76

Anborn wandte sich an Ashe, während die Menge wieder die Stimme erhob.

»Es tut mir Leid, Junge, das ist nicht persönlich gemeint. Ich fürchte, die Lage ist ein wenig komplizierter.« Ashe nickte schroff und sah wieder Rhapsody an. Viel komplizierter, dachte er wehmütig.

Streit brach aus. Es war keine drohende Gewalt wie zuvor, doch eine heftige Debatte darüber, wer der geeignete Führer der Ersten Flotte wäre. Eine Stimme war über allen anderen zu hören.

»Das Recht über die Erste Flotte steht Edwyn Griffyth zu«, sagte Hyllion, ein lirinscher Adliger, der um Rhapsodys Hand angehalten hatte. Die Erste Flotte spendete ihm Beifall.

»Führe uns an, Edwyn Griffyth!«

»Lasst mich aus dem Spiel«, knurrte Edwyn Griffyth, und die Menge verstummte für einen Moment. Es war das erste Mal, dass die Versammlung ihn sprechen hörte. »Ich würde sonst in Versuchung kommen, euch bis zum Ende der Welt zu führen und über den Rand zu stoßen. Vor kurzem habe ich noch den närrischen Glauben gehegt, es könnte Hoffnung für euch alle geben. Aber ihr macht es schon wieder. Ihr legt denselben blinden Gehorsam an den Tag, aus dem ihr meiner Mutter in eure Vernichtung gefolgt seid! Wählt jemanden, der für euch spricht und dem ihr nicht untersteht, bloß weil er mit dem Schiff eurer verdammten Vorfahren hergekommen ist. Schwört euren Treueid dem neuen Herrn und der neuen Herrin.« Die versammelten Cymrer beredeten sich erneut.

»Dann Oelendra«, schlug eine andere Stimme vor, und nun gab es eine Veränderung im Ton des Gemurmels. »Sie hat uns nach dem Sturm angeführt, der Merithyn verschlungen hat, und uns sicher in dieses Land gebracht, wo wir uns in Frieden niedergelassen haben.« Die Menge murmelte zustimmend und sang dann ihren Namen.

»Ich lehne ab«, ertönte eine ruhige Stimme von einem Hügel in einiger Entfernung der Versammlung. Rhapsody schaute auf und sah die alte Kriegerin am Rande der Senke stehen. Sie drehte sich um und entfernte sich noch etwas weiter.

Rhapsody sank das Herz. Sie wusste, dass es ihre Pflicht als Ruferin war, neutral zu bleiben, doch sie wollte unbedingt etwas Ermutigendes sagen. Sie sah hinunter auf Grunthor und lächelte.

»Wir müssen uns selbst vergeben«, wiederholte sie sanft. Ihre Worte hallten durch die Senke.

»Richtig«, pflichtete ihr der riesige Firbolg bei. »Geht mich zwar nichts an, aber ich glaub, du bist die richtige Wahl. Wenn die Flotte auf dich gehört hätte, wäre sie nie in diesen dämlichen Krieg geraten. Und wenn die Lirin auf dich gehört hätten, wär’s ihnen besser ergangen, nich wahr? Und wenn die alte Annie auf dich gehört hätte, warn wir alle schon zu Hause beim Abendessen und müssten nicht ’nen verdammten Kontinent zusammenführen, oder? Was sagst du, Mädchen? Gib ihnen die Gelegenheit, es diesmal richtig zu machen.«

Nach einem Augenblick voll des stillen Erstaunens über die Rede des Sergeanten brach die Erste Flotte in Jubelrufe aus und rief laut ihren Namen. Rhapsody warf Grunthor eine Kusshand zu. Dann drehte sie sich nach Oelendra um. Selbst aus der großen Entfernung erkannte Rhapsody das Schimmern der Tränen in den Augen der Kriegerin.

»In Ordnung«, sagte sie, und die Jubelrufe wurden zu lautem Beifall.

»Gut«, meinte Rhapsody und blinzelte die eigenen Tränen fort. »Ich schlage vor, die einzelnen Sprecher kommen in einem der Tagungszimmer in Ylorc zusammen, während der Rest feiert und sich besser kennen lernt. Vielleicht erzeugt das genug guten Willen, der uns in den nächsten Tagen weiter hilft, damit wir einen Herrscher und eine Herrscherin wählen und noch weitere Aufgaben in Angriff nehmen können. Ihr habt nach der Zukunft gefragt. Hier machen wir sie.« Sie ergriff wieder ihre Harfe. Die ganze Versammlung schöpfte gespannt Atem.

»Wisst ihr, ich bin nicht Manwyn«, sagte Rhapsody, während eine Spur von Humor in ihren Blick zurückkehrte. »Ich kann euch nur sagen, was meiner Meinung nach möglich ist. Es liegt an euch, ob ihr es wahr macht oder nicht.«

Sie gab einem kleinen, goldhaarigen Kind aus der Abordnung der Lirin ein Zeichen.

»Arie, du bist die Zukunft. Komm her und sing mit mir.« Das Kind rannte zum Fuß des Rufersimses.

Sie spielte wieder. Diesmal war es eine flotte Melodie: ein Gwadd-Lied aus dem alten Land mit dem Titel »Hell fließt der Wiesenstrom«, ein Liebeslied an die welligen Hügel und Weiden, welche die Heimat des kleinen Volkes waren. Während sie sang, traten einige von ihnen gemeinsam mit weiteren kleineren Rassen, mit denen sie sich vermischt hatten, neben den goldhaarigen Jungen. Sie standen gebannt da und lauschten. Einige wagten mitzusingen. Die kleinen, spitzen Gesichter leuchteten; die großen Augen glitzerten, und die schlanken Gestalten der Gwadd warfen lange Schatten in der Nachmittagssonne.

Als das Lied von ihnen aufgenommen wurde, wob Rhapsody ein anderes hinein, das einzige Nain-Lied, das sie je gelernt hatte. Es handelte sich um ein Minenlied, das in den Höhlen gesungen wurde, während das Volk im Nachtberg seiner endlosen Arbeit nachging und die Schätze der Erde hervorholte. Das Lied wurde sofort von zehntausend Nain-Stimmen aufgenommen, von Stimmen, so reich und tief wie die Erde, in der sie lebten. Rhapsody hatte eine Tonart gewählt, die mit dem Gwadd-Lied harmonierte, und als sie gemeinsam sangen, hallten ihre Stimmen durch den Gerichtshof und drangen den versammelten Cymrern durch Mark und Bein.

Sie fügte ein Lied nach dem anderen hinzu, Choräle, Hymnen, einfache Bauernlieder, welche die Filiden sangen, während sie auf dem Feld arbeiteten, die Seemannslieder von Serendair, und jede Gruppe fiel ein, wenn sie ihr Lied hörte. Die Rhapsodie der Vergangenheit, die sie als Tribut an Anwyn gesungen hatte, war zu einer strahlenden Sinfonie geworden, deren Sätze so unterschiedlich waren wie die Völker, die in der Senke vor ihr standen, doch im Zusammenspiel klang es wunderschön. Die Gesichter der Cymrer spiegelten den Glanz der Nachmittagssonne wider, die allmählich hinter den Zahnfelsen versank, und zum zweiten Mal fühlte sich Rhapsody im Herzen eins mit ihnen. Sie teilte Elynsynos’ Liebe zu diesem Volk. Es war, als schaute sie ein letztes Mal auf die Flickendecke in ihrer Heimat, auf die Wiesen und Kornfelder, die der Landschaft unter dem Himmel ein wunderbares Muster verliehen.

Schließlich war das Werk vollendet, und Stille verankerte sich in der Senke, als Rhapsody die Harfe weglegte. Die leuchtende Aura hypnotischer Macht, die sie umgeben hatte, seit sie dem Feuer im Innern der Erde getrotzt hatte, schien verschwunden zu sein. Jetzt schwebte sie in der Luft über dem Gerichtshof, erhellte jede einzelne Seele, die den Gesang gehört hatte, und verband sie miteinander.

Sie wandte sich nach Westen und begann mit ihren Abendgebeten. Sie sang die untergehende Sonne und den Abendstern an, der über dem höchsten Gipfel von Achmeds Bergen stand. Das Abendgebet wurde von Zehntausenden lirinschen Stimmen aufgenommen, von denen viele aus der tyrianischen Abordnung stammten, andere wiederum aus den verschiedenen Flotten, aus Roland und von der Insel der Meeresmagier. Das Gebet erhob sich zum Abendstern, hallte durch die Senke, über die orlandische Ebene, durch die Zahnfelsen, über die Heide und bis darüber hinaus. Sie sangen die Sonne hinab, und der Himmel füllte sich mit strahlenden Bändern aus Orange und Rot, die sich in das Azurblau des westlichen Horizonts woben, welches sich der herannahenden Dunkelheit entgegenstreckte.

Als das Echo des letzten Tons verhallt war, schulterte Rhapsody ihr Gepäck. »Meine Dienste für euch sind nun beendet«, sagte sie zu der Versammlung.

»Wenn ihr mich in euren Reihen haben wollt, werde ich mich gern zu euch gesellen und den Vorsitz des Konzils jenen überlassen, die ihr unter euch auswählt.«

Als der Beifall seinen Höhepunkt erreichte, sprang Ashe vor und gab der scheidenden Ruferin ein Zeichen.

»Euer Majestät, darf ich das Wort ergreifen?«

Rhapsody seufzte leicht. Sie hatte den ganzen Tag über gestanden, und ihre Füße waren wund. »Selbstverständlich«, antwortete sie und war dankbar für die Unterbrechung. Sie setzte sich auf einen ausgemeißelten Stein, der im Rücken des Simses als Bank diente.

Ashe löste sich aus den Reihen der manossischen Abordnung und erkletterte den Sprecherhügel. Er bestieg den höchsten Kamm und schaute hinunter auf das Meer seiner cymrischen Gefährten. Im roten Licht der untergehenden Sonne leuchtete sein Haar, als wäre es eine Feuerkrone.

»Als Sprecher der Zweiten Flotte bitte ich darum, dass wir unsere Aufmerksamkeit sofort auf unsere Führerrolle als Konzil richten. Wie Anwyn gesagt hat, sind wir ein Konzil ohne Herrscher und Herrscherin. Gwylliam ist tot, und obwohl Anwyn noch lebt, hat sie sich eindeutig als unfähig erwiesen, unsere Führerin zu sein.«

Zustimmendes Gemurmel setzte ein. Selbst diejenigen, die am Ende des Krieges für sie als Herrscherin gestimmt hatten, standen ihr jetzt nicht mehr bei. Dafür hatten die Zeit und Anwyns eigenes Verhalten gesorgt.

»Zu diesem Zweck«, fuhr Ashe mit lauterer Stimme fort, »nominiere ich Ihre Majestät Rhapsody, Königin der Lirin, als cymrische Herrin.« Er musste schreien, damit er in der allgemeinen Aufregung überhaupt noch gehört wurde. »Sie stammt aus der Ersten Generation, ist aber mit keiner Flotte gesegelt und hat daher keine Vorliebe für irgendeine Gruppe. Sie ist eine der Drei, von denen Manwyn gesprochen hat. In der Prophezeiung ist sie der Himmel, die Liringlas, die alles umfasst und nicht geteilt werden kann. Sie ist das einzige Mittel, durch das Frieden und Einheit kommen wird. Sie hat den F’dor getötet, den alten Feind unseres Volkes und Bringer so vielen Elends seit unserer Flucht aus Serendair. Sie hat die Lirin vereinigt und Frieden zwischen ihnen und dem Fürstentum Bethania gestiftet, mit dem sie sich beinahe im Krieg befunden hätten. Sie hat den Bolg geholfen, in ein neues Zeitalter des Friedens und Wohlstandes einzutreten. Sie ist ein Mischling, was ein neues Band zwischen den Rassen bedeutet. Ihr wurde vorhergesagt, unsere Herrin und Anwyns Gegenspielerin zu sein. Sie ist diejenige, die uns zusammenbringen kann, während Anwyn uns voneinander entfernt hat. Falls das noch nicht ausreicht, hat sie meine Großmutter zum Schweigen gebracht, was bereits für sich genommen höchsten Beifall verdient.«

Bestürzung war mit seinen Worten in Rhapsodys Blick getreten, doch sie hatte ihn nicht unterbrechen können, denn sie hatte ihm das Wort erteilt. Als die Menge bei seinen letzten Worten auflachte und seinen Vorschlag bejubelte, sprang sie auf die Beine. Entsetzen bleichte ihr Gesicht.

»Seid ihr von...«

»Ich unterstützte deine Nominierung«, rief Anborn, und der Beifall wurde noch heftiger.

»Wartet«, sagte Rhapsody. Sie verspürte aufsteigende Panik. »Ich lege Widerspruch ein.«

»Rhapsody, du bist es, die von Sinnen ist«, meinte Ashe. In seinen Augen lag ein spitzbübischer Ausdruck. »Es wurde ein Antrag gestellt und unterstützt. Als Ruferin ist es deine Aufgabe, dass dieser Antrag dem gesamten Konzil vorgelegt wird, damit man über ihn abstimmen kann. Sei bitte so freundlich und tu es.«

Rhapsody schaute ihn wütend an. Dann wandte sie sich an das Konzil und versuchte, die Verzweiflung aus ihrer Stimme herauszuhalten.

»Gibt es weitere Nominierungen?« Das Konzil verfiel in Schweigen. »Überhaupt keine?« Die Stille wurde nur durch leises Gemurmel und geflüsterte Bemerkungen unterbrochen. »Was ist mit Einwänden? Hat niemand Einwände?«

»Anscheinend nicht, Herrin«, ertönte wieder Ashes Stimme. »Das Konzil scheint geschlossen einer Meinung zu sein. Es ist sich so einig, wie es in der Prophezeiung vorhergesagt worden ist. Habe ich Recht?«

Donnernde Zustimmung brüllte durch das Tal. Rhapsody spürte, wie der Felssims, auf dem sie stand, machtvoll vibrierte, als der Jubel durch die Senke bis zu ihren Füßen hinaufgrollte. Sie fühlte eine Welle der Stärke durch Körper und Seele fließen, wie sie es nicht mehr wahrgenommen hatte, seit sie durch die Feuer der Erde geschritten war. Es schien so, als verliehe der Gerichtshof, der auf die einmütige Stimme des cymrischen Konzils antwortete, ihr die Weisheit und Stärke, die sie als Anführerin benötigte. Es war ein neues Band, das sie an Volk und Land kettete. Schließlich begriff sie, was verliehene Macht war. Nun war sie zur Herrin der Cymrer geworden. Sie hatte sich nicht darum bemüht oder es erwartet. Allein die Weisheit, die sie durch die Freude der Versammelten verliehen bekommen hatte, hielt sie davon ab, in bittere Tränen auszubrechen.

»Meine Freunde«, brüllte Edwyn Griffyth, »das sollten wir feiern!«

Ashe sah Rhapsodys Blick, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er wandte sich noch einmal an die Menge:

»Ich sehe, dass Seine Majestät, der Firbolg-König, unser Gastgeber, auf dem Feld ein Bankett errichtet hat.« Er deutete über die Senke hinaus auf die Zelte, die Achmeds Truppen errichtet hatten. »Wir sollten das Brot brechen und erst wieder zur letzten Sitzung der Nacht zurückkehren, wenn der Mond über den Zahnfelsen steht.« Freudige Zustimmung schlug ihm entgegen. Die Menge teilte sich in Gruppen auf, die sich untereinander vermischten. Alte Freunde trafen sich und weinten, alte Feinde reichten sich die Hand. Alle feierten fröhlich die Möglichkeiten, welche das neue cymrische Zeitalter, das neue Konzil und die neue Herrin mit sich brachten. Ashe drehte sich wieder um und wollte sehen, wie Rhapsody die Lage einschätzte, doch sie war fort.

Helle Fackeln und sanfte Laternen spendeten dem weiten Feld am Fuß der Zahnfelsen ein freundliches Licht. Mit Essen beladene Tische standen bereit, Wein wurde großzügig herumgereicht, und fröhliches Lachen hallte durch das Gebirge und über die Heide. Seit der Hochzeit von Anwyn und Gwylliam waren die Cymrer nicht mehr zu einer Feier zusammengekommen. Ihre blendende Laune war ansteckend, und ihr guter Wille fuhr wie ein starker Wind durch die Menge.

Beim Abendessen sah sich Ashe nach Rhapsody um. Er spürte ihre Gegenwart und fühlte ihr Missfallen über die Ereignisse. Als er sich entschieden hatte, sie zur Herrin zu machen seine Entscheidung war durch den Ring des Patriarchen in der Mittsommernacht des vergangenen Jahres bestätigt worden, doch er selbst war schon viel früher auf diesen Gedanken gekommen , war ihm bewusst gewesen, dass ihr fest verwurzelter Glaube an das veraltete System des Adels es für sie schwierig machen würde, sich als Herrscherin anzusehen. Er hoffte inständig, dass sie sich in diese Rolle fügen würde, so wie es ihr als Königin der Lirin gelungen war, doch als er nun die Abneigung empfand, die sie in sich trug, machte er sich große Sorgen. Vielleicht hatte er sie doch falsch eingeschätzt.

Es gelang ihm nicht, während des Mahls mit ihr zu sprechen. Seine manossischen Gefährten und viele Mitglieder der anderen Flotten und der Adelshöfe von Roland hielten ihn an jeder Ecke auf. Sie drückten ihre Freude darüber aus, dass er noch lebte, und hießen ihn in ihren Reihen willkommen. Waffengefährten aus den Schlachten, die er geschlagen hatte, und Freunde aus lange vergangenen Tagen, besonders Herzog Stephen, erwarteten von ihm, dass er sie mit seinen Abenteuern unterhielt und so die zwanzigjährige Lücke seiner Abwesenheit füllte. Auch Rhapsody wurde von Bewunderern umschwärmt. Führer aus allen Fürstentümern, aus der sorboldischen Nation und der Neutralen Zone bemühten sich darum, mit ihr zu sprechen und neue Bande zu knüpfen, noch bevor sie gekrönt war. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Ashe einen Blick auf sie erhaschte, wirkte sie heiter und gelassen, doch er wusste, dass ihr ruhiges Äußeres die wachsende Aufregung verbarg, die sie in Wirklichkeit empfand. Ihre Augen trugen den Ausdruck eines gefangenen Rehs oder eines in die Ecke getriebenen Kaninchens.

Schließlich stieg der Mond über den höchsten Gipfel der Zahnfelsen. Das Hörn ertönte und rief die Cymrer wieder in den Gerichtshof. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis das Konzil erneut vollständig zusammengetreten war, so unwiderstehlich waren die Feierlichkeiten. Rhapsody blickte über die cymrische Bevölkerung, das Meer verschiedenster Gesichter, die zu ihr hinaufschauten und im Licht des über ihnen hängenden Vollmonds leuchteten. Als an diesem Tag die Sonne aufgegangen war, hatte Rhapsody gehofft, eine von ihnen zu werden, zu dieser Flüchtlingsbevölkerung gehören zu dürfen, die aus ihrer eigenen Heimat stammte, doch nun war sie ihre Herrscherin. Es war unwirklich bis an die Grenze des Absurden. Sie holte tief Luft, atmete langsam wieder aus und zwang sich zur Ruhe. Jetzt sprach sie nicht mehr als Ruferin, sondern als Herrin.

»Was sollen wir als Erstes in Angriff nehmen?«, fragte sie die Menge. Die Frage erhob sich in vielen verschiedenen Formulierungen, doch der Inhalt war immer derselbe: »Wer soll unser Herr sein?«

Ihre Wahl und Bestätigung als Herrin der Cymrer hatte ihr zu einem neuen Verständnis des cymrischen Volkes verholfen. Daher war es ihr nun möglich, die Bemerkungen der Leute deutlicher zu verstehen. Zuvor waren die Rufe für sie nichts anderes als Lärm gewesen; jetzt waren es die ausgesprochenen Gedanken einzelner Wesen, die ihr Hirn umbrandeten wie Wellen den Strand. Etwa so muss es sein, Drachensinne zu haben, dachte sie. Ashe hatte es als jederzeitiges Bewusstsein aller Dinge um ihn herum beschrieben. Etwas Ähnliches fühlte sie jetzt.

»Die eigentliche Frage lautet: Wer hat das Recht dazu?«, meinte ein Nain-Krieger namens Gar.

»Das Recht hat jeder von uns. Jeder kann Herr sein«, antwortete jemand aus der Ersten Flotte.

»Aber der Herr der Cymrer war Gwylliam, ein Abkömmling der alten Seren-Könige. Sollten wir nicht wieder jemanden aus diesem Haus wählen? Es war schließlich das Haus, das uns sicher von der Insel geführt hat«, sagte Calthrop, ein weiterer Mann aus der Abordnung der Nain.

»Es war auch diese Linie, die uns in den Krieg geführt hat«, erwiderte Harklerode, einer der Soldaten aus dem Heer von Canderre.

»Die Fehler eines Mannes sollte man nicht dessen Nachkommen anlasten.«

»Der Ruhm eines Vorfahren sollte nicht über den eigenen Wert entscheiden.«

»Die Herrin stammt aus der Ersten Generation. Sollte der Herr nicht in diesem Land geboren sein? Sollte er nicht das Blut dieser Leute in den Adern haben? Ist das nicht der Grund, warum wir früher dem Herrn und der Herrin gefolgt sind? Weil er aus der alten Linie kam und sie aus der neuen?«

»Aber sie waren verheiratet. Sollten der Herr und die Herrin nicht ebenfalls heiraten?«

»Herr und Herrin waren verheiratet, um eine Wiedervereinigung und ein festes Bündnis zu garantieren.«

»Es war die Ehe, die den Krieg verursacht hat, falls ihr euch erinnert.«

»Wir müssen einen Herrn und eine Herrin haben, die miteinander verheiratet sind. Niemand mit der nötigen Weisheit, die er für die Wahl durch dieses Konzil braucht, wird dumm genug sein, unsere erwählte Herrin zu schlagen, wie Gwylliam es getan hat. Die gesamte Bevölkerung würde sein Blut fordern.«

»Außerdem ist sie die Iliachenva’ar. Wenn sie einen Dämon besiegen kann, wird sie wohl auch in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen.«

»Gut gesprochen. Es ist sinnvoll, dass sie verheiratet sind, besonders weil es die Frage der Nachfolge löst.«

»Halt.«

Die Stimme der frisch ernannten Herrin hallte über den Gerichtshof. Im Tumult war ihr entgangen, dass sie in eine Lage gedrängt wurde, die ihr unerträglich schien. Nun überfiel sie dieses Bewusstsein mit großer Macht.

»Ihr alle seid vermessen. Wie könnt ihr es wagen, über mich zu reden, als wäre ich eine Zuchtstute? Glaubt ihr, dass ich jetzt euer Eigentum bin und ihr plötzlich das Recht habt, alle Aspekte meiner Zukunft zu entscheiden? Ich empfinde es als höchst beleidigend, dass ihr annehmt, ich würde mich für eine arrangierte Heirat zur Verfügung stellen. Woher wollt ihr wissen, dass ich nicht bereits verheiratet bin? Niemand hat mich nach meinem Familienstand gefragt. Und falls ich noch nicht verheiratet sein sollte, wäre es doch möglich, dass ich bereits verlobt bin. Ihr seid ein Volk mit guten Anlagen, aber ihr verärgert mich. Wenn ihr die Notwendigkeit verspürt, diese Wahl für eure Herrin zu treffen, dann bin ich sie nicht länger. Ich gebe meinen Titel gern zurück, falls die Unterredung über dieses Thema weitergeht.«

Rhapsody schritt zum Rand des Rufersimses und versuchte hinunterzusteigen. Doch wie zuvor, als Anwyn Oelendra angegriffen hatte, war es ihr nicht möglich, den Felsen zu verlassen, denn überall unter ihr erhob sich Widerspruch.

»Nein!«, ertönte es aus dem gesamten Gerichtshof. Die Rufe schwangen durch den Wind und erinnerten an die Buhrufe in der sorboldischen Arena. Das Geschrei erstarb, als Anborn auf die Spitze der Sprecherkanzel eilte.

»Vergebt uns, Herrin«, sagte er lächelnd. Seine Stimme klang befehlend und hatte den Unterton eines Mannes, der es seit langem gewohnt war, ein Heer zu führen. »In der Aufregung, wieder ein einiges Volk zu sein, sind wir in unsere alte Anmaßung und Überheblichkeit verfallen. Die Dritte Flotte und unsere cymrischen Genossen erkennen Euch demütig das Recht zu, selbst die Wahl zu treffen.« Er wandte sich an die Menge. »Habe ich Recht?«

Das zustimmende Geschrei hätte Rhapsody beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht und sie von dem Sims gestoßen, wenn es ihr möglich gewesen wäre, ihn zu verlassen. Sie richtete sich mühsam auf und sah Anborn an. Er grinste ihr noch zu, und sie erwiderte sein Lächeln unsicher. In seiner Miene lag etwas, das sie beunruhigte. Sie verspürte ein seltsames Zerren in sich und sah sich im Fackelschein in der Menge um. Ashe starrte sie wild an. Sein Gesicht war zu einer Regung erstarrt, die wie Panik wirkte. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen. Rasch schaute sie fort.

»Was für’n Mädchen, diese Herrin«, hörte sie Grunthor in der Menge flüstern. Sie wandte sich ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln.

»Also gut«, sagte sie und räusperte sich. »Machen wir noch einen Versuch.«

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