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Winterfest, Haguefort, Provinz Navarre

Die Reihe von Wagen vor den rosig braunen Toren von Haguefort erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Ein großer Strom von Gefährten verstopfte den Eingang nach Haguefort und drückte sich zwischen zwei schlanken Glockentürmen hindurch, die die Grenze zu Stephen Navarnes Land markierten und die Kutscher zur Kriechgeschwindigkeit zwangen.

Der heilige Mann seufzte innerlich auf und nippte an seinem Likör. Geduld, ermahnte er sich und schaute aus dem Wagenfenster auf die wogenden Fahnen aus farbiger Seide, die von den Glockentürmen herabhingen und fröhlich in der eisigen Brise flatterten. Unablässig warnte er sein inneres dämonisches Selbst und schmeichelte: Geduld.

Er hatte sich dazu entschieden, in seinem Wagen zu bleiben, anstatt in einen der Schlitten zu wechseln, die von den Dienern des Herzogs an der Ostgrenze von Navarne bereitgestellt worden waren. Stephens gut gepflegte Straßen würden eine schnellere Reise nach Haguefort erlauben als eine Schlittenfahrt über den dünnen Schnee, der die Felder und sanft gewellten Hügel überzog. Er hatte die Temperatur falsch eingeschätzt; es war während der vergangenen Tage warm geblieben, sodass der Schnee schließlich in Regen übergegangen war, doch über Nacht war es kalt geworden, und Frost hatte die Felder in glitzernde Eisdecken verwandelt, für die ein Schlitten sehr gut geeignet gewesen wäre.

Nun aber steckte er in einer großen Schlange aus Wagen, Karren und Fußverkehr fest. Das Schreien der Tiere, die zum Karneval gebracht wurden, trieb ihn im Verbund mit den auf geregten menschlichen Stimmen dazu, seinen Likör zu trinken und darauf zu hoffen, dass er den Freudenlärm um ihn herum ertränkte. Geduld.

Bald würde es beginnen. Bald würde das Warten ein Ende haben.

Bald würde seine Geduld belohnt werden.

Stephen Navarne blinzelte in die Sonne, beschirmte seine Augen und folgte mit dem Blick dem ausgestreckten Finger von Quentin Baldasarre, dem Herzog von Bethe Corbair. Baldasarre zeigte von ihrem Platz an der Bergseite der Burgtore aus auf den gewaltigen Verkehr unter ihnen.

»Da! Ich glaube, ich sehe Tristans Wagen ... er steckt genau in der Mitte fest, zwischen deinen beiden Glockentürmen«, sagte Quentin und senkte den Arm, während Stephen zustimmend nickte. »Armer Kerl. Ich wette, er steckt dort mit Madeleine fest.«

»Gute Götter, der arme Tristan«, meinte Dunstin Baldasarre, Quentins jüngerer Bruder. Stephen unterdrückte ein Lächeln. »Schämt euch beide. Ist Madeleine nicht eure Kusine?«

Dunstin seufzte theatralisch. »Das ist leider nur allzu wahr, wie ich gestehen muss«, sagte er und hielt sich die Hand in vorgespielter Scham vor das Gesicht. »Aber bitte, freundlicher Herzog, richtet nicht zu unbarmherzig über unsere Familie, weil sie diese Frau hervorgebracht hat. Niemand außer dem All-Gott ist vollkommen.«

»Nur sind einige es noch weniger als andere«, meinte Quentin und leerte seinen Becher mit gewürztem Rum.

Die Kutscher ließen ihre Passagiere sehr langsam und umsichtig aussteigen, damit sie nicht von den Karren der Stadtbewohner überrollt wurden. Stephen wandte sich an Owen, seinen Kammerherrn.

»Owen, schick das dritte Regiment aus, damit ein Teil des Verkehrs auf die Waldstraße und durch das Westtor umgeleitet wird«, befahl er. Er wartete, bis Owen nickte und ging; dann redete er wieder mit den Brüdern Baldasarre.

»Wenn es nach Tristan geht, wird Madeleine eines Tages unsere Königin sein«, sagte er ernsthaft. »Vielleicht ist es das Beste, sich nicht über sie lustig zu machen.«

»Na, heute sind wir wirklich ziemliche Miesepeter«, sagte Dunstin frech. »Anscheinend hast du uns nicht genug von deinem herrlichen Glühwein gegeben.«

»Weil du schon die Ration einer ganzen Legion versoffen hast und für keine andere lebende Seele mehr etwas übrig geblieben ist«, gab Quentin zurück, bevor Stephen etwas erwidern konnte. »Das nächste Mal solltest du vielleicht einen Trog damit füllen und deine Schnauze hineinhängen, du Suffkopp!«

»Wenigstens ist Cedric hier«, sagte Stephen rasch, als Dunstin Quentin einen wütenden Stoß gab. »Sein Wagen wird gerade entladen, zusammen mit den Bier wagen des Grafen.«

»Hurra!«, schrie Dunstin. »Kannst du erkennen, welcher der von Andrew ist?«

Stephen schaute wieder in die Sonne und erspähte einen großen und schlanken jungen Mann mit einem dunklen Bart, der vier Wagen voller Holzfässer einwies. »Der Erste, der jetzt auf die Waldstraße abbiegt. Da hinten siehst du ihn?« Er winkte dem Mann zu und erhielt ein Winken als Antwort. Stephen lächelte.

Cedric Canderre, der Onkel der Baldasarres und Madeleine Canderres Vater, der zukünftige Herrscher Rolands, war Herzog und Regent der Provinz, die seinen Namen trug. Obwohl sein Land politisch nicht so mächtig war wie die meisten anderen Provinzen, wurde Cedrics Ankunft beim Winterkarneval immer mit großer Freude aufgenommen.

Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war Cedric Canderre ein berühmter Spaßvogel, ein stattlicher, fröhlicher Mann mit einem großen Hunger auf alle feineren Dinge des Lebens sowie die Ausschweifungen, zu denen sie führen konnten. Als Madeleines Mutter noch gelebt hatte, waren einige dieser Vergnügungen eine Quelle großer Bestürzung und gelegentlicher Peinlichkeiten für die Familie gewesen. Ihr zu früher Tod hatte es Cedric ermöglicht, seinen Neigungen zu frönen, was er nun mit einer Heftigkeit tat, die es besonders bei Festen angenehm machte, in seiner Nähe zu sein.

Der zweite und möglicherweise wichtigere Grund waren die Gaben seiner Provinz, die mit ihm in den Wagen reisten. In Canderre wurden wahre Luxusgüter hergestellt; bei ihnen handelte es sich um Dinge, deren unübertroffene Qualität in der ganzen Welt bekannt war. Dazu zählten auch verschiedene alkoholische Getränke: Weine, Liköre, Branntweine und anderes mehr. Cedrics Kaufleute verlangten hohe Preise für diese Waren und zahlten keine Zölle im zwischenstaatlichen Handel, sodass die freie Verteilung dieser seltenen und teuren Schätze auf Stephens Karneval immer mit großer Freude erwartet wurde.

Sir Andrew Canderre, der Vicomte de Paige, der nordöstlichen Gegend von Canderre, die an der Grenze zu Yarim und Hintervold lag, war Cedrics ältester Sohn und wichtigster Ratgeber sowie ein guter Freund Stephen Navarnes.

Graf Andrew war das genaue Gegenteil seines Vaters. Während Cedric wohlbeleibt war und gewichtig daherschritt, war Andrew schlank und gewandt und arbeitete oft stundenlang zusammen mit den Kaufleuten und Fuhrmännern seiner Provinz. Es war auch bekannt, dass er beim Unterhalt seiner Besitztümer selbst Hand anlegte; die Stallungen und Scheunen der Adligen waren berühmt für ihre Sauberkeit. Während Cedric selbstgefällig, witzig und aufbrausend war, war Andrew zurückhaltend, großzügig und geduldig. Daher war das Haus Canderre in Roland, jenseits des Meeres und im größten Teil der Seehandelswelt hoch angesehen.

Stephen beschirmte wieder die Augen, während sein Lächeln breiter wurde. Andrew bahnte sich einen Weg auf sie zu; es war ihm gelungen, seine Karawane durch die Tore zu steuern.

»Das sieht mal wieder gut aus, Stephen«, sagte er und streckte die Hand aus.

»Gut gemacht, Andrew«, antwortete Stephen und ergriff die Hand.

»Da ist er, der Biergraf, der Baron der Brauereien, der Herr der Zecherei«, meinte Dunstin und hielt ihm einen Bierkrug entgegen. »Wunderbar pünktlich, wie immer, Andrew. Du kommst gerade recht, um uns von Stephens Schweinetrank zu erlösen. Nimm einen Schluck, und du weißt, was ich meine.«

»Es ist wie immer eine Freude, dich zu sehen, Dunstin«, meinte Andrew trocken. »Quentin.«

»Andrew, du siehst blendend aus; ich wünsche dir einen guten Winter«, sagte Quentin. »Wie geht es Jecelyn von Bethe Corbair, deiner zukünftigen Frau?«

»Ich wünsche dir gute Gesundheit. Möge die nächste Wintersonnenwende dich im selben Zustand antreffen«, erwiderte Andrew. »Jecelyn geht es gut, vielen Dank. Stephen, darf ich kurz deine Zeit beanspruchen? Ich möchte sicherstellen, dass die Fuhrleute die Fässer genau dorthin bringen, wo du sie haben willst.«

»Natürlich. Bitte entschuldigt uns.« Stephen verneigte sich höflich vor den Gebrüdern Baldasarre, ergriff Andrews Ellbogen und geleitete ihn den Weg zur Speisekammer der Festung hinunter, wo die Waldstraße endete.

»Vielen Dank«, sagte er zu Andrew, sobald sie außer Hörweite waren.

»Es war mir ein Vergnügen.«

Llauron, der Fürbitter der Filiden, lächelte, als er zusah, wie die Seligpreiser des Patriarchen zu den fröhlichen Klängen von Stephens Hoforchester aus ihren Wagen stiegen. Die verschiedenen Segner waren zum Teil schon vor fünf Stunden eingetroffen, doch einige waren die ganze Zeit in ihren Wagen geblieben, damit sie sicher sein konnten, ihren großen Auftritt zu haben. Berichten aus Sepulvarta zufolge nahten die letzten Tage des Patriarchen, und unter den Adligen und der Priesterschaft kochten die Gerüchte, wer wohl sein Nachfolger werden mochte.

Der Erste, der seinen Wagen verließ, war Ian Steward, der Bruder von Tristan Steward, des Herrschers von Roland. Er war der Segner der Provinzen Canderre und Yarim, obwohl Vrackna, seine Basilika, der Rundtempel des Elementarfeuers, in der Provinz Bethania stand. Bethania hatte einige Gläubige zum Gebet in die Sternen-Basilika Lianta’ar geschickt, die Basilika des Patriarchen im heiligen Stadtstaat von Sepulvarta.

Trotz Tristans Einfluss war es Llaurons Ansicht nach unwahrscheinlich, dass der Patriarch Ian zu seinem Nachfolger bestellen würde. Zwar war Ian Steward ein liebenswerter Mann mit anscheinend gutem Herzen, aber er war noch recht jung und zu unerfahren, um eine solch gewaltige Verantwortung übertragen zu bekommen. Doch vielleicht würde gerade wegen seiner Jugend die Wahl des Patriarchen auf ihn fallen. Einige andere Seligpreiser waren fast so alt wie der Patriarch und würden für eine unausweichliche Unbeständigkeit sorgen, wenn sie selbst in wenigen Jahren den Lohn des jenseitigen Lebens empfangen würden.

Zwei der besten Beispiele für dieses Problem waren die nächsten beiden, die ausstiegen und sich dabei gegenseitig stützten. Lanacan Orlando, der kräftigere der beiden, war der Segner von Bethe Corbair und hielt die Gottesdienste in seiner Stadt unter dem heiligen Glockenturm in der wundervollen Basilika von Ryles Cedelian ab, der dem Wind geweihten Kathedrale. Der stille und bescheidene Lanacan war als fähiger Heiler berühmt und womöglich genauso begabt wie Khaddyr, doch große Menschenansammlungen machten ihn nervös, und er besaß keine wirkliche Ausstrahlung. Llauron hielt ihn kaum für einen wahrscheinlichen Nachfolger und war recht sicher, dass Lanacan erleichtert wäre, wenn er wüsste, dass er nicht auf der Liste stand.

Colin Abernathy, der Segner der Neutralen Zone im Süden, der sich auf Lanacan stützte, während sie über den gefrorenen Pfad schritten, war älter und gebrechlicher als sein Freund, aber politisch mächtiger. Doch er hatte keine Basilika, in der er Messen lesen konnte. Dieser Umstand kam Llauron oft in den Sinn, wenn er darüber nachdachte, wer der Wirt des F’dor sein könnte. Ein dämonischer Geist wäre nicht in der Lage, auf geweihtem Boden zu stehen, und die Basiliken waren der heiligste Grund und Boden, den es gab. Die fünf Elemente selbst heiligten den Boden, auf dem sie errichtet waren. Sogar ein F’dor mit gewaltiger Macht könnte an einem solchen Ort nicht überleben.

Aber Colin Abernathy musste das auch nicht. Seine Messen las er in einer großen Arena, einer ungesegneten Basilika, wo er sich um eine Gemeinde kümmerte, die sich aus vielen verschiedenen Gruppen zusammensetzte Lirin aus der Ebene, Einwohner von Sorbold, die zu weit entfernt von ihrer eigenen Kathedrale lebten, um dorthin zu pilgern, Seeleute aus den Fischerdörfern noch weiter im Süden und die große Gruppe der Unzufriedenen.

Abernathy war die zweite Wahl bei der Nachfolge des letzten Patriarchen gewesen und dem gegenwärtigen unterlegen, und seitdem zürnte er der Kirchenführung. Wenn er der Wirt des F’dor war, würde er sich bald nach einem jüngeren Körper umsehen; das wusste Llauron. Aber der Fürbitter war eher geneigt zu glauben, dass die Bestie nicht in einem Mitglied der Geistlichkeit steckte, sondern in einem der Provinzführer, was die Möglichkeit eröffnete, dass es sogar sein guter Freund Stephen war.

Der vierte Seligpreiser wartete eine große Fanfare ab, um auszusteigen. Philabet Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne, der über die große Wasser-Basilika Abbat Mythlinis herrschte, war jünger als die beiden ältlichen Seligpreiser, aber alt genug, um die Weisheit des fortgeschrittenen Lebens für sich zu beanspruchen. Er war prunksüchtig und wichtigtuerisch;

Llauron empfand seine Anmaßung abwechselnd als ärgerlich und belustigend. Griswold hatte kein Geheimnis aus seinem Verlangen gemacht, Patriarch zu werden, und mit dem Aussteigen gewartet, bis die heilige Hymne von Sepulvarta gespielt wurde. Sein Gefühl für den richtigen Augenblick war unfehlbar; es hatte den Anschein, als werde die Hymne ihn zu Ehren gespielt. Das dunkle Gesicht Nielash Mousas, des Segners von Sorbold, glich einer Gewitterwolke, als er kurz hinter Griswold aus seinem Wagen stieg. Ihr Wettstreit um das Patriarchat, den sie aus politischen Gründen lange geheim gehalten hatten, war nun zu einem offenen Kampf um den kirchlichen Thron von Sepulvarta geworden. Mousa war aus seinem kargen Land hergekommen, hatte dem Schnee und den schlechten Reisebedingungen getrotzt, um beim Winterkarneval öffentlich aufzutreten. Seine Basilika war die einzige der fünf Elementarkathedralen, die sich nicht innerhalb des Staatsgebiets von Roland befand. Terreanfor, der Tempel der Erde, lag tief in den nördlichen Zahnfelsen von Sorbold, versteckt innerhalb des Nachtberges. Seine Kandidatur für das Patriarchat war ein harter Kampf; das wusste Llauron. Der Wettstreit zwischen Mousa und Griswold würde blutig werden.

»Ah, Euer Gnaden, ich sehe, Ihr seid gut angekommen. Willkommen!« Stephens Stimme drückte echte Freude aus. Llauron drehte sich lächelnd um und begrüßte den jungen Herzog.

»Eine gute Sonnenwende, mein Sohn«, sagte er und ergriff Stephens Hand. Er warf einen Blick über den Festplatz, dessen helles Gepränge sich gegen den jungfräulichen Schnee unter einem klaren, blauen Himmel abhob. »Es scheint ein wunderbares Fest zu werden, wie immer. Was ist die offizielle Schneeskulptur in diesem Jahr?«

»Sie haben ein maßstabgetreues Modell des Gerichtsgebäudes in Yarim gebaut, Euer Gnaden.«

Llauron nickte anerkennend. »Ein wirklich wunderschönes Gebäude. Ich bin gespannt, wie sie es geschafft haben, den Schnee bei den Minaretten in Form zu halten.«

»Darf ich Euch einen Branntwein anbieten? Graf Andrew Canderre hat ausgezeichneten Nachschub gebracht, unter dem sich ein ganz besonderes Fass befindet.« Stephen hielt ein silbernes Schnapsgläschen hoch. »Ich habe Euch etwas von meinem Vorrat mitgebracht.«

Das Gesicht des Fürbitters erhellte sich, und er nahm den Branntwein dankbar entgegen. »Er sei gesegnet, und du auch, mein Sohn. Es geht nichts über etwas Wärme im tiefsten Winter.«

»Ich sehe, Eure Vertrauten sind auch hier. Sehr gut«, sagte Stephen und winkte Khaddyr zu, als der Heiler hinter den weißen Gästezelten in Sicht kam.

»Ist es möglich, dass auch Gavin hier ist?«

Llauron lachte. »Ja, wirklich, die Planeten müssen bei dieser Sonnenwende alle hintereinander stehen, sodass Gavins Terminplan es ihm erlaubt, hier zu sein. Erstaunlich, nicht wahr?«

»Allerdings! Da ist er, hinter Lark. Und Ilyana, mit Bruder Aldo. Ich bin so froh, dass ihr alle kommen konntet.«

Llauron beugte sich vor und flüsterte Stephen verschwörerisch ins Ohr: »Nun, hier wimmelt es vor Fürbittern. Ich musste alle filidischen Anführer mitbringen, um einen Massenabfall vom Wahren Glauben zu verhindern.«

Tristan Steward reichte seiner Verlobten die Hand und half ihr höflich aus dem Wagen, wobei er sich bemühte, nicht die Beherrschung zu verlieren und sie mit dem Gesicht voran in die tiefste Schneewehe zu stoßen, die er finden konnte.

Ich bin gestorben, und die Unterwelt sieht genauso aus wie diese hier, allerdings bin ich dazu verdammt, die Ewigkeit in der dauernden Gegenwart dieser Seelen verzehrenden Hexe zu verbringen, dachte er müde. Welche verdammenswürdigen, bösen Taten habe ich wohl begangen, dass ich dies verdiene? Er hatte auf der Reise von Bethania zu Stephens Festung eine neue Fähigkeit erlernt: die Fähigkeit des halben Zuhörens. Da Madeleines endloses Plaudern keine Anzeichen des Nachlassens zeigte, nicht einmal während des Ausstiegs, wandte er diese Fähigkeit nun an.

Er warf einen Blick auf Haguefort und die Felder dahinter, die im hellen Licht des Morgens glitzerten. Stephen und die Natur hatten sich wunderbar ergänzt. Leuchtende Eis Juwelen, die der Sturm der vergangenen Nacht übrig gelassen hatte, schmückten die Zweige der Bäume, welche die Wege zur Festung säumten und mit wolligen Wolken aus frischem Schnee überzogen waren. Stephen wiederum hatte Hagueforts Zwillingstürme mit leuchtenden weißen und silbernen Bannern ausgestattet, welche das Wappen seines Hauses tru gen, und die hohen Laternenpfähle, die gewissenhaft im Hof und an den Wegen verteilt waren, mit langen Spiralen aus weißen Bändern umwickelt, die wie stille Maibäume in der steifen Brise flatterten. Es sah bezaubernd aus.

Die fernen Felder waren für die Schlittenrennen und andere winterliche Wettbewerbe vorbereitet, und man hatte große Zelte für die Herdfeuer und die unzähligen Besucher von außerhalb der Provinz errichtet. Banner in allen Farben des Regenbogens schmückten die welligen Felder bis hin zu dem jüngst errichteten Wall, von dem Stephen hoffte, er werde sein Land und seine Untertanen schützen. Tristan sah, dass die gewaltige Grube schon mit trockenem Unterholz für das feierliche Feuer angefüllt war, das am letzten Abend stattfinden würde ein Schauspiel, für das der Gastgeber berühmt war.

Der frische Winterwind biss ihm in die Nase, und er roch brennendes Nussbaumholz. Dieser Geruch erinnerte ihn an seine Kindheit und die Feste, die Stephens Vater gegeben hatte. Als Jungen hatten er, sein Vetter und ihre Freunde Andrew Canderre, die Gebrüder Baldasarre und der schon seit zwanzig Jahren tote Gwydion von Manosse sowie eine Menge anderer jedes Jahr der Wintersonnenwende mit einer Erregung entgegengefiebert, die größer gewesen war als bei jedem anderen Anlass.

In ihrer Süße schmerzlicher als alle anderen Erinnerungen waren die an Prudence, seine Freundin aus Kindertagen, seine erste Geliebte, ein lachendes Bauernmädchen mit rotblonden Locken und einem großartigen Sinn für Humor, seine Liebste, sein Gewissen. In seinen Jugendtagen war sie ein Teil des Wolfsrudels gewesen, wie er und seine Freunde genannt wurden, und hatte mit ihnen an Schlittenrennen und Tauziehen, an Pastetenwettessen und Schneeballschlachten teilgenommen. Sie war genauso gut darin gewesen wie die anderen. Besser. Hatte seinen Freunden das Herz gestohlen. Prudence. Wie er sie damals geliebt hatte, mit der Unschuld eines Jungen, die zu etwas Größerem heranwuchs.

Tristan schnürte es die Kehle zu, als er und Madeleine durch Hagueforts Haupteingang schritten. Es war der Ort, an dem Prudence in der Nacht auf ihn gewartet hatte, bis er aus den Gästezimmern seiner Familie in jenem Teil der Festung, der den Adligen vorbehalten war, hatte forthuschen können. Er hatte sie vom Balkon aus gesehen, und ihre rotblonden Locken hatten im Fackelschein geleuchtet; sie hatte auf ihn gewartet, auf ihn allein. Selbst Jahre später, als die Herzogswürde auf ihn übergegangen und sie seine Dienerin geworden war, hatte sie ihn noch im selben Hof erwartet, heimlich seiner geharrt und ausgelassen gekichert, wenn er schließlich zu ihr geschlichen war, mit ihr ein Versteck aufgesucht und unter unzähligen betrunkenen Zechern geschlafen hatte und sie zusammen ihre Jugend, ihre Verbindung, ihr Leben gefeiert hatten.

Wie sehr er sie immer noch liebte! Ihr grausamer Tod durch die Bolg hatte ihm jede Freude geraubt eine Freude, die immer zu Prudence gehört und die er nur von ihr empfangen hatte, was ihm nie bewusst gewesen war. Ohne sie waren seine Tage voller Melancholie und Schuldgefühle, da er ihren Tod seiner eigenen Selbstsucht zuschrieb. Er hatte sie in die Klauen der Ungeheuer geschickt, und sie war nie zurückgekehrt.

Keiner seiner Freunde und Mit-Herzöge, nicht einmal Stephen, glaubte, dass ihr Tod das Werk der Bolg war, wie sehr er sie auch davon zu überzeugen versucht hatte. Aber das wird bald vorbei sein, dachte er verbittert. Bald würden die Streitgespräche beendet sein.

»Tristan?«

Er blinzelte und zwang sich zu einem kleinen Lächeln, als er hinunter auf Madeleines unangenehmes kantiges Gesicht schaute.

»Ja, meine Liebste?«

Seine Verlobte seufzte verärgert. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört, nicht wahr?«

Rein mechanisch hob Tristan ihre behandschuhte Hand an die Lippen und küsste sie.

»Meine Liebe, mir entgeht keines deiner Worte.«

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Auch wenn die gesamte Elite und die Einflussreichen von Roland Stephens Fest dazu benutzten, sich der Öffentlichkeit zu zeigen und geheime Geschäfte abzuschließen, war es doch das einfache Volk, für das dieses Fest in Wirklichkeit stattfand. Im größten Teil Rolands war der Winter eine harte und entbehrungsreiche Zeit, eine Zeit, in welcher sich der durchschnittliche Bürger in sein Haus zurückzog, nachdem er es so gut wie möglich abgedichtet hatte, und darum kämpfte, die bitteren Monate zu überleben. Der Karneval verschaffte ihm die Gelegenheit, die Jahreszeit zu feiern, bevor der Winter Grund zum Fluchen gab, wie es jedes Jahr der Fall war.

Stephen zählte auf das zu dieser Zeit übliche Wetter und richtete wie jedes Jahr den Karneval in den mildesten Tagen des frühen Winters aus. Mit einer einzigen Ausnahme in zwanzig Jahren hatte er damit Erfolg gehabt. Seine Freundschaft mit dem Fürbitter der Filiden, des Ordens, der die Natur anbetete, verschaffte ihm Zugang zu ihren Informationen über heraufziehende Stürme, Tauwetter, gefrierende Winde und Schneefall. Ihre beeindruckende Gabe, das Wetter vorherzusagen, garantierte ein erfolgreiches Fest. Es wurde allgemein angenommen, dass der Orden der Filiden das Wetter nicht nur beobachtete und vorhersagte, sondern es auch beeinflussen konnte, was besonders auf den Fürbitter zutraf. Wenn das wirklich stimmte, waren sie angesichts des beständig guten Wetters beim Sonnenwendfest Stephen gegenüber sehr freigebig.

Die ersten beiden Tage der Feierlichkeiten waren von Prunk gekennzeichnet; es gab Spiele und Rennen, Wettkämpfe und Darbietungen, Tanz und Lustbarkeiten, die von Überfluss an gutem Essen und Trinken befeuert wurden.

Der dritte und letzte Tag war den religiösen Bräuchen der Wintersonnenwende gewidmet; die Zeremonien wurden nach beiden Regeln abgehalten. Hier setzte sich das religiöse Posieren fort, Filide gegen Patrizianer, sehr subtil und schlimmer denn je, weil der Patriarch seinem Ende entgegensah. In den Jahren, in denen der Fürbitter einen Sturm oder schlechtes Wetter vor der Sonnenwende vorhersagte, dem besseres 167

Wetter folgte, wurde die Reihenfolge des Festes umgekehrt, die religiösen Bräuche zuerst begangen und an den beiden folgenden Tagen das Fest gefeiert. Wenn das geschah, war der Karneval regelmäßig verdorben; daher war Stephen erfreut, dass das Wetter in diesem Jahr mitspielte und es zuließ, dass die Festlichkeiten zuerst kamen.

Nun saß er zusammen mit Tristan, Madeleine und den religiösen Führern, die sich ausschließlich miteinander unterhielten, auf der Paradetribüne, schaute den verschiedenen Rennen und Spielen zu und nahm manchmal selbst an einem teil.

Sein Sohn Gwydion Navarne hatte sich als sehr geschickt bei den Schneeschlangen erwiesen, einem Wettbewerb, bei dem lange, biegsame Stangen durch Eiskanäle im Schnee gesteckt werden mussten. Stephen hatte das königliche Protokoll vergessen, war erregt am Rande des Kampfplatzes herumgesprungen, hatte Gwydion im Halbfinale angefeuert und ihn getröstet, als er am Ende doch verloren hatte. Eigentlich hatte der Junge keinen Trost benötigt; bei der Ausrufung des Gewinners, eines rothaarigen Bauernsohnes namens Scoutin, hatte er gelächelt und ihm die Hand zur Gratulation entgegengestreckt.

Als die Jungen einander die Hände schüttelten, musste Stephen Tränen des Stolzes und Verlustes zurückhalten. Sie sehen aus wie Gwydion von Manosse und ich, dachte er und erinnerte sich seines Freundes aus der Kindheit, des einzigen Sohnes von Llauron. Er warf einen Blick zurück auf den Fürbitter. Dem Nicken und Lächeln nach zu urteilen, das er Stephen schenkte, war ihm soeben derselbe Gedanke gekommen.

Nun wartete er gespannt auf das Ergebnis von Melisandes Rennen, einem witzigen Wettkampf, in dem die Teilnehmer kleine Schlitten mit je einem fetten Schaf darauf an Stricken um die Hüfte voranzogen. Es war notwendig, dass sowohl Schaf als auch Kind gemeinsam über die Ziellinie kamen, doch an diesem Nachmittag hatten die Schafe andere Pläne. Mellys fröhliches Kichern war unüberhörbar; es trieb in der dampfenden Luft über ihn hinweg, als sie in den Schnee fiel und dann wieder auf den Start zulief, weil sie einem blökenden Mutterschaf nachjagen musste.

Widerstrebend ließ sie sich von ihrem Vater in den Arm nehmen und wurde in eine grobe Wolldecke gewickelt, die Rosella, die Gouvernante, ihm gegeben hatte.

»Vater, bitte! Mir ist nicht kalt, und wir werden die Schneesüßigkeiten verpassen.«

»Die Schneesüßigkeiten?«, fragte Tristan lächelnd. »Das bringt Erinnerungen zurück, Navarne.« Madeleine hob eine Augenbraue, und der Herrscher von Roland wandte sich ihr zu. »Du musst etwas davon probieren, Liebes, es ist wunderbar. Die Köche bringen gewaltige Fässer mit Karamellzucker zum Kochen und schütten ihn in Linien in den Schnee, wo er • in der Kälte hart wird; dann tunken sie ihn in Schokolade und Mandelkrem. Es kommt immer zu ziemlichen Tumulten, weil jeder den ersten Schub haben will.«

»In den Schnee?«, fragte Madeleine entsetzt.

»Nicht auf den Boden«, beeilte sich Stephen zu sagen und zupfte an Melisandes Haar, damit das Erstaunen über Madeleines Reaktion aus ihrem Gesicht verschwand. »Es wird sauberer Schnee gesammelt und auf großen Kuchenbrettern ausgebreitet.«

»Es klingt trotzdem ekelhaft«, bekundete Madeleine.

Stephen erhob sich, als Tristan in eine andere Richtung schaute und seufzte.

»Komm mit, Melly. Wenn wir uns beeilen, bekommen wir vielleicht etwas vom ersten Schub ab.« Er versuchte nicht in Tristans Gesicht zu sehen, doch es entging ihm nicht, dass sein Vetter wie ein Mann aussah, der die ganze Welt verloren hatte.

An diesem Fest der längsten Nacht des Jahres brach die Dämmerung früh, aber nicht zu früh herein. Als das Licht vom Himmel schwand, begaben sich die Feiernden und Zecher zum festlichen Mahl, das selbst ein Ereignis war. Rosella stand im Schatten des Kochzeltes und beobachtete die Feiern mit Freude. Melisande und Gwydion hüpften um ihren Vater in der Nähe des Freiluftgrills herum, in dem vier Ochsen über den glühenden Kohlen brieten, und erfüllten die frostige Luft mit fröhlichem Gelächter und freudigen Rufen. So lange sich die Kinder in seiner Obhut befanden, hatte der Herzog Rosella von ihren Pflichten entbunden und ihr vorgeschlagen, sie solle sich auf dem rauschenden Fest umschauen. Sie hatte gehorcht. Verborgen stand sie da und betrachtete das, was ihr Herz am meisten erfreute.

Seit jenem Tag vor vier Jahren, als sie im Alter von noch nicht zwanzig Jahren nach Haguefort geschickt worden war, um für die Kinder des kürzlich verwitweten Herzogs zu sorgen, war Rosella in Stephen verliebt. Im Gegensatz zu Baron MacAlwaen, zu dem ihr Vater sie ursprünglich hatte schicken wollen, war Stephen freundlich und rücksichtsvoll und behandelte sie nicht wie eine Bedienstete, sondern wie ein Mitglied seiner Familie. Zuerst war er zurückhaltend freundlich gewesen; Lydia Navarne, seine junge Frau, war vor wenigen Wochen brutal ermordet worden, und Stephen war lange Wochen wie benommen umhergelaufen und hatte sich um die Angelegenheiten seines Herzogtums und seiner Familie mit der Gründlichkeit eines Menschen gekümmert, dessen Verstand ganz bei der Sache ist, aber dessen Seele sich anderswo befindet.

Allmählich war der Herzog lebendiger geworden, als ob er aus einem langen Schlaf aufwachte. Hauptsächlich spornte ihn die Notwendigkeit an, seinen mutterlosen Kindern ein guter Vater zu sein. Rosellas Zuneigung zu ihm wuchs, als sie beobachtete, wie liebevoll er mit Meslisande und Gwydion umging, die sie wie ihre eigenen Kinder liebte. Ihre Tagträume waren erfüllt von den romantischen, dummen Unmöglichkeiten eines Klassenkampfes, von dem Überwinden des klaffenden Abgrunds zwischen Herr und Dienerin, von einer Brücke zwischen ihrer beider Leben. Die Tatsache, dass Stephen nichts von ihren Gefühlen bemerkte, gab ihr die Freiheit zum Träumen, ohne dabei Schuldgefühle zu entwickeln, die eine andere Wirklichkeit mit sich bringen könnten.


»Frohe Sonnenwende, mein Kind.«

Rosella zuckte zusammen und drückte sich in das flatternde Tuch des Kochzeltes, als sie die tiefe Stimme hörte. Der schwere Geruch von Braten stieg ihr in die Nase zusammen mit einer säuerlichen Andeutung brennenden Fleisches.

»Frohe Sonnenwende, Euer Gnaden.« Das Herz schlug ihr heftig gegen die Rippen. Sie hatte nicht gesehen, wie der religiöse Führer aus den Schatten der Feuergrube getreten war. Es war beinahe so, als wäre er ein Teil der tanzenden Flammen gewesen, bevor er sie angesprochen hatte.

Wegen Stephens engen Beziehungen zu den religiösen Führern beider Glaubensrichtungen, des patriarchalischen Ordens und des Ordens der Filiden, war die Gegenwart heiliger Männer in der Festung nichts Ungewöhnliches. Rosella war als Anhängerin des Patriarchen erzogen worden, fühlte sich aber in der Gesellschaft beider Arten von Geistlichen unwohl. Der heilige Mann lächelte und streckte die Hand aus. Als hätte ihre Hand einen eigenen Willen, spürte sie, wie sich die Innenfläche nach oben drehte und die Finger sich langsam öffneten. Sie konnte den Blick nicht von den funkelnden Augen abwenden, in denen sich die Flammen des Kochfeuers widerspiegelten.

Ein kleiner Beutel aus weichem Stoff fiel auf ihre offene Handfläche.

»Ich vermute, du weißt, was du damit tun sollst, mein Kind.«

Rosella wusste es nicht, aber ihr Mund antwortete für sie.

»Ja, Euer Gnaden.«

Die Augen des heiligen Mannes glänzten rot im Feuerschein. »Gut, gut. Möge dein Winter gesegnet und gesund sein; möge der Frühling dir dasselbe bescheren.«

»Vielen Dank, Euer Gnaden.«

»Rosella?«

Rosella sah hinunter auf Melisande, die sie ungeduldig am Rock zupfte. Sie schaute auf die bratenden Ochsen, während der Herzog von Navarne und sein Sohn Rosella fragend ansahen.

»Komm, Rosella, komm! Der Ochse wird gleich angeschnitten, und Vater hat dich eingeladen, mit uns zu essen!«

Rosella nickte benommen und schaute sich nach der Stelle um, wo der heilige Mann gestanden hatte, aber er war verschwunden.

Die Lagerfeuer knisterten in der Dunkelheit und schickten Ranken aus Rauch himmelwärts. Heisere, trunkene Gesänge und fröhliches Lachen hallten über die frostigen Felder von Haguefort. Der wilde und chaotische Festlärm kratzte wie ein Nagel über Tristans Trommelfell. Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück gegen die kalte Wand der dunklen Veranda, auf der er saß, und nahm einen weiteren Schluck aus der besonderen Portweinflasche, die Cedric Canderre ihm nach dem Sanges Wettstreit an jenem Abend zugesteckt hatte.

Früher waren die orgiastischen Laute des Winterfestes Musik in seinen Ohren gewesen. Ein Gefühl schierer Unbeherrschtheit hatte während der Sonnenwende in der Luft gelegen, eine ungestüme, rastlose Erregung, die sein Blut aufgewühlt hatte. Da nun Prudence den Nervenkitzel nicht mehr mit ihm erlebte, war alle Leidenschaft zur bloßen Kakophonie geworden. Er trank den Portwein in großen Schlucken, um den Lärm auszublenden oder ihn wenigstens zu einem dumpfen Röhren herabzudrücken.

Noch stärker versuchte er, die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Tristan war es lange Zeit nicht gelungen, dem Flüstern zu entkommen oder denjenigen auszumachen, der die Worte zu ihm gesprochen hatte.

Er erinnerte sich schwach an den ersten Tag, an dem er sie gehört hatte. Es war nach einem schrecklichen Treffen im Sommer gewesen, zu dem er alle orlandischen Geistlichen und Adligen in dem fruchtlosen Versuch eingeladen hatte, sie von der Zusammenlegung ihrer Heere zu überzeugen und an den Bolg Rache zu nehmen, angeblich wegen ihres Angriffs auf seine Wachen, in Wahrheit aber als Vergeltung für Prudences grausamen Tod. Seine Mitherrscher hatten ihn für verrückt gehalten und sich einmütig geweigert, ihn zu unterstützen. Unter ihnen hatte sich sogar sein Vetter Stephen Navarne befunden, der ihm so nahe wie ein Bruder stand.

Es war ihm so vorgekommen, dass nach diesem Treffen jemand versucht hatte, ihn zu trösten. Stephen vielleicht? Nein, dachte er, während er benommen den Kopf schüttelte. Nicht Stephen. Ein älterer Mann mit freundlichen Augen, die an den Rändern ein wenig zu brennen schienen. Ein heiliger Mann, dachte er, aber ob er aus Sepulvarta oder Gwynwald kam, wusste Tristan nicht zu sagen. Er versuchte sich das Bild des Mannes ins Gedächtnis zu rufen, den Raum um die körperlosen Augen auszufüllen, doch sein Geist wollte ihm nicht gehorchen. Es blieb ihm nichts anderes als die Worte, die andauernd wiederholt wurden, sobald er sich in der Stille verlor.

Schließlich könntest du derjenige sein.

Plötzlich war es Tristan kalt. Er erinnerte sich an dasselbe Gefühl, als er die Worte zum ersten Mal gehört hatte an eine Kälte, welche die Wärme in den Augen des heiligen Mannes Lügen gestraft hatte. Er zog seinen Mantel enger um sich, rutschte auf der eisigen Steinbank herum und versuchte, die kalten Beine zu wärmen.

Derjenige wofür?, hatte er gefragt.

Der Eine, der Roland wieder Frieden und Sicherheit bringt. Der Eine, der den Mut hat, das Chaos aufzuhalten, welches in der Adelsstruktur dieses Landes grassiert, und den Thron zu besteigen. Wenn du die Herrschaft über ganz Roland hättest, nicht nur über Bethania, dann würdest du sämtliche Heere kontrollieren, die du heute vergeblich zusammenzubringen versucht hast. Deine Kameraden, die Herzöge, können Nein zum Prinzregenten sagen, doch dem König könnten sie sich nicht widersetzen. Deine Linie ist so würdig wie jede andere, Tristan, und sogar würdiger als die meisten.

Nun brannte Säure in seinem Hals, wie damals; es war der bittere Geschmack der Erniedrigung, der Abweisung. Tristan nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

Ich bin nicht derjenige, den Ihr überzeugen müsst, Euer Gnaden, hatte er mürrisch erwidert.

Falls das Fiasko heute Morgen nicht schon Beweis genug war, dann lasst mich Euch versichern, dass meine Mitregenten die zukünftigen Ereignisse nicht so klar erkennen können wie Ihr.

Die Augen hatten gelächelt. Überlass das ruhig mir. Deine Zeit wird kommen. Sorge nur dafür, dass du bereit bist, wenn es so weit ist. Und noch etwas.

Ja?

Du wirst über das nachdenken, was ich dir gesagt habe, ja?

Tristan erinnerte sich, dass er wie betäubt genickt hatte. Er hatte sein Wort gehalten; die Stimme war endlos in seinem Kopf und in seinen Träumen erklungen, sobald er allein oder in der Stille war.

Dem König können sie sich nicht widersetzen.

Tristan nahm einen weiteren tiefen Schluck und wischte ein paar vergossene Tropfen mit dem groben Ärmel seines Mantels ab.

In der Ferne lachte eine Frau; Tristan schreckte benommen aus seinem trunkenen Tagtraum hoch. Er sah, wie auf der anderen Seite des Hofes ein Liebespaar von Säule zu Säule lief; sie spielten Verstecken, lachten sanft, verrückt, brachten einander in angeheiterter Freude wieder zum Schweigen. Das blonde Haar der Frau leuchtete im Fackelschein kurz auf und verschwand dann in den Schatten.

Wie weichendes Fieber verstummte die Stimme, als Tristan die Gedanken auf seine andere Obsession richtete. Er war bitter enttäuscht gewesen, als Stephen ihm mitgeteilt hatte, dass keiner der eingeladenen Gäste aus den Bolgländern gekommen war. Die einzige Ablenkung von der qualvollen Aussicht darauf, mit Madeleine das ganze Fest verbringen zu müssen, hatte für ihn die Hoffnung geboten, dass Rhapsody auch hier sein würde. Hitze durchpulste ihn, verkrallte sich in seinen Eingeweiden und breitete sich bis zu den schwitzenden Handflächen aus, als er an sie dachte. Er wurde beinahe krank vor Enttäuschung über ihr Fortbleiben.

Wann immer er die Gedanken auf sie richtete, verstummte die Stimme. Es war beinahe so, als hätte die Sängerin als Erste seinen Geist in Besitz genommen, ihm ihren Stempel aufgedrückt und ihn damit als ihr Eigentum gebrandmarkt. Der spätere Bann, mit dem er belegt worden war und der ihn dazu trieb, andauernd die leisen Worte zu hören, war nicht so stark wie sein Verlangen nach Rhapsody.

Langsam erhob sich Tristan von der Steinbank und trat schwankend auf die Veranda. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen und mit ihr die frühen Festlichkeiten des zweiten Karnevalstages. Er ließ die leere Flasche auf der Bank zurück und eilte aus der kalten Nachtluft in die rauchige Wärme von Stephens Festung und zu seiner Schlafkammer. Als er ging, umheulte ihn der Wind.

Tief in der Nacht, als alle Feiernden still waren, schlüpften zwei umhüllte Gestalten getrennt voneinander hinaus auf die Felder. Die ältere trug eine Kapuze und wartete am Rande der Schatten, die von den ersterbenden Feuern geworfen wurden. Der andere Mann, der ebenfalls eine Kapuze trug, wurde zu einem schnellen Schritt gezwungen und mit Macht zu dem Treffen gezogen zu einem Treffen zweier heiliger Männer in einer heiligen Nacht zu einem unheiligen Zweck.

Wolken trieben über ihnen dahin und vertieften die Finsternis, in die weder das Mondlicht noch der Feuerschein drangen. Am Rande von Stephen Navarnes Reich warf das Licht ferner Feuer lange Schatten über das verschneite Feld und erhellte die Wälder. Die Augen des ersten Geistlichen, des Wartenden, spiegelten ein ähnliches Licht wider, mit einem Hauch von Rot an den Rändern. Er wartete geduldig, während der andere Mann nach Luft rang.

»Wie ich sehe, haben meine Worte in Euch geklungen. Vielen Dank für dieses Treffen, Euer Gnaden.«

Der andere Mann nickte.

»Bisher habt Ihr nicht verstanden, um was Ihr gebeten werdet. Ihr seid lediglich einem Zwang gefolgt, hmm?«

Das Flüstern des zweiten Mannes war rau. »Ja.«

»Aber jetzt, jetzt versteht Ihr allmählich, nicht wahr, Euer Gnaden? Seid Ihr bereit, Euer Schicksal selbst zu bestimmen? Ich bin so froh, dass Ihr Euch entschieden habt, mein Angebot anzunehmen. Habt Ihr es aus freiem Willen getan? Versteht Ihr, um was ich bitte und was ich Euch dafür biete?«

»Ich glaube, ja, Euer Gnaden.« Die Worte klangen heiser.

»Ich will Euch nicht beleidigen, ich will nur sicherstellen, dass Ihr Euch der Macht klar seid, die auf Euch wartet in dieser Welt und im Nachleben.«

»Ja.« Die Stimme war zu einem kaum hörbaren Flüstern herabgesunken.

Die Erwiderung war ebenfalls nicht mehr als ein Wispern. »Unangezweifelte Autorität. Unverwundbarkeit. Und endloses Leben.«

»Ja.«

»Gut, gut.« In der Dunkelheit glitzerte die kleine Klinge.

Der zweite Mann schluckte schwer und zog den Ärmel seiner Robe hoch. Seine Augen leuchteten so hell wie das Messer.

»Nur ein einziger Tropfen, um den Handel zu besiegeln; dann ist Eure Stellung als Oberhaupt des Ordens gesichert.«

Der zweite Mann nickte. Er zitterte, aber nicht wegen der Kälte. Die dünne, nadelähnliche Klinge durchbohrte rasch die Haut an seinem Unterarm und verursachte dabei keine Schmerzen. Ein dunkelroter Blutstropfen trat hervor, zuerst winzig, dann quoll er zur Größe einer Regenperle auf.

Ein graues Haupt beugte sich über den Arm. Er erbebte, als der erste Mann seine warmen und gierigen Lippen gegen das Fleisch des Unterarms drückte und dann heftig den Blutstropfen aufsaugte. Er verspürte, wie ihn eine Welle durchspülte und ein Feuerblitz durchzuckte, wie bei einem sexuellen Höhepunkt, den die Regeln seines Ordens verboten.

In seiner Magengrube hatte es die ganze Nacht über gebrannt. Die fressende Säure verschwand schließlich auf wundersame Weise und ließ ihn benommen und schwindlig vor Erleichterung zurück. Das Gefühl, das ihm den Magen umgedreht hatte, trat durch den Schädel aus. Nun fühlte er sich erregt und seltsam lebendig. Er erste Mann lächelte warmherzig.

»Willkommen, mein Sohn. Willkommen im wahren Glauben. Sobald wir alle Hindernisse ausgeräumt haben, kannst du tun und lassen, was du willst.«

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