Tagen nicht mehr gesehen worden sei. Die lirinschen Priester, die unter Llauron ausgebildet worden waren, erboten sich, beim großen Empfang einzuspringen, was auf Zustimmung stieß. Doch wie an dem Abend, als Rhapsody das Diadem ins Leben zurückgebracht hatte, krönte es die neue Königin selbst. Sie stand vor dem silbernen Sockel und öffnete langsam den Behälter. Die glitzernden Juwelen entflammten unter ihrer Berührung zu feurigem Leben. Sie wurden durchscheinend, wirbelten aus dem Behälter und wanden sich ihr um den Kopf. Selbst diejenigen, die diesen Anblick schon gesehen hatten, schauten ehrfürchtig zu. Als sich das Strahlen zu einem Kreismuster aus ätherischem Licht verdichtete, blickte Rhapsody zu Achmed und lächelte. Sie erhielt ein Nicken als Erwiderung. Dann sah sie rasch Oelendra an und hielt den Kopf hoch. Die lirinsche Meisterin verneigte sich leicht und schenkte Rhapsody einen anerkennenden Blick.

Rial kniete nieder und sprach die uralte Segensformel, die bei Krönungen aus der Zeit vor der Ankunft der Cymrer auf dem Kontinent vorgetragen worden war.

»Inde aria tiron seth severim vur amasmet voirex.« Mögen die Sterne dir ihre Augen und Weisheit geben, damit du uns so leitest, wie sie es tun würden, wenn sie sprechen könnten.

Mit Ausnahme der Ehrengarde knieten alle nieder und wiederholten die Worte des Schutzherrn.

Die schiere Absurdität und Lächerlichkeit des Ganzen, die Rhapsody bisher insgeheim verspürt hatte, schmolzen mit einem Mal dahin. Sie neigte den Kopf und fügte ihr eigenes Gebet hinzu, sie möge sich dieser Leute, die an sie glaubten, als würdig erweisen. Als die Zeremonie vorbei war, brachen die Anwesenden in gedämpften Jubel und Applaus aus und umarmten sich lachend. Zuerst umarmte Rhapsody Oelendra und dann Rial auf dem Weg durch den kreisrunden Raum zu der Stelle, wo Achmed wartete. Sie ergriff seine Hände und küsste ihn auf die Wange.

»Nun, mit deiner Hilfe habe ich überlebt«, sagte sie und grinste ihn an.

»Du hast dich behauptet, und zwar aus eigener Kraft«, antwortete er freundlich. »Ich habe dich von der Flucht abgehalten, damit du das tun konntest, was du sowieso vorhattest.«

Ihr Blick wanderte zu der seltsamen, sonnenartigen Brosche an seiner Robe. »Das ist eine hübsche Anstecknadel«, sagte sie geistesabwesend. »Ist das das neue Zeichen der Bolg?« Sie streckte die Hand aus, um es zu untersuchen. Achmed ergriff sie rasch und küsste sie. Rhapsody sah ihn erstaunt an.

»Berühren verboten«, sagte sie neckisch.

»Eure Majestät«, ertönte Rials Stimme durch die Große Halle, »Eure Gäste warten unten auf Euch.«

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