Im Gegensatz zu den Hauptstädten von Bethania, Bethe Corbair, Navarne und den anderen rolandischen Provinzen war Yarim nicht von den Cymrern erbaut worden; die Stadt war weitaus älter.
Yarim Paar das zweite Wort bedeutete in der Sprache der Einheimischen Lager war in der Mitte des ausgedehnten Dürregebietes errichtet worden, welches den größten Teil der Provinz ausmachte, und lag zwischen den trockenen Winden der Zahnfelsen im Osten und dem Eise Hintervolds im Norden. Weiter im Westen, näher an Canderre und Bethania, wurde das Land fruchtbarer, doch der Hauptteil des Reiches bestand aus trockenem Land voller Gestrüpp und rotem Lehm, der in der kalten Sonne buk.
Yarims Nachbargebiete, die versteckten Länder östlich der Zahnfelsen, waren fruchtbar und bewaldet; es schien, als reichten die Berge bis in den Himmel hinein und zögen den kostbaren Regen aus den dünnen Wolken, die ihre Gipfel umschwebten. Der Seewind strich aus Westen über den Kontinent, brachte Feuchtigkeit mit und schenkte auf diese Weise den Küstenregionen von Gwynwald und Tyrian sowie den angrenzenden binnenländischen Provinzen Gewänder aus tiefgrünem Forst und Feld. Wenn aber der Wind auf dem Weg nach Osten endlich Yarim erreicht hatte, konnte er keine Wohltaten mehr bringen; die Wolken hatten den größten Teil des Regens bereits ihren bevorzugten Kindern gespendet. In besonders trockenen Jahren gab es in Yarim mehr Staub als Getreide.
Früher einmal war ein Nebenfluss des Tar’afel aus den Eiswüsten Hintervolds gekommen und hatte sich mit dem Erim Rus vereinigt, dem Blutfluss, wie ihn die frühen Siedler genannt hatten einem schlammigen roten Wasserlauf, der mit mineralischen Ablagerungen verdreckt war, welche die Berghänge verkrusteten. Am Zusammenfluss dieser beiden Läufe, die nur selten Wasser führten, stand die Wiege der Stadt Yarim Paar.
Obwohl dieses Gebiet den frühen Bewohnern des Kontinents als Wüste erschienen war, konnte doch nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ein König, dessen Name in Vergessenheit geraten war, hatte die Länder von Yarim blasiert als den Nachttopf der Eiswelt und der östlichen Berge bezeichnet. In diesen Worten lag eine unbeabsichtigte Wahrheit. Die Lage an der Kontinentalscheide verhalf Yarim zu reichen Mineralvorkommen und, was noch wichtiger war, zu großen Salzablagerungen. Unter der bescheidenen Oberfläche verliefen dicke Adern von Mangan und Eisenerz in Richtung der östlichen Berge, und weiter westlich befand sich ein ausgedehnter unterirdischer Salzsee. Als ob diese Reichtümer nicht ausreichten, um die unwirtliche Gegend zu segnen, waren die zugigen Steppen gespickt mit gewaltigen Opalvorkommen, deren Steine wie gefrorene Regenbögen in unzähligen Farben schimmerten. Eine der Abbaustätten des Opals trug den Namen Zbekaglou, was in der Eingeborenensprache so viel wie »das Ende des Regenbogens« oder »Ort, wo die Himmelsfarben die Erde berühren« bedeutete.
Yarims östliche Berge boten der Provinz große Schätze an Mangan und Kupfer, Eisenerz und Rysin, einem bläulichen Metall, das bei den Nain sehr geschätzt wurde; die westlichen Felder steuerten das begehrte Salz bei, das durch seichte Brunnen hochgepumpt wurde, die bis in den unterirdischen Ozean aus Sole und Pottasche reichten. Das Salz wurde dann in ausgedehnten Steinbetten ausgebreitet, damit das Wasser an der Sonne verdunsten konnte und nur das kostbare Konservierungsmittel zurückblieb. Die östliche Steppe aber brachte Edelsteine von unschätzbarem Wert hervor.
Im Gegensatz dazu war Yarim Paar weder mit nennenswerten Mineralvorkommen noch mit Salzseen oder fruchtbarem Ackerland gesegnet. Es war eine öde Wüstenei aus trockenem rotem Lehm. Dennoch war es gerade das arme Gebiet von Yarim Paar im Süden, welches den Reichtum der Provinz ermöglichte, denn Yarim Paar hatte vom Schöpfer ein Geschenk erhalten, das keinem der übrigen Gebiete der Provinz zuteil geworden war das Geschenk des Wassers.
Neben dem Erim Rus und dessen Nebenfluss Tar’afel, die selbst große Wasserreiche in einem dürren, durstigen Land waren, war Yarim Paar überdies der Sitz der Entudenin, einem Wunder, dessen Name später für gewöhnlich mit Brunnenquell übersetzt wurde. Noch weiter bekannt war es unter der Bezeichnung Quellfels oder einfach »Wunder« die Yarimeser besaßen nur wenige Naturwunder, die sie bestaunen konnten, und ersonnen daher viele Namen für dieses eine , doch eine genauere Bedeutung des Wortes in der alten Sprache wäre »die Arterie« gewesen.
In der Zeit der Namensgebung war die Entudenin ein hoher Geysir gewesen, der einem Obelisken aus Mineralien entsprang, die sich während der Jahrhunderte immer höher aufgetürmt hatten. An seiner Spitze war der Obelisk so hoch wie zwei Männer oder vielleicht wie zwei Grunthor und so breit wie ein zweispänniger Ochsenkarren, doch nach oben hin verjüngte er sich zu einem schmalen, rechteckigen Schaft.
Auch ohne die phantastische Gabe des Wassers in der Wüste wäre die Entudenin ein Wunder gewesen. Die gelösten, an dem Obelisken heruntergelaufenen Mineralien waren zahllos und hatten die gewaltige Formation mit einer Vielzahl kräftiger Farben überzogen. Man sah Schattierungen aus Zinnoberrot und Rosa, tiefem Rostbraun und Aquamarin, Schwefelgelb und einen breiten Streifen Erdbraun, das wie ein Hohn für den sandigen roten Lehm war, über dem sich der große Wasserspeier erhob. Die Mineralformation glitzerte in der Sonne und wirkte beinahe wie gezuckertes Marzipan.
Im Gegensatz zu den heißen Quellen, die den Gerüchten zufolge den Mittelpunkt der mythischen Stadt Kurimah Milani gebildet hatten dem uralten Zentrum der Kultur, das angeblich am Rand der Wüste errichtet und eines Tages spurlos im Sande versunken war , war das Wasser, das aus dem Mund der Entudenin hervorschoss, kühl und klar, wenn auch schwer von mineralischen Sedimenten. Die Legende von Kurimah Milani berichtete, wie diejenigen Glücklichen, die in den heißen Quellen hatten baden oder von ihnen hatten trinken dürfen, mit den besonderen Gaben des Heilens oder anderen magischen Vorzügen beschenkt worden waren, die unzweifelhaft von den reichen mineralischen Teilchen im Wasser herrührten. Den Einwohnern von Yarim Paar gelüstete es nicht nach diesen Heilquellen; das kühle, Lebensspendende Wasser, das sich aus der Entudenin ergoss, war für sie Magie genug.
Die Entdeckung des wunderbaren Geysirs inmitten des Nichts war denn auch der Anlass zur Errichtung eines befestigten Außenpostens, der später zu einem Lager, dann zu einem Dorf und schließlich zu einer Stadt wurde. Die Verfügbarkeit von Wasser brachte den Sieg der Form über die Funktion und der Größe über die Schönheit mit sich. Ausgedehnte hängende Gärten, anmutige Springbrunnen und Skulpturenparks mit stillen, spiegelnden Teichen wurden angelegt und verwandelten das Zusammengewürfelte kleine Lager in ein großartiges Beispiel für luxuriöse Wüstenarchitektur. Innerhalb weniger Jahrhunderte spendete die Entudenin nicht nur die gewaltigen Wassermengen, die zur Erhaltung dieses Juwels einer Hauptstadt nötig waren, sondern auch das ganze Wasser für alle entfernt gelegenen Städte, Dörfer, Außenposten und Bergbaulager.
Während seiner Lebenszeit war der Quellfels ungefähr den Zyklen des Mondes unterworfen. Zu Beginn eines Zyklus schoss aus dem Brunnenquell das Wasser in einer gewaltigen, wütenden Fontäne hervor und sprühte es glitzernd dem Himmel entgegen, um schließlich den durstigen Boden zu besprengen. Das Geräusch, das dieses Ereignis begleitete, reichte von einem tiefen Röhren bis zu einen frohen Ruf, wenn der Strom aus der Dunkelheit der Erdentiefe in Luft und Licht hinaustrat.
Eine ganze Woche lang floss das Wasser reichlich. Am ersten Tag des Ausbruchs, der als das Erwachen bekannt war, versammelten sich die Einwohner zum rituellen Dankgebet an den All-Gott, doch sie unterließen es, von den flüssigen Wohltaten des Brunnenquells zu trinken oder sie aufzufangen. Einerseits war dieser Brauch ein Opfer zum Dank an den Schöpfer, doch andererseits entsprang die Haltung auch dem gesunden Menschenverstand, denn der aus der Entudenin hervorschießende Wasserstrahl war so kräftig, dass er einem Menschen das Rückgrat brechen konnte.
Innerhalb eines einzigen Tages machte der Ausbruch einem gewaltigen Sprühregen Platz. Den Legenden zufolge wechselte der Brunnenquell nun seine Stimmung von Wut zur Sanftmut. Sobald dieser Wechsel vollzogen war, ernteten die Leute von Yarim Paar und auch ihre Nachbarn das Wasser und lagerten es in Zisternen, von denen die größte jene war, die man am Fuß des Obelisken ausgehoben hatte. Die kleinsten Behältnisse hingegen stellten die Kübel dar, welche die Stadtkinder auf dem Kopf balancierten. Der Sprühregen, der die Luft am Rand der Fontäne erfüllte, ergoss sich in weitem Bogen und wurde von den Stadtbewohnern als öffentliches Bad benutzt.
Nach einer Woche der Fülle kam eine Woche der Ruhe. Die Entudenin wechselte von der gewaltigen Dusche zu einem ruhigeren, sprudelnden Fließen. Die geduldigeren Stadtleute, die vorausgeplant und mit dem Schöpfen ihres Wassers bis zur zweiten Woche gewartet hatten, zogen nun den Nutzen aus ihrer Haltung, denn in dieser Zeit war das Wasser angeblich am süßesten und gereinigt von den bitteren Mineralien, die sich während der Zeit des Schlafes angereichert hatten.
Die dritte Woche, die Woche des Verlustes, sah immer noch Wasser aus der Entudenin hervorquellen, doch es war zu einem bloßen Rinnsal geworden. Während dieser Zeit war es nur jenen, die einen ernsten Krankheitsfall in der Familie hatten, erlaubt, Wasser aus dem Quellfels zu nehmen. Im Gegensatz zu der wilden Ernte der ersten beiden Wochen wurde das Abschöpfen nun mit großer Demut und Ehrerbietung vorgenommen und von erheblichen Opfergaben in Form von Nahrungsmitteln oder Münzen an die Priesterinnen begleitet, welche die Entudenin bewachten. Schließlich verschwand auch das Rinnsal. Der Quellfels trocknete aus, und in dieser Woche, der Woche des Schlummers, überkam ganz Yarim Paar zumindest den Legenden zufolge ein Gefühl von Anspannung, gepaart mit Entsetzen. Obwohl der Geysir seit Menschengedenken regelmäßig ausbrach und seine Gaben spendete, erhob sich immer wieder die unausgesprochene Angst, jedes Mal könnte das letzte sein. Während die Yarimeser gelernt hatten, dass Sonne und Mond den Regeln des All-Gottes folgten, hegten sie doch immer die Befürchtung, die Entudenin könnte es sich anders überlegen und ihre Kinder dem Staub der Wüste überlassen, weil sie an irgendetwas Anstoß genommen hatte.
Die Aufgabe, sich um den Brunnenquell zu kümmern, war einem Klan übertragen, der als die Shanouin bekannt war. Dabei handelte es sich um eine Gruppe früherer Nomaden, die angeblich aus Kurimah Milani stammten. Die Wasserpriesterinnen der Shanouin besaßen das höchste gesellschaftliche Ansehen in Yarim und wurden nur vom Herzog und dem Segner übertroffen, die Yarim mit der benachbarten Provinz Canderre teilte. Weil die Entudenin einem Monatszyklus folgte, wurde sie als weiblich angesehen; deshalb war es nur den Frauen der Shanouin erlaubt, den Obelisken während der Ruhephase zu säubern und zu pflegen sowie den Zugang der Leute zum Brunnenquell zu regeln. Die Männer und Kinder des Klans hingegen legten die Wasserbecken an und stellten die Versorgung der wichtigeren Haushalte sicher. Der Fuhrmann, der jeden Monat die Fässer zum Haus des Herzogs brachte, hatte eine Stellung inne, die jene des Kammerherrn an Wichtigkeit noch übertraf.
Als die Jahrhunderte vergingen und der Erim Rus mit Blutfieber verseucht wurde sowie der Nebenfluss Tar’afel austrocknete, blieb die Entudenin beständig und treu und versorgte das trockene Reich in jedem Mondzyklus zwanzig Tage lang mit dem Elixier des Lebens. Die grünen Wüstengärten verdorrten, weil nun einiges vom Wasser des Brunnenquells in die umliegenden Dörfer und Städte sowie in die Außenposten und Bergbaulager geleitet wurde. Das Paradies, zu dem Yarim Paar geworden war, wich einer gesetzteren, verständigeren Stadt, einer hübschen Matrone, die den Platz der einst wunderschönen Braut einnahm.
Und so ging es Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, bis die Entudenin in Schlaf fiel und nicht mehr aufwachte.
Zuerst hatten die Shanouin Gelassenheit gezeigt. Die Brunnenquelle hatte ihre Zyklen nie auf den Tag genau begonnen, obwohl sich niemand daran erinnern konnte, dass sie jemals mehr als drei Tage von ihrem Schema abgewichen war. Als aber der vierte und auch der fünfte Tag vergangen waren, wurde der Segner von Canderre und Yarim durch einen geflügelten Boten von seiner Basilika in Bethania nach Yarim Paar in der Hoffnung gerufen, seine heilige Weisheit, die ihm durch den Patriarchen vom Schöpfer selbst verliehen worden war, könne den Grund für das Schweigen der Entudenin herausfinden und Genugtuung für eine mögliche Beleidigung leisten.
Der Segner kam in gebührender Eile; er ritt auf seinem Wüstenpferd in Begleitung von nur acht Wachen, anstatt den langsameren königlichen Wagen zu benutzen. Als er eintraf, war der Brunnenquell schon seit zehn Tagen trocken, und die allgemeine Besorgnis drohte nicht nur in Yarim Paar, sondern auch in den anderen Städten und Außenposten Yarims in Panik umzuschlagen, denn sie alle hingen vom Wasser der Entudenin ab. Rasch verbreitete sich der Aufruhr auch in den anderen rolandischen Provinzen, denn viele orlandische Herzöge besaßen Grundbesitz und Kapitalanlagen in Yarim.
Als es dem Segner nicht gelang, durch seine Gebete den Brunnenquell wieder zum Leben zu erwecken, wandten sich viele Bewohner von Yarim von den monotheistischen Praktiken der Religion von Sepulvarta ab. Sie hörten nicht mehr auf den Segner und den Patriarchen und kehrten zur heidnischen Vielgötterei zurück, die sie vor dem Eintreffen der Cymrer gepflegt hatten. Der Göttin der Erde, dem Herrn des Meeres, dem Gott des Wassers und jeder anderen möglichen Gottheit, welche den Fluch des Durstes von ihnen nehmen könnte, brachten sie öffentliche und private Opfer dar, die manchmal wohlwollend, manchmal auch böswillig waren. Doch all ihre Bitten stießen auf taube Ohren.
Schließlich kam man auf eine Idee. In der Stadt verbreitete sich das Gerücht, dass die Shanouin die Schuld trugen. Die Aufwarterinnen der Entudenin hatten diese angeblich beleidigt und sie dazu gebracht, sich von ihrem Volk zurückzuziehen. Die Wasserpriesterinnen und der Rest des Klans flohen bei Nacht aus Yarim Paar, während schon das Holz für ihre Scheiterhaufen gesammelt wurde. Doch auch die Flucht der Shanouin beeindruckte die Entudenin nicht; sie weigerte sich immer noch, ihr Herz zu öffnen. Als wegen der Herrschaft über die austrocknenden Zisternen mörderische Tumulte ausbrachen, verfiel die Stadt Yarim Paar unter der Regentschaft des Herzogs in grämliches Schweigen und dachte darüber nach, wie sie ohne Wasser überleben sollte. Bald wurde der halbherzige Versuch unternommen, Brunnen zu graben, doch man gab schnell wieder auf. Niemand hatte je so etwas versucht, und so wusste auch keiner, wie man richtig einen Brunnen anlegte, zumal sich die Entudenin immer wie eine großzügige Amme um das benötigte Wasser gekümmert hatte. Selbst wenn jemand gewusst hätte, wie man sich durch die trockene Erde bohrt, wäre die Aussicht auf eine Entdeckung einer Wasserader der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichgekommen. Wenn tatsächlich irgendwo Wasser unter dem Sand lag, konnte es sich auch am anderen Ende der Welt befinden.
Schließlich dachte der Herzog daran, dass die Shanouin zwar vielleicht den Brunnenquell beleidigt hatten, aber alles über das Wasser in dieser Dürreregion wussten. Er schickte sein Heer aus, auf dass der ganze Stamm Zusammengetrieben und nach Yarim Paar zurückgebracht wurde. Gemeinsam mit den Shanouin wurde eine Ratsversammlung einberufen, an der die Verwaltung von Yarim Paar, die Aufseher über die verschiedenen Bergbaulager und Abgesandte anderer yarimesischer Städte teilnahmen.
Auf dieser Zusammenkunft versprach der Herzog von Yarim den Shanouin erneut die freien Bürgerrechte und den Schutz des yarimesischen Heeres, wenn es ihnen gelänge, Wasser aus dem trockenen Lehm hervorzubringen und das Leben der durstigen Städte zu erhalten. So erlangten die Shanouin allmählich ihr früheres soziales Ansehen zurück, indem sie erfolgreich Wassersammelstellen errichteten, welche die ganze Provinz Yarim versorgten, doch es war nie so viel wie in den besten Tagen. Obgleich sie nun ohne die Arterie leben mussten, die das Leben aus dem Herzen der Erde heraufgepumpt hatte, gab es immer noch etliche kleine Venen in Oberflächennähe, welche die früheren Priesterinnen der Entudenin aufzuspüren in der Lage waren. Diese Arbeit war schwierig und die Ergebnisse ungewiss, doch irgendwie überlebte Yarim die Apokalypse. Die einst so prächtige Hauptstadt Yarim Paar welkte an der Hitze dahin, trocknete unter der Sonne aus und wurde dabei spröde und rissig.
Die Entudenin erhob sich immer noch fest in den Himmel, aber nun schwieg sie. Das große Marmorbecken um sie herum trocknete ebenfalls aus und zerfiel. Der Obelisk buk in der Sonne und verlor seinen Glanz und seine Farben, bis er schließlich so trocken und rot wie der übrige Lehm war, aus dem man Yarim erbaut hatte. Von Zeit zu Zeit wurde er von Pilgern aus den Gegenden jenseits der Wüste besucht, die an seinem Fuß standen, hinauf zum Leichnam des toten Quellfelsens schauten und den Kopf schüttelten, weil sie traurig über den Verlust waren oder die Übertreibungen in den Geschichten erkannten, die sie über die Fontäne gehört hatten.
Wenn sich des Nachts die Dunkelheit herabsenkte und das Zwielicht den Himmel verließ, konnte jemand, der in diesem Augenblick den alten Felsen beobachtete, einen winzigen goldenen Schimmer sowie ein silbernes Funkeln zarten Glimmers bemerken, welche die Hitze für immer in den dunklen, aufschießenden Felsen eingeschmolzen hatte, der hoch zu den Sternen wies.
»Ich nehme an, Ashe hat dich bei eurem Besuch in Yarim auch hierher geführt?«
»Nein, warum?«
Achmed blickte an dem hohen, sich verjüngenden Schaft des Obelisken empor. »Ich könnte mir vorstellen, dass dieser gigantische Phallus seine Minderwertigkeitsgefühle nur verstärkt. Gerechtfertigte Gefühle, wie ich hinzufügen darf.«
Rhapsody lächelte unter den Schleiern ihrer Pilgerverkleidung, die ihr Gesicht verhüllte, aber sie sagte nichts. Stattdessen wartete sie, bis die drei ältlichen Frauen, die wie sie in fließende weiße Gewänder gekleidet waren und die Gesichter hinter Schleiern verborgen hatten, ihre Gebete beendet hatten und weitergingen. Dann trat sie näher an die uralte Felsformation heran.
Die Entudenin war kleiner und dünner, als sie erwartet hatte, und wirkte irgendwie zerbrechlich. In der Tat waren sie zweimal an ihr vorübergegangen, ohne sie zu sehen, denn sie stand in der Mitte des Marktplatzes wie ein wenig geschätztes Standbild, an dem die Ochsenkarren und Viehkarawanen achtlos vorbeizogen. Die drei Frauen, die sich soeben wieder auf den Weg gemacht hatten, waren die Einzigen aus dem ganzen geschäftigen Treiben Yarim Paars gewesen, die an jenem Morgen stehen geblieben waren und den Obelisken angeschaut hatten.
Die mineralischen Ablagerungen, aus denen er geschaffen worden war, hatten sich nun zu hartem rotem Stein verfestigt, der mit tiefen Aushöhlungen und Löchern übersät war. Rhapsody bemerkte, dass er entfernt wie ein abgeschlagener Arm aussah, der auf dem Boden balancierte und dem die Hand fehlte.
Sie warf einen Blick auf den quirligen Marktplatz und schaute sofort wieder weg, als ein Trupp yarimesischer Soldaten mit ihren unverwechselbaren gehörnten Helmen vorbeiritt. Sobald das Hufgetrappel verklungen war, sah sie wieder zu Achmed hinüber. Er schaute südwärts.
»Was ist deiner Meinung nach mit dem Wasser geschehen? Warum ist die Entudenin ausgetrocknet?«
Achmed grinste. »Hältst du mich für Manwyn, nur weil wir uns zufällig in derselben Stadt befinden?«
»Wohl kaum. Sie ist viel angenehmer als du.« Rhapsody erschauerte, als sie sich an das scheußliche Lachen des Orakels erinnerte, an die grundlose Verspottung Ashes und ihre schlimmen Prophezeiungen.
Ich sehe die Geburt eines unnatürlichen Kindes, hervorgegangen aus einer unnatürlichen Verbindung. Nimm dich vor dieser Geburt in Acht, Rhapsody: Die Mutter wird sterben, das Kind aber wird überleben.
Ashe hatte sich über die Worte erbost. Als er eine Erklärung verlangte, hatte sie auch ihn mit rätselhaften Worten bedacht.
Gwydion ap Llauron, deine Mutter ist gestorben, als sie dich zur Welt brachte, aber die Mutter deiner Kinder wird bei ihrer Geburt nicht sterben.
Da war noch etwas gewesen, aber Rhapsody erinnerte sich nicht mehr daran; es schien so, als wäre es aus ihrem Gedächtnis entfernt worden.
Sie blinzelte und bemerkte, dass Achmeds ungleiche Augen sie anstarrten. Rhapsody schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verscheuchen.
»Wenn ich eine Seherin fragen wollte, was mit der Entudenin geschehen ist, würde ich mich an Anwyn wenden«, sagte sie. »Sie ist diejenige, die in die Vergangenheit schaut. Aber ich glaube, das lasse ich lieber. Da frage ich besser dich, auch wenn du nur eine Vermutung abgeben kannst. Was ist das deiner Meinung nach für eine Beleidigung gewesen, um deretwegen der Quellfels ausgetrocknet ist?«
Sie sah, dass er unter seinem Schleier lächelte. »Die Beleidigung durch einen mineralischen Pfropfen oder die Verlagerung einer Gesteinsschicht innerhalb der Erde.«
»Wirklich? Das ist alles?«
»Wenigstens meiner Meinung nach. Hast du je bemerkt, dass alles Wunderbare und Gute als Geschenk des All-Gottes, alles Schlimme und Schreckliche aber als Versagen der Menschen angesehen wird? Vielleicht ist alles, was im Guten oder Schlechten geschieht, bloßer Zufall.«
»Vielleicht«, sagte sie rasch. Sie zog das Buch hervor und blätterte es hastig durch.
»Rhonwyn sagte, das Kind befinde sich in Yarim Paar, unter der Entudenin, nicht wahr?«
Achmed nickte, ohne den Blick von dem versteinerten Geysir abzuwenden. »Es war eine Tortur für mich, wie du Namen, Alter und Aufenthaltsort dieser Dämonenbrut aus der verrückten Seherin herausgelockt hast.«
Rhapsody kicherte. »Tut mir Leid. Es ist nicht leicht, Informationen von einer wahnsinnigen Seherin zu bekommen, die sich schon einen Augenblick später nicht mehr erinnern kann, wer du eigentlich bist, weil sie nur die Gegenwart sieht. Einen Herzschlag später ist die Gegenwart schon zur Vergangenheit geworden, und sie erinnert sich nicht mehr an das, was sie gesagt hat, und erst recht nicht daran, was du gesagt hast. Und wenn du glaubst, Rhonwyn sei schlimm, dann freu dich, dass du Manwyn nicht begegnet bist.« Sie beugte sich vor und versuchte, über den Kuppeln der Gebäude den zerfallenden Tempel des Orakels zu erkennen, doch nirgendwo sah sie das Minarett. »Der Fontänenplatz ist der Mittelpunkt der Stadt. Glaubst du, ›unter‹ bedeutet so viel wie ›südlich‹?«
Der Fir-Bolg-König zuckte die Achseln und versuchte sich zu konzentrieren. Die Herzschläge klangen nun gedämpft und wurden von dem Brummen der vielen Menschen verschluckt sowie vom Weinen des Winterwindes in den engen Gassen, dem Schachern der Frauen und dem Lärm der Kaufleute, die ihre Waren auf dem Marktplatz feilboten. Dazu kam die Dämpfung durch die Schleier, die beinahe jeder in Yarim trug, um den treibenden Sand von Augen und Nase fern zu halten.
Noch immer schmerzte ihm die Brust vom Schock der Arrhythmie, von dem Schlag der Dissonanz, die sein eigener Herzschlag erfahren hatte, als der zweite Puls von ihm abgeprallt war. Er begriff nun, was Rhapsody mit Namensliedern und Liedern des Selbst meinte und was es bedeutete, dass sie ihre Musik in Gleichklang mit dem wahren Namen eines Menschen oder Gegenstandes bringen konnte. Ihre musikalischen Fähigkeiten wirkten auf dieselbe Weise wie seine Gabe der Spurenlese. Sie beide schlössen sich an die einzigartigen Schwingungen an, die jedes Lebewesen aussandte. Er hatte schon immer gewusst, wie verwundbar er war, wenn er seinen eigenen Herzschlag dem eines anderen anpasste. Nun fragte er sich, ob es sich bei ihr genauso verhielt.
In der Ferne hörte er immer noch beide Rhythmen. Es war so unendlich wenig Blut aus der alten Welt in den Kindern, dass er eigentlich nicht in der Lage sein sollte, es zu hören. Einer der Herzschläge war schwächer und ruckartiger als der andere.
»Einer von ihnen der Erste ist am südöstlichen Rand der Stadt«, sagte er schließlich. »Und was den anderen angeht, so könnte er überall sein.«
Rhapsody richtete nervös den Schleier vor ihrem Gesicht. »Das schafft nicht gerade große Sicherheit.«
»Tut mir Leid.«
»Sei nicht wütend. Es ist nur so, dass deine Fähigkeit, diese Kinder aufzuspüren, die einzige Hoffnung ist, die wir haben.«
Achmed fasste sie am Ellbogen und zog sie von der ausgetrockneten Fontäne weg. Er führte sie zu einer geschützten Nische in einer Seitenstraße, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, beugte er sich zu ihrem Ohr vor.
»Ich hätte es dir schon vor langer Zeit erklären sollen«, sagte er mit so leiser Stimme, dass sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Du begreifst nicht die Schwierigkeit dessen, um was du mich bittest.
Auf der Insel konnte ich leicht den Herzschlag eines jeden Menschen ausfindig machen und ihm folgen. Wie bei dem Weg durch einen vertrauten Wald gab es immer Ungewissheiten und Gefahren, aber ich wusste, wo sie waren und wie ich mit ihnen umzugehen hatte. Diese Fähigkeit ist verschwunden; ich kann sie nur noch bei denjenigen ausüben, die ebenfalls auf Serendair geboren wurden. Ich kann meinen Herzschlag mit Grunthors, deinem und dem von einer Hand voll Cymrer der Ersten Generation in Einklang bringen. Das ist alles.«
Seine Stimme wurde noch leiser. »Einen F’dor zu jagen war schon immer schwieriger; wie du weißt, habe ich noch nie einen in den Bann schlagen können. Dass es mir diesmal gelingen könnte ich wiederhole: könnte , liegt an dem Zusammenspiel meiner Blutgabe und der Fähigkeit der Dhrakier. Dazu ist es aber nötig, dass wir das Blut des Dämons von dem der Kinder zu trennen vermögen. Immer wenn ein F’dor-Geist aus seiner zerschmetterten Gruft innerhalb der Erde hervorkam, nahm er sich einen Wirt. Es musste ein ziemlich machtloser sein, ein Kind zum Beispiel oder ein schwacher Mann. Der Geist benötigte einen Wirt, der schwächer war als er selbst oder höchstenfalls genauso stark, denn wenn er frisch aus der Erde kommt, ist er erst einmal schwach. Dann wird Blut vergossen vielleicht nur ein einziger Tropfen, doch jedes Mal werden dabei Blutsbande geschmiedet. Der Geist benötigt das Blut, um sich mit einem lebenden Wesen zu verbinden. Dieses Blut wird zum eigenen des Dämons. Auch wenn er wächst, bleibt es sein eigenes Blut, obwohl es sich vermischt und vom Blut jedes neuen Wirtes befleckt und verdünnt wird.
Der F’dor, der diese Kinder gezeugt hat, war ein Geist aus der alten Welt. Er hatte zweifellos viele Wirte auf Serendair. Und wir wissen, dass er noch mehr gehabt hat, seit er hier ist.« Er verstummte, und beide schauten hinter sich, wo ein Kichern ertönte. Eine Gruppe Kinder, die sie fälschlich für Liebende gehalten hatten, welche sich in einer verschwiegenen Gasse küssten, starrte sie kurz an und zerstreute sich dann unter Achmeds wütenden Augen, die als Einziges von seinem Gesicht zu sehen waren. Er blickte finster drein und hielt dann wieder die Lippen an Rhapsodys Ohr.
»Wir wissen, wie mächtig er inzwischen ist. Bestimmt hat er den ersten Tropfen durch das Blut von hunderten, vielleicht tausenden anderer Wirte verschleiert. Dann hat er den Rakshas erschaffen. Er hat das Blut von wilden Tieren mit dem seines menschlichen Wirtes gemischt. Der Rakshas hat die Mütter dieser Kinder geschwängert und damit das Blut des F’dor sogar noch weiter verdünnt.
Du musst verstehen, dass das Blut des F’dor in den Adern dieser Kinder für mich wie der Hauch eines Parfüms ist, das ich zuvor nur ein einziges Mal gerochen habe. Du bittest mich darum, diesen Hauch in der Luft dieser Stadt unter all den anderen Gerüchen wiederzufinden. Darüber hinaus hat der Betreffende das Parfüm schon vor Monaten aufgelegt.«
»Vielleicht hat er in der Zwischenzeit nicht gebadet. Das könnte uns helfen«, sagte Rhapsody leichthin. In ihren grünen Augen funkelte es, doch dann wurde sie wieder ernst. »Es tut mir Leid, dass ich ein so großes Gewicht auf deine Schultern lade. Was sollen wir als Nächstes tun?«
Achmed seufzte und lehnte sich zurück; dann stand er auf. »Wir richten uns nach Südosten und sehen nach, was wir dort finden. Falls wir weder dieses Kind noch die anderen entdecken, müssen wir mit dem vorlieb nehmen, was wir finden, selbst wenn es nur das Kind ist, von dem wir wissen, dass es in neun Wochen in Tyrian geboren wird. Für dieses haben wir die genauen Angaben von Zeit und Ort. Alles, was ich brauche, ist eine winzige Menge reinen Dämonenblutes.«
»Wir sollen die anderen der Verdammnis preisgeben? Der Leere?«
Achmed blinzelte nicht. »Ja.«
»Würdest du das wirklich tun?«
»Beim nächsten Herzschlag sozusagen. Also bitte! Die Möglichkeit, dieses Wesen zu finden, wird mit jedem Augenblick geringer.« Achmed streckte die Hand aus, die in einer dünnen Lederscheide steckte, und Rhapsody ergriff sie. Gemeinsam überquerten sie die Gasse und verschwanden in den Tiefen von Yarim Paar.