22

Der Kessel, Ylorc

Die Nacht war schon hereingebrochen, als Achmed in den Kessel zurückkehrte. Die Lampen waren angezündet und erfüllten die hellen Hallen mit dichtem Rauch und dem ranzigen Gestank brennenden Fettes, das rasch in seine empfindlichen Nasenlöcher und Nebenhöhlen eindrang. Es machte seine dunkle Stimmung noch dunkler.

Auch die Leuchter in der Großen Halle waren entzündet worden; die Renovierungsarbeiten waren beinahe abgeschlossen. Trotz seiner Wut blieb er stehen und nahm den Ehrfurcht gebietenden Anblick der polierten Marmorsäulen sowie der frisch restaurierten Symbole des Sterns Seren, der Erde, des Mondes und der Sonne in sich auf, die mit großer Kunstfertigkeit in den Boden eingelegt worden waren. Die gewölbte Kuppel über ihm bestand aus einem dunklen Himmelblau und war besetzt mit winzigen Kristallen, die das Licht einer Spiegelvorrichtung im Mittelpunkt des Bodens reflektierten, sodass es wie das von Sternen übersäte Firmament aussah.

Der Schein aus der Feuergrube im Boden, das diese falschen Sterne erhellte, war das einzige Licht in dem gewaltigen Raum und beließ viele Ecken im Dunkeln. Achmed trat in den Schatten und atmete gleichmäßig, um seinen Zorn zu besänftigen.

Grunthor saß auf einem der Marmorthrone und hatte das gewaltige Bein über die Steinlehne geschwungen. Er sang eines seiner Lieblingslieder und war zweifellos befeuert vom Inhalt einer großen Karaffe, die auf dem Thron neben ihm einen Ehrenplatz gefunden hatte.

Wenn der Lärm der heißen Schlacht

Schon lange verklungen in der Nacht

Und der Eingeweide und des Blutes süßer Duft

Verfliegt in Sturmzerwühlter Luft

Grüß, mein Freund, mich einmal mehr

Denn ich streune nicht länger umher.

Ich zögere nicht mehr . Und überlasse den Aasfressern Den Glanz eines guten Krieges wenn das Morden vorbei ist Was soll’s? Wo bleibt der Spaß? Oh, ich streune nicht mehr umher.

An diesem bittersüßen Tag

Wenn keine Feinde mehr zu schlachten sind

Unser Leben als Krieger nur noch Langeweile ist,

Bauen wir uns ein paar Throne

Aus ihren Schädeln und Knochen

Und streunen nicht mehr umher.

Die Wut explodierte hinter Achmeds Augen. Aufgebracht schritt er den langen Mittelgang entlang bis zu den Thronen.

Als Grunthor zum nächsten Lied ansetzte, hörte er Achmed kommen. Er verstummte, nahm rasch Haltung an und brach in ein breites Grinsen aus, das sofort wieder verschwand, als der König vor dem Thron stehen blieb und das Bündel mit den Waffen auf den Boden warf. Stahl und Metall klapperten und schepperten heftig.

Grunthor sah ihn erstaunt an. »Was ist das denn?«, fragte er.

Achmed verschränkte die Arme.

»Als ich dich gebeten habe, über den Thron zu wachen, hatte ich damit nicht gemeint, dass du ihn mit deinem beträchtlichen Hintern anwärmst, während jemand das Königreich hinter meinem Rücken verscherbelt.«

Grunthor stand in militärischer Haltung und wurde nun sogar noch steifer. Die Muskeln in seinen baumstammdicken Armen zuckten vor Wut, und sein Gesicht wurde zu einer steinernen Maske blinden Zorns. Achmed winkte leidenschaftslos.

»Steh bequem, Sergeant. Ich sollte dich nicht in deiner Eigenschaft als mein Oberbefehlshaber schelten, sondern dich eher als Freund anknurren.«

Grunthor nahm eine bequeme Paradehaltung an; sein Gesicht war jetzt eine unerschütterliche Maske, in der zwei mit Feuer gefüllte Augen brannten.

»Was ist das denn?«, wiederholte er gefasst.

»Ein geheimes Waffenlager, das ich zwischen den Leichnamen einer Kolonne sorboldischer Soldaten gefunden habe«, sagte Achmed und schob die Waffen mit dem Stiefel von sich.

»Glücklicherweise sind es aussortierte Stücke. Die Sorbolder sind so hirnlos, dass sie die Fehler und das mangelnde Gleichgewicht nicht einmal erkennen. Aber sie besaßen sie. Hast du eine Idee, wie das hat geschehen können?«

»Nein«, antwortete der Sergeant steif.

Achmed sah Grunthor einen Moment lang an und drehte ihm dann den Rücken zu. Es war Zeit für das alte Ritual.

»Erlaubnis, frei zu sprechen?«, fragte Grunthor mechanisch.

»Gewährt.«

»Ich biete meinen Rücktritt an.«

»Abgelehnt.«

»Erlaubnis, frei zu sprechen?«, wiederholte der Sergeant.

»Gewährt.«

Er lauschte, noch mit dem Rücken zu Grunthor, auf das Lockern der militärischen Disziplin und das gewaltige Luftholen, das immer dann einsetzte, wenn Grunthor von einem treuen Soldaten zu einem wütenden Gleichgestellten wurde. Achmed schlang die Arme um sich, als der gewaltige Luftstrom durch Grunthors große, platte Nase drang.

Der Sergeant-Major warf den Kopf zurück und brüllte aus vollem Hals. Der Schrei gellte durch die große Halle; die Säulen erzitterten.

Einen Augenblick später hörte Achmed hinter sich das Reißen eines Teppichs und das Knacken eiserner Bolzen. Einer der alten Throne Anwyns und Gwylliams, geschaffen aus massivem Marmor und schwerer als drei Männer in voller Rüstung, segelte über Achmed hinweg durch die Luft, prallte von dem polierten Steinboden ab, rutschte über das Bild des Sterns und kam mit einem gewaltigen Donnern auf der Seite liegend zum Halt. Stille durchzitterte die Große Halle.

Achmed drehte sich wieder zu Grunthor.

»Fühlst du dich nun besser?«

Der Sergeant wischte sich über die graubraune Stirn. »Ja, ein bisschen.«

»Gut. Jetzt will ich wissen, wie du darüber denkst.«

»Wenn ich rausfinde, wer den Eid gebrochen hat, ramm ich ihm eine von den Waffen ins Auge, röst ihn überm Feuer und setz ihn den Truppen fürs Festmahl im Kartoffelbett und mit ’nem Apfel im Hintern vor.«

»Rhapsody sagt immer, man sollte besondere Ereignisse feiern, indem man Freunde zum Essen einlädt. Sonst noch etwas?«

Der Bolg-Riese nickte. »Es muss jemand aus der dritten Wache sein; dann wird der Ausschluss vernichtet.«

»Mehr als wahrscheinlich. Aber in der dritten Schicht arbeiten zweitausend Männer, und es wird ungeheuer lange dauern, die Verantwortlichen zu finden. Stimmt’s?«

»Ja, aber wir müssen die Verräter kriegen.«

»Natürlich, doch es gibt noch andere, drängendere Sorgen. In den Monaten, während ich fort war, ist der größte Teil unserer Geheimwaffen in die Hände eines benachbarten Heeres gefallen. Wenn Sorbold die Bühne für den Angriff auf Ylorc sein sollte, haben sie weitaus mehr Kenntnisse über unsere Arbeiten, als mir lieb ist. Wir müssen rasch reagieren.«

Grunthor nickte. »Steh ich noch unter der Erlaubnis, frei zu sprechen?«

Achmed schaute über die Schulter auf Gwylliams Thron, der auf der Seite lag. »Ja.«

»Dann sag ich, wenn’s schon sein muss, dann sei’s drum.«

»Etwas genauer, bitte.«

Grunthor lief auf und ab und konzentrierte sich. »Wenn wir in den Krieg ziehn, ziehn wir halt in den Krieg. Wir müssen jeden tauglichen Erwachsenen und Jugendlichen einziehen. Die Schule schließen und den Bälgern beibringen, Wasser zu holen, Verbände zu rollen, Rationen hochzuziehen. Jedes Dorf muss gemustert werden, jede Enklave, alle Frauen und Männer, jedermann.« Er hielt lange genug an, um Achmeds Blick zu erwidern. »Der Gräfin wird’s nich gefallen.«

»Ist das für dich von Bedeutung?«

»Nich im Geringsten.«

»Gut. Was sonst noch?«

»Dreierschicht in der Schmiede. Die Bergwacht soll patrouillieren und sich um den Abfallhaufen und das Inventar kümmern. Wir sollten die Spezialsachen zurückstellen und uns auf Waffen mit großer Reichweite konzentrieren und auf schwere Geschosse für die Katapulte. Zapf die Anthrazit-Adern noch tiefer an, bau die Schieferkohle in Tag und Nachtschichten ab. Koch ’nen ganzen Ozean an Pech. Nimm uns das menschliche Mäntelchen ab und lass uns wieder Ungeheuer sein. Wenn wir in den Krieg ziehn, dann machen wir was draus, damit sie noch in späteren Jahrhunderten Totenlieder komponieren können. Ich will, dass mein Name mit trauriger Musik vertont und von den Witwen bis nach Avonderre gesungen wird.«

Ein leises Lächeln stahl sich auf Achmeds Gesicht. »Wäre das nicht wundervoll? In Ordnung, Sergeant, an die Arbeit. Mach den Berg unbezwingbar. Wir haben von Anfang an gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Wer immer der verdammte Dämon ist, wenn er Ylorc und das Schlafende Kind haben will, muss er erst einmal an mir vorbeikommen. Aber bevor er zu mir durchdringt, wird der Berg auf jeden niederfallen, der ihn begleitet.«

Grunthor nickte, salutierte und schritt aus dem Raum. Seine Wut hatte sich in etwas noch Tödlicheres verwandelt in entschlossene Rache.

Die Stimme der Großmutter hallte in seinen Ohren. Du musst Jäger und Wächter sein. Das ist so vorausgesagt.

Er zog sich das Kissen über den Kopf und sprach die Erwiderung, die er damals gegeben hatte.

So eine Prophezeiung kann mich mal.

Eine noch ältere Stimme, die von Pater Haiphasion, dem Lehrer aus seiner Jugendzeit auf der anderen Seite der Welt, an einem Ort, der nun unter den Wellen einer ruhelosen See schlief.

Der, welcher jagt, wird auch beschützen.

Achmed blinzelte in der Finsternis.

Warst du derjenige, der die Prophezeiung in den Wind gesprochen hat?, fragte er benommen und stumm. Vor all diesen Jahren warst du das, Pater?

Nichts außer der Dunkelheit antwortete ihm.

Vor Jahrhunderten hatte sich Achmed entschlossen, die Rolle des Beschützers zu meiden. Während seiner langen, seltsamen Existenz hatte er herausgefunden, dass Liebe, Leben und Loyalität vergänglich waren. Daher bedeutete es unfehlbar Scheitern und Ruin, wenn man etwas schützen wollte, auch wenn es sich dabei um ein ewig schlafendes Kind oder sogar einen Berg handelte.

Nun lag er auf seinem Seidenbezogenen Bett, dem einzigen wahren Luxus, den er sich erlaubte. Die schlüpfrige Glätte der Laken besänftigte das ewige Jucken, das gereizte Brennen auf seiner Haut, und zusammen mit den dicken Basaltmauern hielt sie die Schwingungen der Welt im Zaum oder wenigstens hatte sie das früher getan. Nun aber, da die Schmieden bereits heftig in schnellerem Rhythmus schlugen und andauernd Schritte vor seiner Tür laut wurden, war bei all den Vorbereitungen des Krieges kein Frieden mehr denkbar.

Achmed stand langsam auf und schlüpfte in seine Kleider. Er wartete in der Tür seines Schlafzimmers, bis die schweren Schritte erstorben waren. Dann lauschte er dem nahen Lärm der Kriegsmaschinerie, die in dem wohlgeordneten Berg erwachte. Er musste nicht erst die befehlende Stimme seines Sergeant-Major hören, um die Ergebnisse zu spüren. Die sanften Kräuselungen der Luft, die regelmäßig die empfindsamen Nerven seines Hautgewebes berührten, waren bereits durch dicht aufeinander folgende Schläge ersetzt. Wilde Energie zeigte das Herannahen des Kampfes an. Er seufzte tief und spürte zum ersten Mal, seit er zu diesem dunklen und nicht gerade stillen Ort gekommen war, das Werk der Zeit an seinem Körper und Geist.

Er drückte die Türen des schlichten Zedernschranks am Fußende seines Bettes auf und trat in einen Geheimgang. Die Ränder der Laken flatterten kurz durch den Staub des Tunnels unter dem Bett; dann schloss er die Türen hinter sich.

Er erlaubte sich einen Seufzer, als er durch den geheimen Gang schlich und über die Mysterien der Wächterschaft nachdachte. Grunthor brauchte seinen Schutz oder seine Schelte nicht. Rhapsody war zwar erfrischend, aber verrückt unabhängig und erwartete keineswegs von ihm, dass er ihren Beschützer spielte.

Sein halbes Leben hatte er mit der Ausbildung zum vollkommenen Wächter verbracht und die andere Hälfte mit dem Beweis, dass nichts sicher war, nirgendwo. Der König schüttelte den Kopf, als er sich dem zuwandte, was vom Loritorium übrig geblieben war. Er war sich nicht sicher, welche Hälfte seines Lebens er verschwendet hatte.

Die Leute in diesen Bergen und die Geheimnisse, die er früher als Schutz gegen eine alte Nemesis angesehen hatte, lagen nun schwer wie eine Rüstung auf ihm wie eine Rüstung, die zwar schützt, aber auch hinderlich oder sogar gefährlich sein kann. Er war einmal in einer solchen Rüstung vom Pferd in einen Fluss gefallen; die Strömung hatte ihn untergetaucht und die Rüstung hinab in das Wasser gezogen, das er so wenig schätzte. Seine Verantwortung für die Bolg lastete nun ähnlich schwer auf ihm. Er nahm seine ganze Entschlossenheit zusammen, hier zu bleiben und einen Schutz für jene zu errichten, für die er sich verantwortlich fühlte. Wenn es nach ihm ginge, würde er allein und mit der Cewllan in der Hand hinausgehen, bis es vorbei war.

Achmed bahnte sich einen Weg durch die Asche und den Schutt bis zu den Überresten von Gwylliams großer Gruft. Nur wenig von Wert war übrig geblieben: einige geschmolzene Metallleuchter, ein paar Schieferplatten aus nie fertig gestellten Mosaiken; alles andere war in der Feuersbrunst untergegangen, die Rhapsody entfacht hatte, um die Dämonenranke zu zerstören die Bastardwurzel des Großen Weißen Baumes, den der F’dor entweiht hatte, und die den Berg hatte sprengen sollen, damit er das Schlafende Kind den schon lange toten Dhrakiern entreißen konnte, die versucht hatten, es zu beschützen.

Achmed sprang von einem großen Schutthaufen herunter und stand nun unter der großen Kuppel des Loritoriums, des sanft ansteigenden Gewölbes, in dem einst ein Behälter gesteckt hatte, der Feuer von einem Stern der alten Welt enthielt von Seren selbst. In dem weiten Kreis, der früher einmal der zentrale Hof hatte werden sollen, sah er den Altar des Lebendigen Gesteins und den großen, ruhenden Schatten darüber.

Der Körper des Kindes war so groß wie sein eigener, doch eine ungeheure Zerbrechlichkeit umwebte es, obwohl es von der lebenden Erde selbst gebildet war. Es lag auf dem Rücken und schlummerte unter Grunthors Umhang, mit dem er es bedeckt hatte, als sie das letzte Mal an diesem Ort gewesen waren. Von der Seite sah es wie eine Totenstatue auf einem Katafalk aus. Die süßen Gesichtszüge des Mädchens waren die eines Kindes, und seine Haut leuchtete im kalten Glanz polierten grauen Steins. Unter der hauchdünnen Haut war das Fleisch dunkler, wies gedämpfte Tönungen von Braun und Grün, Purpur und Dunkelrot auf, die wie Bänder aus farbigem Lehm ineinander gewunden waren. Die Züge waren zugleich grob und sanft, als wäre das Gesicht mit stumpfen Werkzeugen gemeißelt und dann sorgfältig ein ganzes Leben lang poliert worden.

Achmed näherte sich langsam dem Altar, denn er wollte das Kind nicht stören. Lass das, was in der Erde ruht, ungestört schlafen, hatte die Großmutter, die letzte Überlebende der dhrakischen Siedlung und Wächterin des Kindes gewarnt. Sein Erwachen kündet von ewiger Nacht.

Er trat neben das Kind und blieb stehen. Als er auf es Niederschaute, bemerkte er, dass es unter dem Umhang zitterte.

Tränen lagen auf den Wimpern, die aussahen wie aus trockenen Grashalmen gebildet und wunderbar zu dem langen, weizengleichen Haar passten. Seit er es das letzte Mal gesehen hatte, war dieses Haar vom Gold Frostgebleichten Weizens zu Weiß geworden, sogar an den Wurzeln, die einmal an das Gras des Frühlings erinnert hatten, nun aber das Schneetuch spiegelten, das die Erde umhüllte.

Achmed schluckte schwer.

»Psst, meine Kleine«, flüsterte er in seiner trockenen Stimme; die Worte drangen kaum über seine Lippen. Das Erdenkind hatte Angst; er spürte es in seiner Haut und den Tiefen seiner Knochen. Die Erde um es herum erzitterte unter den Hammerschlägen, den gebrüllten Befehlen, der schrecklichen Kakophonie der Kriegsvorbereitungen.

Achmed kniete sich neben das Kind und zog ihm sanft den Umhang über die Schultern. Er räusperte sich.

»Ähem, hab keine Angst«, sagte er. Er zuckte unter der Unangemessenheit seiner eigenen Stimme zurück, rückte näher an das Erdenkind und fuhr ihm vorsichtig mit dem Finger über die Hand.

Er schloss die Augen, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den schnellen Atem des Kindes und passte ihm seinen an, dann verlangsamte er beide.

»Ich weiß, dass du jetzt fühlst, wie die Erde entzwei gerissen wird«, sagte er so sanft wie möglich. »Ich bin sicher, dass es dich schmerzt. Aber hab keine Angst. Fürchte den Lärm nicht; er ist zu deinem Schutz da. Du bist in Sicherheit, das schwöre ich dir.«

Eine einzelne Träne quoll unter dem geschlossenen Augenlid des Kindes hervor und lief an seinem Gesicht entlang. Achmed fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare und kam noch näher heran.

»Ich werde dein Wächter sein«, sagte er leise; kaum verlieh er seinen Worten Stimme. »Nur deiner allein.«

Er stand auf und beugte sich über das Mädchen. Mit seinen empfindlichen Lippen fuhr er ihm über die Stirn.

»Schlaf jetzt«, sagte er. »Ruh dich aus. Ich halte Wacht.«

Das Kind seufzte im Schlaf, das Zittern hörte auf. Nun lag es zwischen den sanften Wogen des Atmens so still wie eine Statue.

Achmed glättete den Umhang; er hatte Angst, das Kind noch einmal zu berühren. Schnell wandte er sich um und ging zurück zu dem Schutthaufen, den er hinter dem Tunnel erklommen hatte. Als er gerade hinaufsteigen wollte, hielt er plötzlich an und starrte auf die dunkle Wand vor ihm.

Der rußgeschwärzte Stein veränderte sich und wirkte an manchen Stellen wie Brotteig. Achmed sog scharf und still die Luft ein, als die Mauer sich zu verflüssigen und dann zum konvexen Relief einer linken Hand zu verdrehen schien.

Er sah zurück auf das Kind, aber es hatte sich nicht bewegt; eher schien es in einen noch tieferen Schlaf gefallen zu sein.

Er richtete den Blick wieder auf die Hand in der Mauer. Einen Moment lang behielt der Stein diese Form. Dann verlängerten sich der Daumen und die anderen Finger, streckten sich nach außen, bis sie Kanäle bildeten und langen, dünnen Tunneln glichen. Die Innenfläche des Handreliefs blieb unverändert, auch als die Fingertunnel zu tiefen, dunklen Linien verdorrten und dann verschwanden.

Es war eine Karte, aber er wusste nicht, welches Gebiet sie bezeichnete.

Achmed zog den Handschuh aus und berührte die Wand. Das Bild war verschwunden; die Basaltoberfläche war zu ihrer früheren Gestalt zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

»Vielen Dank«, flüsterte er.

Er erstieg den Schuttberg und eilte durch den Tunnel auf die rasenden Kriegsvorbereitungen zu, die sich wie ein Buschfeuer durch den ganzen Berg und über die Heide bis zu den hintersten Gebieten des Versteckten Reiches fraßen.

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