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Kurze Zeit später kehrte sie mit Armen voller parfümierter Kerzen zurück, und ihre Laute hing ihr über dem Rücken. Constantin öffnete die Tür und fing einige der Kerzen auf, die ihr aus den übervollen Händen fielen. Sie waren ein Geschenk der Fürstin Rowan aus der vergangenen Nacht. Etwas, um deine Traume zu verbessern, hatte sie gesagt. Rhapsody hatte vor dem Einschlafen einige der zartfarbigen Kerzen entzündet und festgestellt, dass ihre Träume süß und frei von Nachtmahren waren, so wie es gewesen war, als sie in Ashes Armen oder bei Elynsynos in deren Höhle geschlafen hatte. Außerdem waren die Träume von ihrer Heimat klar und eindringlich gewesen und hatten bei ihr nach dem Erwachen das Gefühl zurückgelassen, tatsächlich die Familienmitglieder besucht zu haben, von denen sie geträumt hatte. Sie hatte ihren Vater gesehen und umarmt, dazu all ihre Brüder und viele ihrer Freunde, doch ihre Mutter hatte sich ihr entzogen; Rhapsody war über die Felder ihrer Heimat gewandert und hatte vergeblich nach ihr gesucht.

»Es scheint genug Mondlicht herein«, sagte Constantin, als sie die Kerzen auf den Nachttisch stellte.

»Sie sind nicht da, um Licht zu spenden, sie sind für deine Träume«, erklärte Rhapsody. Sie berührte die größte Kerze und sah zu, wie die Flamme hochzuckte. Als sie alle anderen angezündet hatte, bemerkte sie, dass der Gladiator sie im sanften Glanz des Kerzenlichts anstarrte. »Die Fürstin wird auch Yl Breudivyr genannt die Wächterin der Träume und des Schlafes. Unter ihrem Auge scheinen die Träume in diesem Reich wirklicher als gewöhnlich zu sein. In der anderen Welt sind es nur Bruchstücke dessen, was in dieser Welt geschieht. Hier ist es, als würde man das, wovon man träumt, tatsächlich erleben.«

»Wozu dienen dann die Kerzen?«

Rhapsody lächelte. »Ich weiß nicht, woraus sie bestehen, aber sie könnten dabei helfen, die Wiedervereinigung beinahe greifbar zu machen.«

»Die Wiedervereinigung?«

»Ja. Hast du nicht gesagt, du träumst jede Nacht von deiner Mutter?«

Sorge und noch tiefere Empfindungen erfüllten Constantins Gesicht. »Unter anderem.«

»Nun, diese Kerzen halten die unangenehmen Träume in Schach und holen diejenigen hervor, in denen dein Herz spricht. Wenn du es mir erlaubst, spiele ich auf der Laute, während du einschläfst. Vielleicht kann ich den Traum ermuntern, eine Weile bei dir zu bleiben. Ich kann die Kerzen länger als gewöhnlich brennen lassen; das gibt dir mehr Zeit mit deiner Mutter. Meine Lehrerin hat immer gesagt, dass Erinnerungen die erste und stärkste Lektion sind, weil du sie dir selbst gibst. Nur du hast diese Erinnerung die Erinnerung an deine Mutter. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir sie möglicherweise herbringen, wenn auch nur für ein paar Augenblicke.«

Der durchdringende Blick kehrte zurück. »Das würdest du für mich tun?«

»Nur, wenn du es willst. Ich will nicht, dass du dich unwohl fühlst.«

Constantin lächelte. »Ich fühle mich geehrt«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Ich bin bestimmt nicht derjenige, der sich dabei unwohl fühlen wird.«

Der Gladiator schlief schon seit mehr als einer Stunde. Die Kerzen brannten hell, doch Rhapsody bemerkte noch keine Anzeichen eines Traumes. Er lag auf der Seite zusammengerollt in dem großen Bett und schnarchte leicht. Rhapsodys Finger verkrampften sich leicht. Es hatte eine Weile gedauert, bis er eingeschlafen war. Der Geruch der Traumbringenden Kräuter, die sie mitgebracht hatte Fingerkraut, Ackermennig, Brustwurz und Anis machten sie allmählich schwindlig. Insgesamt hatte sie mehr als zwei Stunden auf der Laute gespielt und fragte sich, ob es gut war, gerade jetzt aufzuhören.

Im nächsten Moment erhielt sie die Antwort. Durch den Schleier des Kerzenlichts und den leichten Rauch im Zimmer glaubte sie zu sehen, wie die Tür sich öffnete. Im Türrahmen stand eine große, breitschultrige Frau mit graublondem Haar, das von weißen Strähnen durchzogen war. Ihr Gesicht war hübsch, und sie hatte die gleichen durchdringend blauen Augen wie ihr Sohn, der sich bei ihrem Eintreten im Schlaf aufrichtete.

Rhapsody beobachtete verzaubert, wie die Traumfrau Constantin umarmte, sich zu ihm auf das Bett setzte und ihn wie einen verlorenen Schatz in den Armen wiegte. Der Gladiator weinte im Schlaf. Rhapsody nahm das Lautespiel sanft wieder auf. Als der Duft der Kerzen sie erreichte, kämpfte sie darum, nicht ebenfalls ihrem Zauber zu erliegen.

Die beiden saßen lange zusammen und redeten in einer Sprache, die Rhapsody als Sorboldisch erkannte, aber sie verstand wegen des Lautespiels nicht, was die beiden sagten. Sie wollte keineswegs in das Gespräch eindringen, hatte jedoch Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten und die Hände weiterhin über die Saiten zu bewegen.

Schließlich erhob sich die Frau, küsste ihren lächelnden Sohn auf die Wange und flüsterte ihm Abschiedsworte ins Ohr. Dann verließ sie das Zimmer. Constantin legte sich wieder nieder, fiel in tiefen Schlaf und lächelte immer noch.

Rhapsody brachte das Lied zu einem Ende, als sich Constantin auf die Seite rollte. Die Tür wurde erneut geöffnet; diesmal sah sie, wie ein Traumbild ihrer selbst den Raum betrat und die Tür leise hinter sich schloss. Rhapsody schlug das Herz bis zum Hals. Alles, was sie nun tun konnte, war weiterzuspielen.

In der Dunkelheit seines Traumes trug sie dasselbe weiße Kleid wie alle anderen im Reich der Rowans. Das Traumbild zog es aus und stellte sich neben das Bett. Rhapsody sah den Blick in Constantins Augen, als er die Erscheinung anstarrte. Sie musste für ihn nun wirklicher denn je sein, was er den Kerzen, deren verbleibendes Leben nicht mehr lang war, und dem Lied der Laute zu verdanken hatte.

Ihr Magen drehte sich um, als er die Erscheinung näher an sich heranzog und ihr die Hände auf die Hüfte legte. Sie wusste, was nun geschehen würde, und wollte nicht dabei zusehen. Ihre Haut brannte, als Constantin seine Phantasien in die Tat umsetzte. Rhapsody hätte gern die Augen geschlossen, fühlte sich aber gezwungen zuzusehen, denn an seinen Handlungen war etwas bemerkenswert. Sie waren zart und sanft und hatten nichts von der grausamen Wildheit, die er in Sorbold gezeigt hatte. Er schlief mit der Gestalt, die er als Rhapsody ansah, aber er vergewaltigte sie nicht, wie er es in dem Schlafzimmer des Arenakomplexes vorgehabt hatte. Die Erkenntnis, dass dieser Mann, den sie als gefährlichen Jäger angesehen hatte, zu solch sanften und liebevollen Handlungen fähig war, schnürte ihr den Hals zu. Sie hatte Recht gehabt, was seine Verwandtschaft mit der Tugend der Freundlichkeit anging. Sie schloss die Augen, überließ ihn sich selbst und zupfte fester an den Saiten ihrer Laute, um mögliche Geräusche zu übertönen.

Als sie sicher war, dass der Traum geendet hatte, ging sie zum Bett und stellte sich neben ihn. Sie sah ihn im Schattenlicht der beiden verbliebenen, heruntergebrannten Kerzen zärtlich an. Seine ungeheure Größe und die Wunden an seinem Körper täuschten über sein Alter hinweg. Er war wie sie selbst: scheinbar jung, doch gebeugt unter dem Gewicht seiner Erfahrungen. Mit den geschlossenen Augen und dem zufriedenen Gesichtsausdruck wirkte er sehr verwundbar.

Du hast mir eine Nacht mit dir in meinem Bett versprochen. Du willst doch dein Wort nicht brechen, oder?

Rhapsody löschte die Kerzen und zog die Laken wie in Trance zurück. Sie kroch ins Bett und zwischen die Decken, wobei sie darauf achtete, ihn nicht zu wecken. Dann rutschte sie unter dem groben Stoff heran, bis sie ihn neben sich spürte. Sie legte sanft den Kopf auf seine Schulter und schlang den Arm um seine Hüfte. Sie drängte sich an ihn, so wie sie es bei Grunthor getan hatte, als sie entlang der Wurzel gereist waren.

Im Schlaf zog Constantin sie enger an sich heran und seufzte. Der Laut drang unmittelbar in Rhapsodys Herz. Ryle hira, dachte sie. So ist das Leben. Sie wünschte sich nur, es wäre manchmal nicht so verdammt traurig.

Sie erhob sich kurz vor Sonnenaufgang und ging, als die ersten Strahlen den Zimmerboden berührten. Als der erste Lichtpfeil über die Bettlaken fiel, legte sie ihm die Hände auf die Schulter und beugte sich über ihn, so wie es ihr Abbild in seinem Traum getan hatte. Sie gab ihm einen langen, warmen Kuss auf die Stirn, wobei ihre Haare auf seine Brust fielen. Er sog den Duft ihrer Haut mit dem ersten Atemzug des Erwachens ein.

Er schlug gerade die Augen auf, als sie seine Hände ergriff und auch sie küsste.

»Nun sind die Schalen im Gleichgewicht«, sagte sie leise.

Sie ging zum Stuhl, auf dem ihre weiße Robe lag. Sie zog sie an und lächelte ihm zu, während er sie erstaunt beobachtete; dann öffnete sie die Tür, trat hinaus und schloss sie sanft hinter sich.

Rhapsody schlief in jener Nacht selbst unter dem warmen Glanz einer der Kerzen; es war eine schöne Säule rosenfarbenen Bienenwachses, parfümiert mit Lilabella, einer Pflanze, die für ihre beruhigende und reinigende Wirkung bekannt war. Der würzige Duft drang in ihren Geist und klärte viel von ihrer Verwirrung, hinterließ aber einen leichten Kopfschmerz. Dunstige Rauschwaden sammelten und zerstreuten sich in ihrem Traum, als würden sie von einem kalten, reinigenden Wind fortgeblasen.

In der Benommenheit des schmerzhaften Schlafes öffnete Rhapsody die Augen. Vor ihr stand Fürst Rowan, gekleidet in Waldgrün, und stützte sich auf einen Stab aus Winterholz. Begreifst du jetzt, wofür du kämpfst? Die Worte erfüllten ihren Verstand, auch wenn er sie nicht laut ausgesprochen hatte.

Ihre Antwort kam wie ein Lied, an das sie sich nicht mehr erinnerte, das sie aber vor langer Zeit einmal gekannt hatte.

Für das Leben selbst, erwiderte sie. Die F’dor hassen das Leben und versuchen, es auszulöschen. Wir kämpfen um das Leben selbst.

Ja, und um noch mehr. Der Fürst ging in den nebligen Wald ihres Traumes hinein, drehte sich kurz um und sah sie an. Du kämpfst auch um das Nachleben.

Das verstehe ich nicht.

Die Schlacht wird nicht nur um dieses Leben geführt, sondern auch um das Nachleben. Es gibt das Leben, und es gibt die Leere. Die Leere ist der Feind des Lebens und wird es verschlucken, wenn sie kann. Das Leben ist stark, aber die Leere wird stärker.

Fürst Rowan verschwand im Nebel; nur seine Worte hingen noch in der dunstigen Luft ihres Traumes.

Du darfst nicht verlieren.

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