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Hauptstadt Bethania, am westlichen Stadttor

Rhapsody hatte Bethania erst ein Mal besucht. Ihr erster Eindruck war der von einer Stadt im Belagerungszustand gewesen. Es war eine gewaltige Stadt mit einem runden Grundriss und ehrgeiziger Architektur. Soweit sie wusste, besaß keine andere noch existierende cymrische Stadt den Luxus von Steinpflaster, Gassenbeleuchtung, Schnellstraßen, öffentlichen Bädern, Bauwundern, Pferdekoppeln und all den anderen Annehmlichkeiten, die Rhapsody mit der Vorstellung von Reichtum verband. Roland schien seinen Wohlstand nicht so sehr dem erfolgreichen Handel, sondern dem Eintreiben von Steuern zu verdanken. Dieses Eintreiben der Steuern war ein sicheres Zeichen dafür, wo die Macht lag. Bethania hatte alle Anzeichen einer königlichen Stadt, obwohl hier kein König auf dem Thron saß.

Der Eindruck der Belagerung rührte von den vielen Soldaten sowohl am Rande der Stadt als auch auf den gepflegten Straßen im Innern her. Die acht Tore und die vier Hauptdurchgangsstraßen wurden unablässig kontrolliert. Der Viehhandel war in bestimmte Viertel verbannt, während die anderen Straßen vor allem die um den zentralen Palast und die ausgedehnten Privatgärten in seiner Umgebung für den Fußgängerverkehr makellos sauber gehalten wurden. Die Märkte und Geschäftsviertel befanden sich in den nördlichen und südlichen Teilen der Stadt. Der Palast des Prinzen und die große runde Feuerbasilika stellten die Mitte der Stadt dar. Nur die Kasernen von Bethanias riesigem Heer waren in jedem Viertel zu finden.

Als Rhapsody die westlichen Vorstädte passiert hatte, die früher den äußeren Ring der Stadt gebildet hatten, wurde ihr klar, dass innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit in Bethania dramatische Veränderungen stattgefunden hatten. Als sie zum ersten Mal mit Achmed, Grunthor und Jo hier gewesen war, hatte das Leben im äußeren Ring der Stadt pulsiert. Wuchernde Massen von Bauern, Mittellosen, Arbeitern, Händlern und Bettlern, die alle zu arm waren, um innerhalb der makellos sauberen Stadt zu leben, hatten dennoch glücklich hier von jenen gelebt, die durch die Stadttore hereinkamen. Rhapsody hatte einmal unbeabsichtigt einen Aufruhr ausgelöst, als sie einen Mann daran gehindert hatte, seinen Sohn zu schlagen. Nur dank der raschen Hilfe von Grunthor und Achmed hatte sie das folgende Handgemenge überlebt.

Nun war die Bevölkerung dieser Vorstadt verschwunden. An ihrer Stelle standen neue Kasernen, an einigen wurde noch gebaut, und zusätzliche Wehrmauern wurden vor der eigentlichen Stadtmauer errichtet. Es hatte nicht den Anschein, dass diese Vorbereitungen einem zeitlich begrenzten Zweck dienten; sie wirkten dunkel und dauerhaft. Rhapsody beschlich bei diesem Anblick ein ungutes Gefühl, und ihr Herz krampfte sich in plötzlicher Angst zusammen. Ist das alles etwa für die Hochzeit erbaut worden?, fragte sie sich, als sie aus dem Wagenfenster schaute, während sie in einer Reihe mit anderen Gefährten vor einem neu errichteten Wachtposten vor dem westlichen Stadttor wartete. Sie zog die Kapuze ihres wollenen Mantels eng um den Kopf.

Hinter dem Tor sah sie, dass die Stadt selbst im Licht des Wintermorgens glitzerte. Silberne Flaggen flatterten an jeder Laterne, und große Girlanden schlangen sich von Dach zu Dach. Die Mosaike an den Wänden und auf den Straßen waren glänzend poliert, und an jedem Baum hing ein silberner Stern, das Symbol des Patriarchats. Es überraschte Rhapsody, dass in so kurzer Zeit so viele weit reichende Vorbereitungen getroffen worden waren.

Die Vermählung des Prinzen mit seiner Braut Madeleine von Canderre war ursprünglich auf den ersten Frühlingstag festgesetzt gewesen. Rhapsody hatte die Einladung immer wieder gelesen, seit sie vom Schleier des Hoen nach Tyrian zurückgekehrt war. Oelendra hatte ihr beiläufig gesagt, dass der Termin wegen des schrecklichen Gemetzels auf dem Winterfest nach vorn verschoben worden war. Diese Geschichte hatte Rhapsody das Blut gefrieren lassen.

Rial, Tyrians treuer Schutzherr, war auch zu der Hochzeit eingeladen. Sie hatte ihn an der Waldstraße getroffen und war mit ihm und seinen Wachen gereist. Sie war sehr dankbar für die Gelegenheit, im Winter statt auf dem Pferderücken in einer Kutsche unterwegs sein zu dürfen. Ursprünglich war ihre eingeladene Begleitung Achmed gewesen, doch er hatte sich darüber auf eine Weise verächtlich gemacht, die keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er nicht mitkommen würde. Als er im vergangenen Sommer die Einladung in das Kaminfeuer der Großen Halle von Canrif geworfen und überdies noch darauf gespuckt hatte, war ihr so manches klar geworden. Auch im Hinblick auf die Ereignisse im Haus der Erinnerung war es kaum überraschend für sie, dass sie allein Ylorc bei dieser Staatsangelegenheit repräsentieren musste.

Insgeheim freute sie sich auf das Ereignis. Im serenischen Bauerndorf Myrfeld, in dem sie aufgewachsen war, hatte eine Hochzeit unausweichlich ein großes Fest bedeutet, und sie hatte schon immer gern getanzt. Seit Achmed ihr grummelnd ein wenig Geld für Kleidung und passenden Schmuck gegeben hatte, war ihre Aufregung mit jeder Meile gestiegen, die sie auf ihrer Reise zurückgelegt hatte. Außerdem wünschte sie sich tief in ihrem Herzen, dass auch Ashe dort war, so wie sie es damals geplant hatten. Trotz aller üblen Warnungen Llaurons hoffte sie, ihn ein letztes Mal zu sehen, bevor er selbst heiratete.

Doch als sie nun in Rials Kutsche in einer Reihe mit anderen Gästen vor dem Westtor darauf wartete, in die Stadt eingelassen zu werden, wurde sie nervös. Überall waren Soldaten zu sehen; es waren mindestens viermal so viele wie beim letzten Mal, und ihre Haltung war weitaus bedrohlicher. Während sie warteten, legte sie Rial eine Hand auf den Arm. Der Schutzherr, der einen Wildledermantel über seinem üblichen roten Umhang trug, wandte sich ihr zu und lächelte.

Das Lächeln verblasste, als er den Blick ihrer Augen unter der Kapuze bemerkte.

»Stimmt etwas nicht, Rhapsody?«

Sie deutete aus dem Fenster. »Sieht das nicht... nicht noch kriegerischer aus als je zuvor?«

Rial lächelte. »Darauf kann ich dir keine Antwort geben, meine Liebe. Ich bin zum ersten Mal in Bethania. Aber ich habe von der Postkarawane erfahren, dass Tristan Steward inzwischen den Oberbefehl über alle Heere Rolands innehat. Vermutlich ist das der erste Schritt auf die Krone zu.« Rhapsody erschauerte.

»Wer begehrt Einlass?«

Die Stimme war barsch und tief und schien unmittelbar rechts von ihr zu kommen. Rhapsody drehte sich um und sah in die Augen eines braunbärtigen Soldaten, der den Kopf durch das Kutschenfenster gesteckt hatte. Nun befanden sie sich am Tor. Elf weitere Soldaten waren in der Gegend verteilt, standen Wache, durchsuchten die Händler, die ihre Waren zur Hochzeit bringen wollten, und verboten anderen den Zugang in die Stadt.

Sie wandte den Blick ab, während Rial antwortete.

»Rial, Schutzherr von Tyrian, eingeladen zur Hochzeit«, sagte er mit seiner weichen, warmen Stimme. Er nahm Rhapsody das Einladungsschreiben aus der Hand, legte sein eigenes dazu und reichte es dem Wachtposten durch das Fenster. »In meiner Begleitung befindet sich Rhapsody, die ... äh ... Herzogin von Elysian«, fuhr er mit einem Zwinkern fort. Rhapsody verbarg ein Lächeln über den Scherztitel, den ihr Achmed verliehen hatte, als er ihr die versteckte Inselhütte gegeben hatte.

Der Soldat hatte beide Einladungen durchgelesen und die von Rial ohne Bemerkung zurückgegeben; Rhapsodys drehte er mehrmals in den Händen hin und her, dann starrte er die Sängerin an.

»Zeig dein Gesicht.«

Bevor sie sich bewegen konnte, lehnte sich Rial vor und spannte den Körper an.

»Warum?«, wollte er wissen. »Wie kannst du es wagen, mit einem geladenen Gast des Prinzen so zu reden? Die Einladung ist in Ordnung. Tritt beiseite, Soldat. Es ist kalt. Lass uns durch.«

Der Wächter zog drohend sein Schwert. Die anderen am Tor richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Kutsche. Rhapsody wandte sich rasch an Rial.

»Es ist in Ordnung, Rial«, sagte sie hastig. »Sie sind nur vorsichtig.« Sie schaute wieder die Wache an und nahm die Kapuze ab.

Der Soldat riss die Augen auf. Er blinzelte rasch, wandte den Blick ab und legte sich eine Hand über die Augen, um die Fassung wiederzuerlangen. Er gab Rial die zweite Einladung zurück und bedeutete dem Kutscher, in die Stadt einzufahren.

Rhapsody setzte ihre Kapuze wieder auf. »Gehst du direkt ins Gästehaus, Rial?«

Der Schutzherr lächelte. »Ja, weil ich keinen anderen Ort in dieser Stadt kenne. Möchtest du anderswohin gebracht werden, Rhapsody?«

Sie nickte und schaute abwesend aus dem Fenster auf die Massen von Händlern und Soldaten, die durch die Straßen strömten. »Ich brauche einen Schneider. Ich habe keine passende Garderobe bei mir; ich bin schon seit langer Zeit unterwegs.« Mehr als sieben Jahre, auch wenn auf dieser Seite des Schleiers währenddessen keine Zeit vergangen ist, dachte sie im Stillen. Sie drehte sich Rial zu, der sie eindringlich ansah, und lächelte.

»Ich freue mich darauf, Achmeds Geld auszugeben.«

Der heilige Mann seufzte still. Schon wieder ein Kutschenstau. Er schüttelte den Kopf und bat die harsche, schmeichelnde Stimme in seinem Inneren, still zu sein.

Leider erwartete ihn bei der Hochzeit kein wirkliches Vergnügen. Tristans Streitkräfte, die ihm als Herrscher und Oberbefehlshaber treu ergeben waren, waren bereits vereidigt und daher unmöglich dazu zu bewegen, ihm oder seinen Interessen Schaden zuzufügen. Die Truppen waren erstaunlich angeschwollen; die Heere von Roland, die noch in ihren Heimatprovinzen untergebracht waren, aber nach und nach in Bethania zusammengezogen wurden, würde bald mehr als hunderttausend Mann zählen. Bei diesem Gedanken brannten seine Augen vor Erregung.

Dennoch war es hart, eine solch ausgezeichnete Gelegenheit, großen Schaden anzurichten, nutzlos verstreichen zu lassen. Eine königliche Hochzeit, die erste seit vielen Jahren, war ein erstklassiges Jagdgebiet und eine beinahe unwiderstehliche Möglichkeit, einen Gewaltausbruch hervorzurufen. Er hatte bereits für eine kleine Überraschung dieser Art gesorgt, auch wenn er bezweifelte, dass sie die Feierlichkeiten ernsthaft stören würde. Er seufzte wieder. Welch ein Verlust.

Er zog den Vorhang des Kutschenfensters zurück und lehnte sich in den Wind.

Nun, mein gutes Volk, darfst du erscheinen, flüsterte er.

Außerhalb der Innenstadt, am westlichen Ufer des Phon, der wichtigsten Wasserstraße der Provinz, weit hinter dem Blickfeld der Soldaten und versteckt in den dunklen Ödnissen aus behelfsmäßigen Hütten und wackeligen Ställen, die für die umgesiedelten Einwohner von Bethanias Vorstädten errichtet worden waren, brannten plötzlich die Augenränder der Hufschmiede, die noch vor einigen Tagen die Pferde beschlagen hatten, welche den Wagen des heiligen Mannes zogen. Und tief in ihrem Inneren entzündete sich ein dunkleres Feuer. Schweigend beendeten sie ihre Arbeit, verließen ihre Hütten und sammelten im bitterkalten Wind ihre Werkzeuge ein.

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