86

Der Schlachtenlärm zerriss die Luft, als die Drei über die Spalten und Risse kletterten, die früher einmal die sanften grünen Wiesen gewesen waren, die zu den Krevensfeldern geführt hatten. Leichen, die sich schon lange in diesem Zustand befanden, und solche, die erst kürzlich in ihn geraten waren, lagen überall herum. Das Sonnenlicht war nun verschwunden, ausgelöscht durch den Einbruch von Nacht und Tod, der wie bittere Erde in der Luft und dem Wind über dem Schlachtfeld hing.

Rhapsody hatte ihr Schwert nicht weit von der Stelle gefunden, wo sie aufgeprallt war; sein Leuchten hatte ihr den Weg gewiesen. Sie steckte es in die Scheide. Nun krochen die Drei in der Dunkelheit durch die Ruinen des Großen Gerichtshofes, des zerstörten Symbols von Gwylliams Friedenstraum.

An diesem Ort hatte sich die einst große Nation zum Konzil getroffen und ein neues Reich geplant und errichtet, das nur kurz Bestand haben sollte. Es warf ein helles Licht auf die Menschheitsgeschichte, doch es war wie Sand unter der selbstsüchtigen Gier nach Macht und Beherrschung zerbröckelt.

Im Gerichtshof blieb Ashe still stehen. Er wehrte die Toten ab und hielt sie zurück, während sein Volk entkam. Er war umzingelt und allein wie auf den Krevensfeldern, als er Dorndreher verteidigt hatte.

Achmed nahm die Cwellan ab und richtete sie auf die schrecklichen Überreste der Soldaten, die den Herrn der Cymrer angriffen.

»Ashe!«, rief er durch die Senke.

Ashe drehte sich um und sah ihn an.

»Willst du diesmal Hilfe haben?«

Zwischen zwei Schwerthieben nickte der Herrscher ihm zu.

Achmed feuerte. Die hellen Scheiben wirbelten wie Funken durch die Luft, schnitten durch den Wind und gruben sich in die zerfetzten Hälse der Leichname, die sich auf Ashe gestürzt hatten. Im Handumdrehen hatte Achmed mehrfach nachgeladen, und ein Hagel von Cwellanscheiben umwirbelte Ashe. Die Feinde fielen wie Spreu zu Boden.

Dann eilten die Drei hinter einen Felsvorsprung, als die blutende und taumelnde Drachin im Tiefflug heranschoss. Unter ihrem Wutgebrüll erzitterten die Berge in ihrem Innersten. Der Himmel füllte sich mit blendendem, orangefarbenem Licht, als das Feuer ihres Atems den Boden traf und Felsbrocken und Staub in den Himmel wirbelte. Rhapsody trat auf Grunthors Umhang, der Feuer gefangen hatte.

»Ashe!«, rief sie, als sie auf den Rufersims zukletterten. »Raus aus der Senke!«

Sie folgte den Bolg über die Felsen und den Schutt, der noch vor kurzem in den Stein gemeißelte Sitzreihen gewesen war. Ihr Kleid trug weitere Risse davon, und sie schlug sich die bloßen Knie an den Gesteinsblöcken auf, die noch immer den langen, flachen Granitsims trugen, von dem aus sie das Konzil einberufen hatte.

Als sie die Spitze erreichten, starrte Rhapsody entsetzt auf die fernen Felder, auf denen noch immer der Kampf wogte. Das Firbolg-Heer hatte sich mit den rolandischen Soldaten zusammengeschlossen; sie bekämpften mit jeder lebenden cymrischen Seele den Zorn der Drachin und hielten auf dem Land, mit dem sie seit Jahrhunderten verbunden waren, die Stellung gegen die Nachtmahre der Vergangenheit.

Rhapsody blickte hinunter auf den Gerichtshof, der durch die Auferstehung der Gefallenen entzweigeborsten war. Eine große Spalte teilte den Boden des Versammlungsplatzes in zwei Hälften, wo noch am Morgen die Cymrer den Beginn eines neuen Zeitalters gefeiert hatten. Sie wandte sich an Achmed und Grunthor.

»Dort?«, fragte sie.

Die beiden Bolg nickten.

Hinter ihr hörte sie das Knirschen von Steinen und rasselndes Atmen. Achmed schwang die Cwellan herum und zielte in die Schatten. Einen Moment später erschien Ashe blutig, abgerissen und von der schwarzen Erde des Grabes verschmiert. Rhapsodys Augen füllten sich mit Tränen. Auch wenn er stark mitgenommen aussah, war er doch mit jedem Zoll der Herrscher, zu dem man ihn ernannt hatte.

Er nahm sie in die Arme, doch sie drückte ihn rasch von sich, denn sie suchte noch immer den Himmel nach der Drachin ab. Nun sah sie, wie Anwyn in der Ferne ihre Kreise drehte und feurigen Tod auf die Bolg herabschickte, während sie nach Rhapsody suchte. Zorn loderte hinter den Augen der Sängerin auf.

Sie zog die Tagessternfanfare, deren Flamme hell wie eine Fackel in der schwarzen Nacht brannte und vor gerechter Wut zischte und tönte wie ein Glockenspiel, das alle anderen Laute erstickte.

»Anwyn!«, rief sie. Ihre Stimme erschütterte die Erde. Felsplatten lösten sich und donnerten an den Bergen herab ins Tal. »Anwyn, du Feigling! Hier bin ich!«

In der Ferne wandte sich die Drachin um. Einen Moment lang schwebte sie über einem Dunst aus blutigem Feuer, dann schoss sie auf den Gerichtshof zu.

Rhapsody hielt das Schwert hoch. Grunthor und Achmed packten ebenfalls den Griff und halfen ihr, es noch höher zu halten. Sie suchte den Himmel nach einem Stern ab. Bald fand sie Carendrill, den winzigen, blauweißen Stern, unter dem die Lirin Friedensabkommen unterzeichneten.

»Seid ihr bereit?«, fragte sie und bemühte sich, das Schwert still zu halten. »Dies ist der Augenblick, der seit dem Ende des Ersten Zeitalters erwartet wurde. Unsere Worte werden mächtig sein. Wir müssen sie abwägen.« Die beiden Bolg schauten himmelwärts auf die nahende Drachin und nickten.

Hinter den zischenden Flammen des Schwertes hörte Achmed, wie Stille einsetzte. Sein Herz klopfte so laut, dass es ihm in den Ohren widerhallte. Sein Blut wurde heiß, summte vor Leben, vor dunkler Vorahnung jenes Blut, das im alten Leben mit dem der Blutsverwandten, der Flüchtlinge aus Serendair, verbunden worden war. Alle Blutsverwandten, die es in der neuen Welt gab, befanden sich dort unten auf dem Schlachtfeld und suchten Schutz vor dem Zorn der Drachin. Er spürte ihren Schrecken in seinen Adern; ihr Blut war mit seinem durch die gemeinsame Vergangenheit und in der Hoffnung auf die Zukunft verbunden. Von seinen Lippen drangen Worte, die einem Gebet näher denn je kamen.

»Kein einziger Tropfen Blut soll hier mehr vergossen werden«, sagte er nur.

Kind des Blutes.

Die bernsteinfarbenen Augen des Riesen, der still neben ihm stand, waren voller Tränen. Diesen Augen war das Leid des Krieges und der Zerstörung nicht fremd. Sie hatten kalt der Vernichtung ganzer Nationen und den Rasereien der schrecklichsten Verderbtheit zugeschaut, ohne zu blinzeln, doch dieser Moment war irgendwie anders. In der Tiefe seiner Seele und durch das Band, das sich bei seiner Reise entlang der Axis Mundi vor so langer Zeit gebildet hatte, spürte Grunthor die Schmerzen der Erde und ihr Grauen darüber, dass so viele Gefallene dem Frieden, den sie in ihren Armen gefunden hatten, entrissen worden waren. Eine seelenlose Frau hatte die Unwilligen zu dem Wahnsinn angestachelt, der nun die Brachfelder zerriss. Tränen strömten seine Wangen hinab nicht für jene, die sich vor dem Tod in Deckung brachten, sondern für jene, die er schon vor Jahrhunderten umarmt hatte und die nun ohne eigene Schuld nach so langer Ruhe in der friedvollen Finsternis ihrer aller Mutter der Macht der Sonne und des Kampfes ausgesetzt wurden.

»Erde, öffne dich und nimm deine Kinder zurück«, sagte er.

Kind der Erde.

Als Einzige unter den drei kämpfte Rhapsody gegen ihre Wut an. Ihr Körper, der vorhin noch von dem Sturz und den 941

Verletzungen geschmerzt hatte, war durch die Kraft des Schwertes, des Feuers und der Sterne, mit denen es verbunden war, wieder heil geworden.

Es ist genug, dachte sie verbittert und versuchte ihren Hass zu bändigen, als die Bestie näher kam. Du besudelst den Himmel. Er ist dazu bestimmt, die Welt zu beschirmen, nicht aber Vernichtung auf sie herabregnen zu lassen. Der Himmel ist die Gesamtseele des Alls, und wie du gesagt hast, besitzt du keine Seele. Sie sog die Luft ein und stieß sie langsam wieder aus, während sie die Drachin herbeifliegen sah.

»Das Feuer des Himmels darf nicht deinem hasserfüllten Willen dienen, Anwyn. Alles Feuer, das aus dem Himmel herabregnet, soll nur das Ende des Kampfes bringen und den Beginn einer neuen Friedenszeit besiegeln.«

Kind des Himmels.

In der Senke unter ihnen weitete sich grollend der tiefe Riss im Boden. Die Körper der Gefallenen rollten in das offene Grab wie Kiesel über einen Berghang.

Das Licht des feurigen Drachenatems ergoss sich über die vier auf dem Rufersims. Wut, uralt, mächtiger als die Zeit, durchkreischte die Luft. Die Bestie, die aus dem Auge und der abgerissenen Klaue blutete, strich durch die Luft, glitt über den Gerichtshof. Sie sog die Luft ein und stieß sie wie ein Wirbelsturm wieder aus. Mit ihrem Feuer zielte sie auf den Rufersims.

In diesem Moment sprach Rhapsody den Namen des Sterns aus.

Der herabblitzende Strahl erschütterte den Sims und den ganzen Gerichtshof. Mit einem unirdischen Brüllen regnete das Feuer des Sterns, das reine, ungezügelte Element des Äthers, das der Geburt aller anderen Elemente vorangegangen war, aus dem Himmel herab und traf die Drachin, die gerade zuschlagen wollte, mitten in der Luft.

Die Bestie beschrieb einen Bogen, wurde von einem Licht erhellt, das heller als die Sonne war, und stürzte dann in Spiralen in den offenen Boden der Senke in das Grab, das sich unter dem Ansturm der Toten wie eine Eiterblase geöffnet hatte und zuvor von Grunthor geweitet worden war.

Als Anwyn in die Erde sank, schloss Grunthor die Augen, zuckte die Achseln und presste die Hände zusammen, als ob er ätherischen Lehm formte. Der Boden des Gerichtshofes zuckte und schloss sich rasch über der Stelle, wo Anwyn versunken war. Die zerfallenden Seiten des Gerichtshofes gaben nach, stürzten zusammen und bildeten einen großen Hügel aus Erde und Fels in der Mitte der Senke.

Erneut sprach Rhapsody den Namen des Sterns aus. Diesmal fiel klares und reines Licht vom Himmel herab, strömte über den Gerichtshof und versiegelte den Boden, unter dem die Drachin lag.

Aus der Ferne hörte Rhapsody, wie der Kriegslärm verebbte und allmählich Stille einkehrte. Als das Sternenlicht verblasste, sah sie unter dem Dämmerhimmel, dass die Gefallenen zurück in die Erde, in die Vergangenheit geglitten waren und Verwirrung, aber keine Kämpfe mehr zurückließen.

Sie wandte sich an Gwydion und schlang die Arme um ihn. Er erwiderte ihre Umarmung. Dann umfingen sie ihre beiden Gefährten, die ihre Geschichte, ihr Leben und ihre Zukunft teilten.

»Es ist vorbei«, sagte sie nur. »Jetzt beginnt die Arbeit.«

In der Nacht durchsuchten Achmed und Grunthor das Schlachtfeld zusammen mit Rhapsody und Ashe. Sie stellten Truppen neu zusammen, zerstörten die Überreste von Untoten, die noch vor bösem Leben bebten, richteten Lazarette ein und versuchten die Leute zu beruhigen, die unter Schock standen.

Im Glanz der unzähligen Lagerfeuer, die nun inmitten der Verwüstung brannten, traf Achmed auf Tristan Steward. Der Herr von Roland war unverletzt, aber schweigsam, und starrte den fernen Gerichtshof an. Seine schluchzende Frau stützte sich auf seinen Arm.

Der Fir-Bolg-König bedachte den Herrscher mit einem Blick, der an Mitleid grenzte. Schließlich sah Tristan Steward ihn an.

»Braucht ihr ärztlichen Beistand?«, fragte Achmed. Der Herr von Roland schüttelte den Kopf. Der Firbolg nickte, wandte sich um und wollte gehen.

»Warte«, sagte Tristan Steward. Seine Stimme war ein bloßes Flüstern. Achmed regte sich nicht, als der Herrscher zitternd aufstand und sich den Schmutz von den Händen wischte. Er sah den Fir-Bolg-König schweigend an. Schließlich wurde Achmed ungeduldig.

»Ja?«

»Das ... das Heer ... mein Heer ...«

»Ja?«

Der Herr von Roland verfiel wieder in Schweigen.

»Es war ein ausgezeichneter Einfall von dir, es als Geste des guten Willens herzubringen«, sagte Achmed so freundlich wie möglich. »Da es jetzt wie mein Heer unter dem Befehl von Rhapsody steht, war es gut, dass sie hier war, damit sie die Amtseinsetzung beobachten konnte. Ist es das, was du sagen wolltest?«

Tristan Steward öffnete den Mund und schloss ihn sofort wieder.

Schließlich sagte er: »Ja.«

»Das hatte ich mir gedacht. Entschuldige mich bitte«, sagte Achmed. Er drehte sich um und ging mit Grunthor und seinen Gehilfen in die Nacht hinein.

Rhapsody lief mit Krinsel, der Hebamme, zwischen den Verletzten umher und versorgte die Wunden der Menschen und Bolg.

Die Cymrer waren dank der Heere von Roland und Ylorc weitgehend verschont geblieben, und der Einsatz Ashes und der Soldaten hatte dafür gesorgt, dass die Toten zurückgehalten wurden, während der Rest entkommen konnte.

Sie verband gerade den Arm eines dunklen Cymrers aus der Rasse der Kith, als Rial mit ernstem Gesicht neben ihr erschien.

»Herrin?«

Rhapsody schaute hoch zu ihrem Vizekönig und lächelte, doch als sie den Ausdruck in seinen Augen sah, erstarb ihre Freude.

»Was ist los?«

Rial streckte die Hand aus. »Bitte kommt mit, Herrin.«

Sie ergriff seine Hand und folgte ihm durch die Dunkelheit über das verwüstete Land bis zu einer Stelle, wo der Leichnam eines wunderschönen schwarzen Hengstes lag. Neben ihm hockte Faedryth, der König der Nain, und auch Oelendra kniete am Boden. Rhapsody starrte das tote Pferd an und erschauerte.

»Nein«, flüsterte sie. »0 Götter, nein. Anborn.«

Der König der Nain sah sie an. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner Stirn. »Noch lebt er«, sagte Faedryth traurig. »Er hat sich den Rücken gebrochen.«

»Nein«, sagte sie abermals, trat über Faedryths Beine und bückte sich zwischen ihm und Oelendra. »Anborn? Götter, was habe ich dir angetan?«

Der cymrische General lehnte sich gegen die Brust seines Freundes, des Nain-Königs. Rials roter Umhang bedeckte ihn. Sein Gesicht war unter dem dunklen Bart geisterbleich, doch es gelang ihm, schwach den Arm auszustrecken. Sie ergriff seine Hand.

»Du hast... mich erlöst«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. »Durch dich hat sich ... Manwyns Prophezeiung erfüllt. Ich habe den ... leichtesten meiner Blutsverwandten gefunden. Ich habe den Himmel aufgefangen, als er herabgestürzt ist. Du hast mir geholfen, den ... Riss in... mir selbst und denjenigen zu heilen, den ich ... vor langer Zeit ... bei meinen cymrischen Gefährten verursacht habe. Verstehst du? Ich werde sowohl von Lirin als auch von Nain versorgt. Wer ... hätte das für möglich gehalten?«

Tränen traten aus ihren Augen, als sie sanft seine Hand ergriff und gegen ihre Wange drückte. Anborn streichelte unter Schmerzen ihr Haar.

»Ich gebe mein Leben ... oder meine Beine ... gern für dich hin, meine Herrin«, sagte er unter großen Anstrengungen. »Es ist mir eine Ehre ... dir den Eid geleistet zu haben.«

»Rhapsody! Rhapsody!«

Ashes Stimme drang durch das Knistern des Feuers und das Wimmern des Windes.

Verzweiflung und Angst schwangen in ihr mit.

»Geh ... zu ihm«, sagte Anborn.

»Wenn ich zurückkomme, kümmere ich mich um dich«, meinte sie und stand auf. »Ich werde all meine Fähigkeiten als Sängerin einsetzen, um dich zu heilen.«

Anborn lächelte und winkte sie fort.

»Geh«, sagte er.

Rhapsody schaute über die Felder voller Verwundeter und Sterbender. Große Risse zeigten sich in der Erde, wo sie einstmals fest gewesen war. Sie folgte Ashes Stimme im Wind zurück zu den Toren des Gerichtshofes, durch welche die Cymrer erst gestern in so großer Hoffnung geschritten waren.

Ashe beugte sich hinter den Toren über den zerschmetterten Körper seines besten Freundes Stephen Navarne. Rhapsody eilte an seine Seite.

»Hilf ihm, Aria. Bitte. Ich will ihn nicht noch einmal verlieren«, keuchte Ashe. Er streichelte Stephens Gesicht und versuchte, den Herzog wieder zu beleben, dessen blaugrüne Augen schon in die nächste Welt blickten.

Rhapsody kniete sich neben die Männer in die matschige Erde. Ihre Blicke wanderten von dem blassen Gesicht Stephen Navarnes zu dem Hügel, unter dem er lag. Gwydion Navarne, ihr ältester Enkel, stand dort mit tapferer Miene und hatte die Arme um seine Schwester Melisande gelegt, die herzzerreißend weinte. Rosella hielt beide im Arm und blickte entsetzt zu Boden.

Rhapsody legte dem Herzog eine Hand auf den Brustkorb und suchte nach seinem Herzschlag. »Herr?«

Es kam keine Antwort. Die Haut unter ihrer Hand war kalt. Ihre Finger tasteten nach seiner Kehle. »Herr?«

Der Puls war so schwach, wie sie es noch nie bei einem Lebenden gefühlt hatte. In seinen Augen sah sie eine ferne Widerspiegelung des Nebels aus dem Schleier des Hoen.

»Aria, bitte...«

»Papa?«

Der Klang von Melisandes Stimme erweckte in Rhapsody eine Erinnerung. Zum letzten Mal hatte sie mit Herzog Stephen vor Haguefort gesprochen, in den Armen eines bitterkalten Windes, als sie ihm Llaurons angeblichen Tod verkündet hatte. Er hatte wie immer liebevoll gelächelt.

Du weißt, Rhapsody, dass du eigentlich zur Familie gehörst. Glaubst du, es wird eine Zeit geben, in der du mich einfach mit meinem Vornamen anreden wirst?

Nein, mein Herzog.

Rhapsody setzte sich aufrecht hin und dachte nach. Sie hatte einmal Grunthor vom Abgrund des Todes weggesungen, wenngleich Stephen anscheinend noch schlimmer verletzt war.

»Stephen«, sang sie und ließ die Hand über seinem Herzen ruhen. »Stephen, bleibe bei uns.«

Sie wandte sich an Ashe, dessen Augen glänzten. »Wie lautet sein Name, Sam? Sein voller Name.«

»Stephen ap Wayan ap Hague, tuatha Judyth.«

Sie wiederholte den Namen und sang ihn im Gleichklang mit dem schwachen Herzschlag des Herzogs. Zieh deine Hand von ihm zurück, Fürst Rowan, dachte sie, während sie mit all ihrer Kraft der Namensgebung sang. Lass ihn hier, an diesem Ort, nur noch eine kleine Weile.

Sie sang seinen Namen immer wieder, bis die Sonne aufging und ihre Stimme rau und heiser wurde. Als die Schwertspitze der Morgendämmerung den Horizont durchstieß, richtete Rhapsody den Blick auf diese blendende Stelle und versuchte, die Wärme der Sonne in Stephens Körper zu lenken, damit er nicht weiter auskühlte und sein Leuchten in der Welt blieb, die sie kannte und liebte. In dieser Sekunde der Blindheit erkannte Rhapsody den Umriss des Fürsten Rowan. Vielleicht wartete er ihr zuliebe und hielt seine Hand fern, wie zerschmettert und verletzt Stephen auch sein mochte, und verwandelte die Todesurteile der Cymrer, die sich bereits anschickten, aus dem Leben zu treten. Sie konnte sie alle heilen, ihnen neue Namen geben und sie auf diese Weise retten. Sie wandte sich erleichtert ab, als sie sah, wie die tausenden aus dem Grabe Erweckten, die zwischen den Verwundeten lagen, wie Feuerholz eingesammelt wurden.

Ihnen konnte sie ebenfalls Gutes tun; sie konnte ihnen Frieden schenken und sie auf eine höhere Ebene geleiten. Sie stellte sich vor, wie sie lächelten. Und sie stellte sich Stephen an der Tür zu seinem Museum vor.

Und weinte über die Versuchung und den unschätzbaren Verlust.

»Nein«, sagte sie unter Tränen. »Ich kann es nicht tun, Sam. Ich kann es nicht. Er muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und seinen eigenen Weg durch das Tor gehen oder sich entschließen, auf dieser Seite zu bleiben. Ich kann ihn zu dem Pfad hinsingen, aber er selbst muss ihn wählen. Wenn sich der Tod entschieden hat, ihn zu nehmen, habe ich kein größeres Recht als Anwyn, mich dagegen zu stemmen.« »Aria...«

»Nein«, sagte sie mit festerer Stimme. »Ich kann ihn nicht durch das Tor zurückholen. Seine Liebsten befinden sich auf beiden Seiten. Wenn er sich entscheidet, in die Ruhe hinüberzuwechseln, kann ich ihn nicht zwingen, hier zu bleiben. Es gibt gute Gründe für ihn, zu gehen oder zu bleiben. Wir müssen demütig annehmen, was er und der Tod zwischen sich ausmachen.«

Sie ergriff Ashes Hand, und er neigte traurig den Kopf. Sie standen Wache und hofften, Stephen würde wieder atmen und die Farbe des Sonnenaufgangs in seine Wangen einsaugen. Doch mit jeder Minute wurde seine Haut mehr zu Alabaster und die Hände kälter.

Als die Sonne über die Wolken stieg, wich das Licht aus den Augen des Herzogs. Rhapsody schaute in den Horizont und glaubte, ein Lächeln im Schatten hinter dem Schleier des Hoen aufblitzen zu sehen.

»Empfange ihn freundlich, Fürst Rowan«, flüsterte sie in den Morgenwind. Neben ihr weinte Ashe.

Rhapsody blickte über seine Schulter in die weißen Gesichter von Rosella und den Kindern. Sie streckte ihnen die Hände entgegen.

»Rasch! Kommt rasch her!«

Gwydion Navarnes Hand war eisig, als Rhapsody sie ergriff und ihn sowie Melisande vor sich stellte. Sie umarmte die Kleinen und deutete hoch zur aufgehenden Sonne.

Im Schatten des goldenen Lichts, das über den Horizont strömte, sahen sie den Umriss des Freundes, des Vaters, des Herzogs, wie er wieder aufrecht stand unverletzt und stark. Sein langer und schwarzer Schatten erstreckte sich von der Sonne fort bis zu ihnen. Das strahlende Morgenlicht machte sein Haar leuchtend golden.

Hinter ihm war ein anderer Schatten: kleiner, dunkler, ebenfalls vom Tagesanbruch erhellt.

»Wer ist das?«, fragte Melisande und beschirmte die Augen.

Rhapsody zog sie näher zu sich heran und lächelte unter Tränen. »Deine Mutter.«

Sanft begann sie mit dem lirinischen Lied des Übergangs und wob seinen Namen Stephen in die alte Totenklage. Das erstarkende Licht des Morgens schien für einen Moment zu erstarren. Ashe begriff, was sie tat. Er streckte den Arm aus und streichelte Melisandes Gesicht, dann legte er die Hand auf Gwydion Navarnes Schulter.

»Sagt ihm Lebewohl«, meinte er zu den Kindern. Seine Stimme hatte ihre Kraft wiedergefunden; Weisheit lag in ihr. Gwydion Navarne hob den Kopf und schaute zum Horizont.

»Auf Wiedersehen, Vater«, sagte der Junge leise. Melisande winkte; sie konnte nicht sprechen. Hinter ihnen verging Rosella vor Trauer.

Gwydion erinnerte sich an die Worte seines Vaters, als Talthea, die Anmutige, dahingeschieden war.

Die Zeit hält uns alle im Griff, Gwydion. Wie alle Menschen, die den Launen der Zeit unterliegen, kämpft er darum, den Tod so lange wie möglich abzuwehren, weil er nicht weiß, welch ein Segen das Sterben zuweilen ist. Für dich und mich läuft die Zeit weiter.

Gwydion hob die Hand zur aufgehenden Sonne.

Benommen sang Rhapsody weiter. Licht ergoss sich nun in ihre Augen. Ihr schwirrte der Kopf, ihr Herz war erstarrt; es war ein Damm gegen die unweigerlich kommenden Schmerzen. Sie fragte sich, ob die Weisheit, die ihr der Gerichtshof verliehen hatte, ihr genug Kraft zu spenden vermochte, um der Kinder und des cymrischen Volkes willen ruhig zu bleiben. Und um Ashes willen.

Um ihrer selbst willen.

Hinter dem verblassenden Schatten sah sie in der Sonne andere, Dutzende, die im fernen Leuchten einer friedlichen grünen Lichtung hinter dem Schleier des Hoen standen. Sie beendete die Totenklage.

»Auf Wiedersehen, Stephen«, sagte sie. »Ich passe für dich auf sie auf.«

Die Sonne erstrahlte am Horizont und färbte den Himmel leuchtend blau. Wind kam auf, der Wind des Morgens, der den Rauch der schwelenden Glut zerstreute.

Rhapsody schaute sich um, als die Dämmerung den Rauch und die Verwüstung der Felder um die Ruine des Großen Gerichtshofes erhellte. Die Soldaten von Roland und Ylorc bewegten sich zwischen den Cymrern wie Lebende unter Schlafwandlern. Der cymrische Herr stand auf und bot ihr die Hand.

»Komm«, sagte er. »Wir sollten es beenden.«

Von den Überresten des Rufersimses sahen der neue Herr und die Herrin der Cymrer über das morgendliche Tal bis zum Fuß der Zahnfelsen. Unter ihnen befand sich das Volk, das ihnen erst vor zwei Tagen die Treue geschworen hatte. Der Schmerz und die Trauer über den Verlust waren unverkennbar, doch die Hoffnung ebenso. Als sich die Fir-Bolg-Soldaten mit dem Heer von Roland vereinigten und beim Aufbau und der Bergung halfen, legten die Flüchtlinge aus Serendair und deren Nachkommen ihre alten Vorbehalte ab und reichten über den Abgrund einander die Hände, um ein neues Bündnis des Friedens zu schmieden.

Rhapsody schaute auf das Hörn in ihren Händen. Die Umhüllung war gesplittert, die Magie gebrochen, welche die Sturmumtosten Überlebenden aneinander geschmiedet hatte; sie war aus dem trüb gewordenen Metall ausgelaufen. Dennoch lag Jubel in der Luft und eine Spur von Hoffnung, welche den Untergang der Insel, die Schrecken des Großen Krieges und sogar die Auferstehung der Toten überlebt hatte und fest wie ein Pfahl die gute und helle Zukunft ankündigte.

Sie hob das Hörn an die Lippen und blies hinein. Es war kein Kriegsruf, kein Schlachtruf, sondern ein Siegesruf.

Die Cymrer unter ihr riefen zustimmend und erfüllten die Sommerluft mit ihrem Jubel. Rhapsody machte Platz für Gwydion, der neben ihr stand. Er lobte all jene, die besonders tapfer gekämpft hatten, segnete diejenigen, die gefallen waren, und kehrte zu den Ankündigungen zurück, die er gemacht hatte, als die Erde plötzlich unter ihm gebebt hatte. Er eilte durch seine Bekanntmachungen. Die Sprecher jeder einzelnen Gruppe und andere Tatendurstige waren eingeladen, die Vereinigung und den Umbau der cymrischen Staaten mitzuplanen. Der Rest wurde verabschiedet und gleichzeitig eingeladen, in einem Jahr zu einem neuen Konzil zusammenzukommen, das danach jedes dritte Jahr zusammentreten sollte. Die Hochzeit sollte in drei Monaten am ersten Tag des Herbstes bei dem Ableger der Eiche der tiefen Wurzeln stattfinden, die dort wuchs, wo einmal das Haus der Erinnerung gestanden hatte. Ashe dankte den Cymrern für ihre Teilnahme, ergriff Rhapsodys Hand und führte sie geschwind von dem Sims, bevor die Woge der Glück Wünschenden sie mit sich tragen konnte, wie sie es bereits vor zwei Nächten versucht hatte.

Auf dem Abstieg über den Felshang sah Rhapsody hoch und bemerkte, dass Achmed und Grunthor sie beobachteten. Sie lächelte ihnen zögernd zu. Grunthor starrte sie gerade heraus an, und Achmed schenkte ihr ein schwaches, wissendes Lächeln. Dann war sie fort. Ashe hatte sie aus dem Weg der anwachsenden Menge gezogen.

Von ihrem Versteck auf dem niedrigeren Sims sah Rhapsody zu, wie die Menge allmählich die Senke verließ. Es würde viele Tage dauern, bis auch die Felder um den Gerichtshof wieder verlassen dalagen, denn die Häuser und alten Freunde würden sich zusammentun und zurückbleiben, um ihre Beziehungen zu erneuern. Auch war es eine große Aufgabe, hunderttausend Leute und ihre Habseligkeiten in Bewegung zu setzen. Rhapsody seufzte. Achmed hatte klaglos alles für sie geregelt.

Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihm einen so gewaltigen Scherbenhaufen hinterließ. Sie hatte ihn vor den Ankündigungen aufgesucht und seine Erlaubnis zum jährlichen Zugang zum Gerichtshof erwirkt, doch ihre Verlobung hatte sie ihm nicht vorher mitgeteilt. Ihre Verlegenheit darüber war noch immer sehr groß.

Sie spürte ein seltsames Prickeln auf der Haut. Es war eine statische Ladung, die in den Haarspitzen summte und in die Fingerspitzen stach. Dann hörte sie die Stimme und runzelte die Stirn.

»Ich hoffe, du erlaubst mir, dir sowohl zu deiner Wahl als auch zu deiner Verlobung meine ehrlichen Glückwünsche auszusprechen, meine Liebe.« Diese Bemerkung kam entweder aus der Erde selbst oder aus der Luft; Rhapsody war sich nicht sicher.

»Vielen Dank«, sagte sie und wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. »Bitte lass mich allein, Llauron. Ich habe dir nichts zu sagen.«

Ein tiefes Kichern durchlief den Boden, und sie spürte, wie der Wind auffrischte. So war es auch gewesen, als sie Elynsynos besucht hatte. Doch anstatt ihr sanft durch die Haare zu fahren, wie die Luft es in dem stillen Tal vor der verborgenen Höhle getan hatte, blies sie ihr jetzt mit kühner Stärke die Locken um den Kopf.

»Irgendwie bezweifle ich, dass das die Wahrheit ist, meine Liebe.«

Sie bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Du hast Recht. Ich will es anders ausdrücken. Es gibt viele unschöne Dinge, die ich dir jetzt sagen könnte, Llauron, aber das möchte ich nicht. Geh fort und lass mich allein.«

»Das ist schon besser. Es tut mir Leid, dass du so wütend bist, Rhapsody. Natürlich hast du das Recht dazu. Ich hatte bloß gehofft, du würdest etwas von deiner berühmten Versöhnlichkeit auch deinem Schwiegervater zuteil werden lassen. Ich kann dich nicht um Verzeihung bitten, wenn du mich nicht ausreden lässt. Du hast schließlich gesagt, dass wir alle einander verzeihen müssen.«

»Einige Dinge sind unverzeihlich«, ertönte Gwydions Stimme hinter ihr. Sie zuckte unter seinem harschen Tonfall zusammen. »Lass Rhapsody in Ruhe, Vater. Nach dem, was du getan hast, hast du kein Recht mehr, mit ihr zu reden.«

Rhapsody streckte die Arme nach ihm aus. »Sam ...«

»Er hat natürlich Recht«, sagte die warme, kultivierte Stimme. »Ich habe euch gegenüber keinerlei Rechte mehr. Ich habe nur um deine Nachsicht gebeten.«

»Warum schaust du nicht nach, ob Achmed und Grunthor Hilfe brauchen, Sam?«, fragte Rhapsody sanft. »Ich kann auf mich selbst aufpassen. Geh. Bitte.« Gwydion sah sie zweifelnd an, dann erkannte er, was sie vorhatte, und ging mit einem Seufzer der Verärgerung fort.

»Er ist noch sehr wütend, und er trauert«, sagte Llauron. Es war, als ob seine Stimme aus der Erde und der Luft gleichzeitig käme. »Ich hoffe, du kannst ihm bei der Bewältigung seines Zorns helfen, meine Liebe.«

»Ich weiß nicht, ob ich das tun sollte«, antwortete sie. »Vielleicht ist es für uns beide besser, uns immer an den Grund dafür zu erinnern.«

Ein dunkles Kichern rumpelte durch den Boden. »Das glaubst du vielleicht, Rhapsody, aber es stimmt nicht. Das hältst du nicht durch. Ich vermute, du hattest genug schlechte Gefühle für ein ganzes Leben. In Anbetracht deiner Lebenserwartung ist das eine Menge Schmerz. Du bist nicht der Typ, der andauernden Groll hegt.«

»Falls ich jemals Schwierigkeiten haben sollte, mich daran zu erinnern, warum ich nicht mehr mit dir rede, muss ich nur das Bild des heutigen Tages in mir heraufbeschwören: der verkrüppelte Anborn, der versucht hat, mich zu retten; Stephen, der gestorben ist, damit die Cymrer aus dem Gerichtshof fliehen konnten; das Entsetzen, das Anwyn auf uns herabgerufen hat ... Ich glaube, das werde ich nie vergessen. Mal sehen, ob ich nicht doch der Typ bin, der andauernden Groll hegt.«

Die Stimme im Wind schien ehrlich überrascht zu sein. »Warum bist du so wütend auf mich? Was habe ich dir getan?«

Verärgert schlug sie in den Wind. »Wo warst du? Warum hast du nicht geholfen? Du hättest so viele Leben retten können diese Cymrer, die du angeblich so verehrst und schätzt. Warum hast du dich nicht selbst um Anwyn gekümmert? Bestimmt wäre dir das leichter gefallen als allen anderen.«

Der Wind seufzte.

»Sie war meine Mutter, Rhapsody.«

»Und Gwydion ist dein Sohn. Anborn ist dein Bruder. Stephen war dein Freund. Und das hier ist dein Volk. Das ist wohl kaum eine gute Entschuldigung.«

»Gwydion hat dich. Anborn hat die Freundschaft vieler. Stephen möge der Schöpfer ihn segnen hatte die Liebe einer Frau, zweier wunderbarer Kinder und aller, die ihm je begegnet sind. Die Cymrer hatten einander und haben sich gegenseitig den Sinn im Leben verschafft. Anwyn hatte nur mich.« Der Wind blies warm durch ihre Haare. »Ich hoffe, du wirst es eines Tages verstehen und mich in deine Versöhnlichkeit einschließen. Ich hoffe, eines Tages meine Enkel zu sehen. Das wirst du mir doch nicht verwehren, oder?«

»Ich bezweifle, dass ich deine Beweggründe je verstehen werde, aber das muss ich auch nicht, Llauron«, entgegnete Rhapsody. »Du bist jetzt in deiner eigenen Welt. Wenn wir eines Tages Kinder haben und sie dich sehen wollen, werde ich nichts dagegen haben.« Das Grün ihrer Augen wurde dunkler. »Es sei denn, du versuchst uns wieder in irgendeiner Weise zu beeinflussen.«

»Ich habe verstanden. Ich glaube, unsere Welten sind weit genug voneinander entfernt, um sicherzustellen, dass das nicht geschehen wird.«

»Hoffentlich hast du Recht.«

Die wohlklingende Stimme seufzte im Wind. »Rhapsody, ich muss dich bitten, dich an etwas zu erinnern.«

Sie warf einen Blick über die cymrischen Versprengten, die in der Senke in kleinen Gruppen zusammenstanden und miteinander redeten. »Ja?«

»Ob du es erkennst oder nicht, und ob es dir gefällt oder nicht: Eines Tages wirst du dich noch einmal in derselben Situation befinden.«

Sie richtete wieder ihre ganze Aufmerksamkeit auf den unsichtbaren Llauron. »Was soll das bedeuten?«

»Wenn du einen Mann heiratest«, sagte die Elementarstimme des Wyrm, »der auch ein Drache ist, wirst du eines Tages bemerken, dass er ganz zu dem einen oder anderen werden muss. Wenn er sich entscheidet, dass die menschliche Seite den Sieg davontragen soll, wirst du irgendwann die Schmerzen der Witwenschaft kennen lernen, so wie ich. Und wenn er den Pfad einschlägt, den ich gewählt habe, dann weißt du jetzt, was ihr beide tun müsst. Ich will dein Glück in keiner Weise erschüttern, meine Liebe, aber so ist es nun einmal bei der Familie, in die du einheiraten möchtest. Ich will bloß nicht, dass du eines Tages aufwachst und glaubst, man habe dich in die Irre geführt.«

Bitterer Schmerz stieg in Rhapsodys Kehle hoch. Die Wahrheit seiner Worte war trotz ihres Verlangens, sie nicht weiter zu beachten, unleugbar. Seine Gründe für diese Mitteilung waren ihr weniger klar. Es war unmöglich zu sagen, ob er sie warnen oder davon abhalten wollte, sich in eine Lage zu begeben, in der sie irgendwann solchen Problemen gegenüberstand. Sie schaute wieder über das Feld in die Senke, in der Gwydion kniete, umgeben von alten Freunden, welche Rosella und die Kinder Stephen Navarnes trösteten.

»Auf Wiedersehen, Llauron«, sagte sie und raffte den Rock. »Ich vermute, wir werden uns auf der Hochzeit begegnen. Zumindest werde ich deine Anwesenheit spüren.« Sie kletterte von den Felsen hinunter und eilte durch den Gerichtshof zu ihrem wartenden Ehemann.

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