Das Innere des Wagens bildete eine Zuflucht vor der brennenden Sonne; hier war es dunkel und angenehm kühl. Er sehnte sich trotzdem danach, endlich zu spüren, dass die Räder für immer stehen blieben. Dann könnte er aussteigen und in das Licht und die sengende Hitze der sorboldischen Wüste treten, wo die Erde die feurige Wärme sogar noch zu Beginn des Winters speicherte.
Dem Klang nach zu urteilen war der Augenblick beinahe gekommen.
Er streckte die Arme des alten Körpers aus, den er bewohnte jenes menschliche Gefäß, das schon seit vielen Dekaden sein Wirt war. Doch nun spürte er, dass die Zeit es allmählich geschwächt hatte.
Doch es würde nicht mehr lange so bleiben.
Bald musste er wieder den Wirt wechseln und sich einen neueren, jüngeren Körper nehmen. Dazu wäre wie immer ein wenig Anpassung notwendig. Er erinnerte sich deutlich an den letzten Übergang, auch wenn er schon seit sehr langer Zeit keinen mehr unternommen hatte. Bereits bei dem Gedanken daran zitterten seine arthritischen Hände vor Erregung. Mit der Erregung kam das Brennen, das Flackern des Feuers, welches sein Innerstes darstellte. Es war das uranfängliche Element, aus dem alle seiner Art hervorgegangen waren und in das sie eines Tages zurückkehren würden.
Doch alles zu seiner Zeit.
Er wusste, dass jetzt nicht der geeignete Augenblick war, darüber nachzudenken. Sobald sich der Funke der Hoffnung einmal entzündet hatte, wurde es immer schwieriger, seine unterweltliche Seite zu verbergen, den dunklen und zerstörerischen Geist des Chaos, der seine wahre Gestalt darstellte, denn an Fleisch und Knochen eines menschlichen Körpers hing er nur aus schierer Notwendigkeit. In den Momenten der Erregung war der üble Geruch am stärksten, der Gestank, der ihm und den anderen seiner Rasse anhaftete der Duft von Fleisch im Feuer. Und im Nervenkitzel der Erwartung stieg ihm die Farbe des Blutes bis in die Augen und ränderte sie rot. Er zwang sich wieder zur Ruhe. Es wäre nicht gut, auf einer so wichtigen Mission erkannt zu werden. Es wäre nicht gut, wenn man ihn nicht mehr als den frommen religiösen Führer ansah, der er war.
Als der Wagen zu einem bebenden Halt kam, beugte er sich vor, lehnte sich schließlich wieder gegen den gepolsterten Sitz und atmete flach.
Die Tür wurde geöffnet. Gleißendes Licht ergoss sich gemeinsam mit brennender Hitze in den dunklen Raum.
»Euer Ehren, wir haben Keltar’sid erreicht. Euer Ehren, der Segner von Sorbold hat ein Ehrenregiment zu Eurer Begrüßung geschickt.«
Er blinzelte, während seine Augen sich dem Sonnenlicht anpassten. Keltar’sid war die nördliche Hauptstadt von Sorbold und der Paradegrund der sorboldischen Heere, welche die nördlichen und westlichen Ausläufer der Zahnfelsen schützten. Es war ein soldatischer Stadtstaat und in höchstem Grade einschüchternd, es sei denn, man reiste unter dem Banner einer Kirche oder religiösen Sekte.
Genau hier wollte er sein.
»Wie überaus freundlich«, sagte er. Die kultivierte Stimme seines menschlichen Wirtes klang seidig in seinen Ohren. Die Dämonenstimme, die in seinem Innern sprach, ohne auf dem Wind zu gleiten, war viel härter, so wie das Knistern einer unheilvollen Flamme. »Bedanke dich bitte, während ich aussteige.«
Er lächelte, wies die Hände ab, die ihm helfen wollten, und trat aus dem Wagen. Zwar bewohnte er einen etwas ältlichen Körper, aber dieser war noch flink und besaß Reste jugendlicher Kraft. Er musste die Augen vor der blendenden Helligkeit der Sonne beschirmen. Das Feuer war die Essenz seines Lebens, doch handelte es sich dabei um dunkles Feuer, ein uranfängliches Element, das schwarz wie der Tod brannte und keinesfalls so hell und freundlich wie das falsche Feuer in der oberirdischen Welt. Er ertrug das Sonnenlicht, aber er mochte es nicht.
Eine Abordnung von zehn sorboldischen Wachmännern stand in ehrfurchtsvollem Abstand; ihre dunklen Gesichter waren Masken feierlicher Aufmerksamkeit. Er lächelte sie wohlwollend an und hob dann die Hand in einer Segensgeste. Er kämpfte darum, gleichgültig zu wirken. Schließlich war es dieser Augenblick, für den er hergekommen war.
Leise flüsterte er die Worte der Verführung, den unhörbaren Gesang, der die Männer seinem Willen unterwarf, wenn auch nur zeitweise. Alles, was länger anhielt, erforderte ausgiebigen Augenkontakt und unmittelbarere Einwirkung, als es für einen heiligen Mann schicklich war, der eine Truppe ausländischer Wachmänner besuchte. Um sie endgültig zu binden, benötigte er ein wenig Soldatenblut, doch sie alle schienen gesund und ohne Wunden zu sein, welche der Segnung eines Heilers bedurften. Nun gut.
Die Fäden der Fesselung, unsichtbar für alle Augen außer den seinen, verankerten sich leicht in seinen neuen Dienern und wehten im Wind auf ihn zu. Er fing die Fäden mit einer sanften Bewegung ein, die nichts weiter zu sein schien als eine Geste des Segnens. Er sah, dass sein Zauber sich in ihren Augen festgesaugt hatte. Im Glitzern der Sonne erkannte er deutlich das Glimmern des dunklen Feuers in ihnen, das sein Gebet entzündet hatte. Er lächelte erneut. Dies war schließlich alles, was er mit seinem Besuch in Sorbold beabsichtigt hatte. Alles andere, was sich aus der langen und anstrengenden Reise ergab, war nur eine Zutat. Er hatte schon bekommen, was er wollte.
51
Ein Kolonnenführer erschien; er wurde von vier Männern begleitet, die die Pfähle eines weißen, leinenen Baldachins trugen Sorbold war berühmt für sein Leinen , und ein weiterer niederrangiger Adjutant brachte ein Tablett mit einer Wasserflasche und einen Kelch herbei. Der Soldat verneigte sich aus der Hüfte heraus.
»Willkommen, Euer Gnaden.« Mit einer Handbewegung befahl er den Soldaten, sich um den heiligen Führer aufzustellen. Sofort erhoben sie den Baldachin, damit der hohe Besuch vor der Sonne geschützt wurde. Dafür erhielten sie ein warmes Lächeln und ein Zwinkern aus den blauen Augen, in denen nicht mehr die geringste Spur von Rot lag.
Er nahm den Kelch mit Wasser entgegen und trank dankbar; dann stellte er ihn zurück auf das Tablett. Der Soldat, der die Erfrischung gebracht hatte, trat einige Schritte zurück, blieb aber nah genug bei dem Gast, falls dieser noch etwas von ihm verlangen sollte.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, sagte der Kolonnenführer zögernd.
»Ach?«
»Seine Gnaden, der Segner von Sorbold, wurde an das Krankenbett Ihrer Durchlaucht, der Kaiserinwitwe, gerufen. Der Segner bittet vielmals um Entschuldigung und hat mich angewiesen, Euch zur Basilika im Nachtberg zu geleiten, wohin er sich begeben wird, sobald die Kaiserin seiner Hilfe nicht mehr bedarf. Mir wurde befohlen, es Euch und Eurem Gefolge so angenehm wie möglich zu machen.«
Die schwarzen Augen des Soldaten funkelten nervös, und der heilige Mann unterdrückte ein Lachen. Die sorboldische Sprache war mit höfischer und religiöser Etikette nicht vertraut, da diese Kultur mit solcherlei Dingen keinen Umgang pflegte. Die Sorbolder waren ein raues und schlichtes Volk. Der Kolonnenführer hatte zweifellos intensive Studien betrieben, um überhaupt auf diese Weise reden zu können, und war sich des Ergebnisses in keiner Weise sicher.
»Das ist sehr freundlich, aber ich fürchte, es ist unmöglich. Mein Besuch hier ist äußerst kurz, da ich in Bälde in mein eigenes Land zurückkehren muss. Die Wintersonnengleiche steht bevor, und außerdem will ich den Karneval in Navarne besuchen.«
»Vielmals Entschuldigung wegen der Umstände«, stotterte der Kolonnenführer erneut. »Bitte teilt mir mit, wie ich Euch zu Diensten sein kann. Ich stehe Euch zur Verfügung, Euer Gnaden.«
Die Augen des heiligen Mannes funkelten in dem gefilterten Licht unter dem Baldachin.
»Ach, wirklich? Wie großzügig. Wie lautet dein Name, mein Sohn?«
»Mildiv Jephaston, Anführer der Dritten westlichen Kolonne, Euer Gnaden.«
»Also gut, Mildiv Jephaston, es freut mich überaus, dass du zu meiner Verfügung stehst, und ich werde dieses sehr großzügige Angebot wirklich irgendwann annehmen, aber im Augenblick verlange ich nichts als sicheres Geleit zurück zur sorboldisch-rolandischen Grenze.«
»Wie Ihr wünscht, Euer Gnaden. Der Segner wird sehr enttäuscht sein, dass er Euren Besuch verpasst hat.«
»Genau wie ich; das versichere ich dir, Mildiv Jephaston.« Er klopfte dem Soldaten mitleidig auf die Schulter und segnete ihn dann wie zuvor schon die anderen.
In der Ferne erkannte er das unendlich schwache Flackern schwarzen Feuers, viele hundertmal wiederholt in einem Meer dunkler Augen, denn alle, die diesem Kolonnenführer eidlich verpflichtet waren, standen nun auch unter dem Bann des heiligen Mannes. Wegen der unzähligen Abhängigkeitsverhältnisse waren Truppen seine bevorzugte Beute. Man musste nur den Anführer fesseln, und all seine Gefolgsleute sowie deren Untergebene gehörten einem ebenfalls. Ah, Treue ist eine wunderbare Sache, eine hirnlose Falle aus Stahl, so einfach zu beeinflussen, dachte er freudig. Aber so schwierig zu überwältigen, wenn sie nicht freiwillig erfolgt.
»Er hatte gehofft, Euch die Basilika im Nachtberg zeigen zu können.« Der Soldat schluckte.
»Er weiß, dass Ihr sie noch nicht gesehen habt.« Die wahre Bedeutung dieser Worte war klar. Das Angebot des Segners, ihm Zutritt zum geheimsten der Elementartempel, der Basilika des Lebendigen Gottes Terreanfor des Herrschergottes, Königs der Erde zu verschaffen, war eine große und schmeichelhafte Ehre, die nur selten gewährt wurde.
Die Basilika lag tief versteckt im Nachtberg, einem Ort alles verschlingender Dunkelheit in diesem Reich der endlosen Sonne, und war zweifellos der mystischste der heiligen Schreine ein Ort, dessen Leben noch von den ersten Tagen der Schöpfung herrührte. Seine Ablehnung einer Führung, wie höflich sie auch erfolgt sein mochte, war für die sorboldischen Soldaten verblüffend. Er unterdrückte ein weiteres Lachen.
Narren, dachte er verächtlich. Verdammnis über die großzügigen Angebote eurer Nation, genau wie über euch selbst sehr bald. Er konnte den Tempel nicht besuchen, auch wenn er es gewollt hätte. Die Basilika war geweihter Boden.
Seine Rasse vermochte heiligen Boden nicht zu betreten.
»Es tut mir ausnehmend Leid, dass es mir nicht möglich ist, die Einladung des Segners anzunehmen«, sagte er abermals und nickte seinen eigenen Wachen zu. Sein Gefolge kehrte zu den Wagen und Reittieren zurück und bereitete die Abreise vor. »Soweit ich weiß, liegt der Nachtberg viele Tagesreisen südlich von hier. Ein Besuch dort würde mich zu sehr aufhalten. Ich danke dir nochmals, aber ich fürchte, ich muss das Angebot ablehnen. Überbringe bitte meine besten Wünsche dem Segner und auch Ihrer Durchlaucht für eine baldige Genesung.«
Er drehte sich rasch um und eilte in die dunkle Stille des Wagens. Die sorboldischen Soldaten schauten ihm erstaunt nach, während sein Diener die Tür zuschlug und der Wagen allmählich außer Sichtweite rollte. Der gewaltige leinene Baldachin, der den Besucher noch einen Augenblick zuvor von der Sonne abgeschirmt hatte, hing nun schlaff wie eine entmutigte Kapitulationsflagge in der windstillen Luft.