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Grunthor sah zu, wie das rolandische Heer eintraf. Er schirmte die Augen vor dem Sonnenglast mit der Klinge seiner gewaltigen Streitaxt ab, die er Sal nannte, was die Abkürzung von Salut war.

Falls ihn die scheinbar endlosen schwarzen Wellen orlandischer Soldaten in den Senken vor den Zahnfelsen nervös machten, so zeigte er es nicht. Er verharrte reglos; sein Gesicht zeigte stärkste Konzentration. Er zählte.

»Mindestens zehntausend Männer Kavallerie, zehnmal so viele zu Fuß«, berichtete er. Achmed nickte. Er stand mit einer kürzlich fertig gestellten Cwellan über dem Rücken da, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete, wie sich die Streitkräfte Rolands über das Vorgebirge vor dem Gerichtshof ausbreiteten.

»Wir wussten, dass es früher oder später so weit kommen würde«, sagte er leidenschaftslos.

»Ich hätte es aber nie für möglich gehalten, dass Tristan so schnell ein so großes Heer zusammenstellen kann, und ich hätte nie geglaubt, dass er es wagt, den Zorn der Cymrer auf sich zu ziehen, indem er seine Truppen zum Konzil führt.« Er spuckte aus und schaute dann gedankenverloren nach Süden. »Hast du von unseren Spähern Meldungen über weitere Streitkräfte aus Sorbold gehört?«

»Nein.« Grunthor schaute in dieselbe Richtung wie Achmed. »Meinst du, dass wir noch mehr davon bekommen?«

Achmed nickte erneut. »Ein Heer von dieser Größe ist zwar gefährlich, aber es ist zu klein, um die Vision auszulösen, die Rhapsody vor unserem Aufbruch nach Yarim hatte. Sie hat gesehen, wie die Bergflüsse von Blut rot gefärbt waren und die Erde sich unter dem Himmel schwärzte. Ich glaube, zumindest das sorboldische Heer muss sich noch dazugesellen, bevor wir derart unterlegen sind, dass ein solches Szenario Wirklichkeit werden könnte.«

»Roland hat fünf Schießgruppen und fünfhundert Katapulte«, sagte Grunthor. »Könnte ’ne harte Sache werden, je nachdem, was sie vorhaben.«

Der Bolg-König spuckte wieder aus, um den bitteren Geschmack von Galle aus dem Mund zu bekommen.

»Wir sollten herausfinden, welche Pläne Tristan in Wirklichkeit hat.«

Der Prinz von Bethania hatte seinem Marschall vorläufige Befehle gegeben und unterrichtete soeben seine Generäle, als die Späher das Signal sandten, auf das er gewartet hatte. Der Fir-Bolg-König kam.

Er versuchte, seine Erregung im Zaum zu halten, doch seine Hände zitterten. Am Morgen, als er zur Eröffnung des Konzils mit seinem Haus in den Gerichtshof eingeritten war, hatte er das Ungeheuer auf dem hohen Aussichtspunkt stehen sehen. Als der Lärm innerhalb der Senke angeschwollen war und sich damit der baldige Beginn der Versammlung angekündigt hatte, war er fortgehuscht, um sich mit seinem Heer zu besprechen, bevor die Ruferin die Leute zur Ordnung mahnte.

Zum Glück blieb ihm nun noch genug Zeit, um dem Bolg-Kriegsherrn, der mit seinem gewaltigen Sergeanten herbeikam und sicherlich vom Anblick des rolandischen Besatzungsheeres eingeschüchtert war, den letzten Mut zu rauben.

Tristan Steward stand trotzig da und versuchte ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken, das sich über sein Gesicht legen wollte. Als der Bolg-König nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, blieb dieser stehen. Seine schwarze Robe flatterte im Wind. In seinen verschiedenfarbigen Augen lag keine Angst. Er grinste anmaßend und warf einen herablassenden Blick auf das Feld hinter Tristan.

»Ich hoffe, du hast deine eigenen Versorgungswagen mitgebracht, um deine kleinen Freunde ernähren zu können. Die Einladung erstreckte sich nur auf die Cymrer. Es ist schon schlimm genug, dass wir für diese Bande von Taugenichtsen sorgen müssen. Ich habe nicht vor, unsere Gastfreundschaft auf ungebetene Gäste zu erstrecken.«

Tristans Kinnlade klappte herunter. Seit langem hatte er sich auf den Augenblick gefreut, in dem er mit den hunderttausend Männern seines Heeres vor den Toren Ylorcs stehen und das widerwärtige Grinsen aus dem Gesicht dieses albtraumhaften Geschöpfs tilgen würde, das ihn seit so langer Zeit bedrohte. Doch dessen Lächeln wich nicht; es war wie in Stein gemeißelt. Rasch schloss er wieder den Mund und betrachtete das Antlitz des Bolg-Königs. Es war ein Gesicht, das kürzlich die Zerstörung seines Königreiches mit angesehen hatte. Sicherlich war es von Wut verzerrt gewesen, als sein Träger sich einen Überblick über die tausende von Toten verschafft hatte und Zeuge der Massenbegräbnisse geworden war. Er erinnerte sich an seinen Geschichtsunterricht über Seuchen in Roland und Sorbold. Einer seiner Vorfahren war angeblich aufgrund der Seuche, die sein Herzogtum heimgesucht hatte, verrückt geworden und hatte Selbstmord begangen.

Doch war zweifellos der Verlust eines Königreiches voller Ungeheuer nicht so schrecklich, wie es bei menschlichen Geschöpfen der Fall gewesen wäre. Vielleicht war der Bolg-König pragmatisch in Hinsicht auf seine Verluste, da er das Leben der Bolg genauso wenig schätzte wie die Menschen. Wie gewonnen, so zerronnen.

»Ich erlaube dir, die Reste deiner Bevölkerung friedlich zu evakuieren, bevor wir den Berg erobern. Wenn das Konzil vorbei ist, werde ich Canrif besetzen.«

Das böse Lächeln wurde breiter. »Du persönlich? Canrif ist groß, Tristan. Du bist zwar ein wenig fett um die Hüfte, aber ich bezweifle, dass du ein ganzes Königreich für deinen übergewichtigen Körper benötigst. Ich habe eine besonders große Hütte, die ich dir zur Verfügung stellen kann, falls dir die Unterbringung in deinem Feldlager zu unbequem ist. Aber ich befürchte, dass alle Gästehäuser besetzt sind. Rhapsody hat sich um diese Dinge gekümmert.«

Bei der Erwähnung ihres Namens wurde Tristan rot. Achmed bemühte sich, nicht laut aufzulachen. Er beugte sich verschwörerisch vor.

»Sie hat die Diplomatenquartiere denjenigen Gästen vorbehalten, die sie als besonders wichtig erachtet. Ich habe deinen Namen nicht auf der Liste gesehen. Du bist doch nicht einmal das Oberhaupt deines Hauses, oder? Selbst wenn du es wärest, hättest du wohl kaum ein Zimmer bekommen, wenn man bedenkt, was Rhapsody von dir hält. Aber wie ich schon sagte, habe ich eine große Hütte, in der du während des Konzils schlafen kannst.«

Eine Ader an der Schläfe des Herrn von Roland pulste so stark, dass Achmed schon befürchtete, sie könne platzen. Tristan blähte die Nüstern, machte einen Schritt auf den Bolg-König zu und senkte die Stimme zu einem mörderischen Flüstern.

»Du überheblicher Bastard! Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, dein Volk vor weiterem Blutvergießen zu bewahren, und was tust du? Du beleidigst mich! Ich werde es genießen, dich und deine monströsen Untertanen unter meinen Stiefeln zu zertreten. Ich werde Canrif von all deinen Überbleibseln reinigen, bis hin zur verpesteten Luft, die du in den Berg gesogen hast. Ich werde ihn wieder für menschliche Wesen bewohnbar machen, sobald alle Spuren der Verseuchung getilgt sind.« Als er geendet hatte, bemerkte er, dass ihn der Mann, den die Bolg das finstere Auge nannten, durch seine Schleier streng ansah.

»Und wie willst du diese Drohung in die Tat umsetzen?«

Tristan Steward starrte den Fir-Bolg-König einen Moment lang an, als wäre dieser verrückt. Das Meer aus Soldaten schwärzte die Hügelkämme. Vielleicht konnte das Ungeheuer im Gleißen der unzähligen Waffen und Rüstungen nicht mehr richtig sehen.

»Es tut mir Leid«, sagte er mit gespielter Höflichkeit. »Habe ich etwa vergessen, dir das vereinigte Heer von Roland vorzustellen?«

Die unterschiedlichen Augen des Bolg-Königs starrten ihn noch eine Weile an, dann richteten sie sich beiläufig auf die Krevensfelder. Die Ahnung eines Lächelns umspielte seine Lippen.

»Nett von dir, etwas zum Essen mitzubringen«, erwiderte er trocken. »Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du mich aus dem Berg vertreiben willst. Egal. Geh zurück zum Konzil, Tristan, und verschwende nicht länger meine Zeit.« Achmed drehte sich um und ging fort.

Der Herr von Roland blähte wütend die Nasenflügel und fuhr mit der Hand zum Griff seines Schwertes. »Ich warne dich zum letzten Mal, Ungeheuer...«

Achmed wirbelte schneller herum, als Tristan es mit seinem Blick erfassen konnte. Das Langschwert des Herrn von Roland flog mit dem Griff voran in das schlammige Gras. Tristan spürte den plötzlichen Schmerz des schraubstockgleichen Griffs, der sich um sein Handgelenk wand, dann sah er die vor dunkler Wut glühenden Augen des Königs eine Haaresbreite von seinen eigenen entfernt. Hinter sich hörte er, wie Schwerter klirrend aus der Scheide gezogen und Bögen knirschend gespannt wurden.

»Anscheinend geben wir beide nicht viel auf die Warnungen des anderen«, sagte er mit ruhiger und leiser Stimme, die nur für Tristan hörbar war. »Erinnere dich daran, dass ich dich vor langer Zeit in der Stille deines Schlafzimmers gewarnt habe, mir in die Quere zu kommen. Du wirst bald herausfinden, aus welchem Holz Ungeheuer geschnitzt sind. Bist du bereit für diese Lektion? Hier, vor deinen schwachsinnigen cymrischen Gefährten? Bist du bereit, die Schlacht von Bethe Corbair oder die Auslöschung der vierten Kolonne zur Unterhaltung deiner Freunde noch einmal aufzuführen?«

Tristan zog den Arm aus der Umklammerung des Bolg-Königs. »Du klägliches, untermenschliches Wesen. Dein Heer ist tot, dein Berg leer. Du könntest dein Reich nicht einmal mit Lampenlicht gegen die herankommende Nacht verteidigen und schon gar nicht meine Soldaten aufhalten.«

Unter den zeremoniellen Schleiern war Achmeds Lächeln deutlich erkennbar. »Wirklich? Eine bemerkenswerte Theorie. Sollen wir sie überprüfen?«

Silberner Hörnerschall zerriss die Luft und zerschmetterte die fühlbare Spannung zwischen den beiden. Sie schauten hoch zum Rand der Senke und sahen Rhapsody auf dem Rufersims stehen. Sie starrte auf die Männer herunter und war kaum mehr als eine winzige silberne Scheibe, die in der Sonne glitzerte und einen langen Schatten warf. Die Juwelen in der Krone wirbelten um ihren Kopf und waren selbst aus großer Entfernung sichtbar.

Achmed grinste noch breiter, als er Tristans verzauberten Blick bemerkte. »Die Ruferin befiehlt uns zu sich, höchster Herrscher«, sagte er launig. »Sollen wir ihren Ruf missachten und sofort anfangen? Möchtest du das Konzil mit dem Blut der armen, geschundenen Überlebenden meines Königreiches taufen?«

Er beugte sich vertraulich vor. »Rhapsody ist die beste Heilerin in den Bolg-Landen . Sie leidet mit dem Verlust jeder Firbolg-Seele und jedes kranken Kindes. Das war auch ihr Volk, Herr von Roland. Du weißt, wie sie vor langer Zeit zu dir gekommen ist und die Bolg vor dem weiteren Abschlachten durch deine Truppen retten wollte. Willst du, dass sie wieder dabei zusieht? Bist du deswegen mit deinem Heer gekommen für einen neuen Frühjahrsputz?«

Nun hielt Tristan dem Blick des Bolg-Königs stand. »Kiernan?«, rief er zu seinem General.

»Herr?«

»Lager aufschlagen. Wir werden nach dem Konzil weitermachen.«

»Ja, Herr.«

Tristan drehte sich um und hob sein Langschwert auf. Er säuberte es an seinem Mantel und steckte es mit einer hastigen Bewegung zurück in die Scheide. Während der Befehl, das Lager aufzuschlagen, in Wellen durch die Soldatenmenge schwappte, drehte er sich noch einmal zu Achmed um.

»Wenn dieses Konzil vorbei ist, wird nicht nur das Heer von Roland, sondern auch die Macht und Stärke der ganzen Versammlung meinem Befehl unterstehen.«

»Noch besser. Dann haben wir genug Fleisch zum Abendessen.«

»Ich werde dein Land vor dem nächsten Einbruch der Nacht besitzen.« Tristan Steward gab seinen Generälen und Gehilfen ein Zeichen und schritt dann durch die großen irdenen Tore der Senke und des Gerichtshofes, um sich zu seinem eigenen Haus zu gesellen, während das Heer sich zur Belagerung bereit machte.

Achmed sah dem Herrn von Roland nach, bis dieser im Gerichtshof verschwunden war, und wandte sich dann an Grunthor.

»Gut. Ich wusste, dass ihre unglaubliche Schönheit eines Tages von wirklichem Nutzen sein würde.« Er schaute zurück zu den Bergen, die sich kalt und still hinter ihm erhoben. »Ich höre schon Grummeln aus den cymrischen Reihen über Tristan und sein Heer. Viele sind wütend, dass er es zu einem Friedenskonzil mitgebracht hat.«

»Ja.« Grunthor warf einen kurzen Blick auf die lagernde Streitmacht, die das Land um den Gerichtshof schwärzte. »Vielleicht tragen sie’s untereinander aus. Könnte ganz nett werden.«

»Allerdings. Und jetzt sollten wir uns selbst quälen.«

Grunthor nickte. Gemeinsam erkletterten sie den oberen Rand der Senke und nahmen ihre Plätze als Gastgeber der Versammlung neben der Ruferin ein.

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