23

Bei der Stadt Tyrian, im Wald von Tyrian

Ein Vogelruf stieg von den Grenzwächtern Tyrians auf, während sie sich der kastanienbraunen Stute und ihren Reitern näherten. Oelendra lauschte dem Triller: Ein Reiter mit einem Kind. Sie lächelte, als sie die Codenamen hörte: Es ist die Göttin ohne Sünde. Sie verließ das Zelt, um Rhapsody zu begrüßen.

Ein kleiner, braunhäutiger Junge ritt vor ihr auf der Stute, ein Kind mit leuchtendem schwarzem Haar und großen, dunklen Augen. Der Junge starrte mit der Ehrfurcht eines Wüstenbewohners umher, der nie zuvor in einem Wald gewesen war. Rhapsody sprach immer wieder mit sanfter Stimme zu ihm, was ihn zu beruhigen schien. In ihrem Arm, in seinem Rücken und damit außerhalb seines Blickfeldes hielt sie ein Bündel, von dem Oelendra annahm, dass das Kind darin eingewickelt war. Einen Moment später ertönte ein dünnes Kreischen und bestätigte ihre Vermutung. Oelendra kicherte, als die Vogelstimmen sofort die Anzahl der Kinder bei der Reiterin neu nannten.

Vier lirinsche Wachen begrüßten sie am Rande der inneren Waldgrenze, wie es jedes Mal der Fall war. Einer ergriff den Zügel, den sie ihm entgegenwarf, während ein anderer diejenigen Satteltaschen abnahm, die sie ihm bezeichnete, und sie zu Oelendras Haus trug. Die anderen beiden Grenzwächter schritten den Weg ab, den sie genommen hatte, um sicherzustellen, dass ihr niemand gefolgt war, während der Erste ihr den Zügel zurückgab. Sie alle waren an dieses Reglement gewöhnt; es war das dritte Mal, dass Rhapsody Oelendra Kinder brachte, damit diese sie in ihre Obhut nahm. Doch nun war sie zum ersten Mal allein gekommen. Bei den früheren Gelegenheiten war sie zusammen mit Achmed erschienen. Die Lirin hatten den Fir-Bolg-König als Rhapsodys Gast ehrerbietig behandelt, doch sie hatten ihm nicht den königlichen Pomp gewährt, mit dem sie einen anderen möglicherweise empfangen hätten. Dies war die Vereinbarung, mit der sie alle einverstanden gewesen waren, als sie die Strategie entworfen hatten, mit der die Kinder des F’dor aufgespürt und eingesammelt werden sollten. Oelendra genoss es, nach der wachsenden Schar zu sehen, bis Rhapsody zurückkehren und sie hinüber zu Fürst und Fürstin Rowan bringen konnte.

Zu Beginn hatte Oelendra gezögert, die Brut des Dämons aufzunehmen, den sie mehr als alles andere hasste, doch schließlich hatte sie sich überreden lassen und war froh darüber. Obwohl einige der Kinder sehr wild waren und besonders eines sich als ausgesprochen unangenehm erwies, erkannte sie allmählich an, dass sie zumindest in gewisser Hinsicht trotz ihrer dämonischen Veranlagung Kinder wie alle anderen waren. In der Zeit zwischen Rhapsodys Besuchen waren sie Oelendra ans Herz gewachsen selbst Vincane, der sie mehr ärgerte als jedes andere Kind, dem sie je begegnet war.

Auch Rhapsody fühlte sich zu ihnen hingezogen. Die meisten hatte sie unter schlimmen Umständen angetroffen, denn alle waren Waisen. Sie hatte stets versucht, wenigstens ein paar Tage damit zu verbringen, es ihnen in dem Wald schön zu machen, bevor sie und Achmed wieder aufbrachen und nach den anderen suchten. Ohne seine Fähigkeit, das Blut aus der alten Welt aufzuspüren, wäre es unmöglich gewesen, sie zu finden. Das hatte Rhapsody Oelendra gesagt, und es stimmte. Abgesehen von der unsichtbaren Zeichnung, die nur Achmed erkennen konnte, und einem gelegentlichen wilden Blick waren sie von anderen Kindern nicht zu unterscheiden.

Rhapsody schnalzte mit der Zunge, und die Stute ging weiter. Sie war offenbar müde und brauchte Wasser. Eine Ziege, vom Pferd verdeckt, war an den Sattel gebunden und folgte hinterher. Oelendra sah, wie das Lächeln der Sängerin heller wurde, als diese sie bemerkte. Rhapsody band etwas von ihrem Gürtel los, als Oelendra sich neben sie stellte.

»Ich bin froh, dass du wieder hier bist; es hat länger gedauert als erwartet.«

»Das Wetter hat mich in Zafhiel festgehalten. Der Schneesturm war schlimmer als der in Hintervold, als wir Anya und Mikita geholt haben. Hat die Salbe ihre Frostbeulen geheilt?«

»Ja, es geht ihnen viel besser.«

»Und Arie?«

»Er hat noch einige Schwierigkeiten mit seinem Bein«, antwortete Oelendra, während Rhapsody mit einer Hand Schwert und Scheide vom Gürtel nahm. »Ansonsten geht es ihm gut.«

»Ich werde mir sein Bein heute Nachmittag ansehen, wenn sich alles beruhigt hat. Vor ein paar Tagen ist mir eine Idee für eine andere Behandlung gekommen. Da wir jetzt wenigstens einen Teil seines richtigen Namens kennen, können wir es bestimmt ganz heilen.«

»Mari stiehlt keine Lebensmittel mehr; ich glaube, er hat es einfach nicht mehr nötig, weil es genug davon gibt. Und Ellis hat etwas für dich gemacht.« Die Lirin-Kriegerin sah ihrer Freundin ins Gesicht, während diese von den Kindern erzählte; sie glühte vor Freude. Rhapsody hielt das Schwert von der Stute fort. »Hier, Oelendra«, sagte sie und hielt ihr die Tagessternfanfare mitsamt der Scheide entgegen. »Bewache sie für mich, ja? Wenn ich allein in Sorbold bei dem Versuch sterben sollte, einen Preisgladiator zu stehlen, will ich nicht, dass es ihnen in die Hände fällt. Es könnte Krieg nach Tyrian bringen.«

Oelendra sah sie einen Moment lang an und nickte dann. Sie schien kurz zu zögern und griff dann nach der Tagessternfanfare.

Rhapsody legte ihrer Lehrerin das Schwert in die Hand. »Ich sollte es dir sofort geben, sonst könnte ich es vergessen; es ist wie eine Verlängerung meiner selbst.«

»So sollte es sein.« Oelendra nahm die Waffe und steckte sie an ihren Gürtel. Sie versetzte der Stute einen sanften Klaps, um sie zu beruhigen, dann streckte sie die Arme nach dem Kind aus. Es wich zurück und hielt sich an Rhapsody fest; Angst zeigte sich auf seinem braunen Gesicht.

Die Sängerin lehnte sich vor und redete sanft mit dem Jungen im Dialekt der fernen westlichen Provinzen. »Es ist alles in Ordnung, Jecen. Das ist Oelendra. Sie ist meine Freundin, und sie ist sehr nett. Sie wird dir beim Absteigen helfen. Hab keine Angst.« Die Angst in den dunklen Augen des Jungen löste sich unter dem warmen Lächeln Rhapsodys auf. Er drehte sich nach Oelendra um und streckte die rundlichen Arme aus.

»Welch ein netter kleiner Mann. Du musst hungrig sein«, sagte die grauhaarige Frau, hielt ihn gegen ihre Hüfte und nahm die Satteltasche, die Rhapsody ihr entgegenstreckte. »Das Mittagessen ist fast fertig. Kommst du mit dem Säugling allein zurecht, Rhapsody?«

»Ja«, erwiderte Rhapsody, wiegte das Kind im linken Arm und hielt sich mit dem rechten am Sattel fest. Sie schwang sich vom Pferd und schlang ihr Gepäck über die Schulter, während einer der lirinschen Wächter wieder das Zaumzeug nahm. »Vielen Dank«, sagte sie zu dem Mann und erhielt dafür einen seltsamen Blick. Sie fuhr mit den Fingern durch die Mähne der Kastanienbraunen. »Gutes Mädchen«, sagte sie sanft. »Hol dir etwas zu essen und mach ein Nickerchen. Du hast es dir verdient.« Die Stute wieherte, als stimme sie ihr zu. Rhapsody strich der Ziege über den Kopf und kraulte ihr die Ohren, bevor die Tiere weggeführt wurden.

»Wir wollen uns dieses Kleine einmal ansehen«, meinte Oelendra und schaute dem Baby ins Gesicht. Das hässlichste Lirin-Neugeborene, das Oelendra je gesehen hatte, war in eine lederne Flagge eingewickelt, doch Rhapsody schaute mit einem sanften Blick auf es herab, der ihrem Gesicht etwas strahlend Mütterliches verlieh.

»Ist sie nicht niedlich?«, gurrte sie. »Sie ist während der langen Reise so geduldig gewesen. Du wirst sie mögen, Oelendra. Sie ist so gut.« Oelendra musste lächeln.

Die Wachen führten das Pferd fort, und die beiden Frauen brachten die Kinder in Oelendras Quartier. Oelendra gab Jecen ein paar von den Kiranbeeren, die sie in der Tasche hatte.

»Hattest du Probleme auf der Reise?«, fragte sie, während das Kind die Früchte aus ihrer Hand naschte.

»Nein, es sei denn, du zählst den Umstand dazu, dass die Kleine andauernd gesäugt werden wollte.« Rhapsody lachte. »Vermutlich ist das einer der Gründe, warum ich sie so mag. Sie ist die erste Person, die glaubt, ich hätte etwas Wesentliches unter dem Hemd verborgen.«

Oelendra lächelte erneut. »Irgendwie bezweifle ich das.«

»Ich wünschte, ich hätte dem armen Kind helfen können. Ich habe mich schnell daran gewöhnt, mit den beiden, der Ziege und einem Wasserschlauch voll entrahmter Ziegenmilch zu reiten, der mir aus dem Hemd ragte. Glücklicherweise hat mich niemand angehalten.«

Oelendra lachte wieder und öffnete die Zeltklappe.

Vor dem Zelt stand Quan Li, das Älteste der Kinder, die Rhapsody zu Oelendra gebracht hatte. Das Gesicht der Sängerin erhellte sich, als sie das Mädchen sah. Sie umarmten sich, und Rhapsody drückte ihr einen raschen Kuss auf die Wange. »Wie geht es dir, Quan Li?«, fragte sie, als Oelendra Jecen auf dem Boden absetzte. Rhapsody nahm seine Hand und legte sie in die des Mädchens. »Das ist Jecen, und er ist sehr hungrig. Glaubst du, du kannst ihn mit nach drinnen nehmen und ihm einen Platz für das Mittagessen zuteilen? Geh mit Quan Li, Jecen. Ich komme gleich nach; ich will nur noch kurz mit Oelendra reden.« Jecen winkte ihr zu, als er weggeführt wurde, und sie winkte zurück.

Die Frauen warteten, bis die Kinder im Zelt waren, und entfernten sich dann einige Schritte.

»Wie war die Geburt?«, fragte Oelendra und fuhr mit der Hand zärtlich über den spitzen Kopf des Säuglings.

»Wenn das Schicksal freundlich ist, werde ich nie wieder so etwas sehen müssen«, sagte Rhapsody und erblasste unter der Erinnerung. »Ich habe versucht, das Leid der Mutter so gut wie möglich zu lindern, aber es ist mir nur gelungen, das Kind zur Welt zu bringen und die Mutter so lange am Leben zu erhalten, dass sie es in den Arm nehmen konnte.« Sie zog das Kleine an ihre Wange und küsste es. »Ich erschrecke bei dem Gedanken, wie es bei den anderen gewesen ist, wo kein Heiler dabei war. Sie haben ihre Kinder vermutlich nicht einmal gesehen. Es macht mich krank, wenn ich daran denke.« Ihr Blick verschwamm, und Oelendra legte ihr den Arm um die Schulter.

»Wenigstens war es das Letzte«, sagte sie.

»Nicht ganz«, berichtigte Rhapsody sie grimmig. »Ich muss den Ältesten noch holen. Mit ein wenig Glück wird Llauron dazu etwas einfallen. Achmed ist schon nach Ylorc zurückgereist, und ich bin nicht gerade erpicht darauf, ohne ihn loszuziehen. Seine Hilfe bei der Suche nach den Ersten neun war unschätzbar.«

»Wenn du die richtige Verstärkung bekommst, wird es schon gehen«, sagte Oelendra.

»Sorboldische Gladiatoren sind im Ring und beim Kampf Mann gegen Mann gefährlich, aber sie sind nicht gewöhnt, gegen mehrere Feinde gleichzeitig zu kämpfen. Sieh nur zu, dass du nicht allein bist. Und denk daran, dass du ihn umbringst, falls du in eine unhaltbare Lage gerätst. Es ist schön und gut, dass du ihn retten willst, aber dein Leben ist es nicht wert.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Rhapsody ihr bei. Das Neugeborene streckte sich und gähnte und rief bei beiden Frauen eine freudige Reaktion hervor.

»Du hast Recht, was sie betrifft«, sagte Oelendra. »Sie ist schön.«

»Sie ist eine Kämpferin«, meinte Rhapsody stolz. »Sie hat wirklich einen unaussprechlichen Albtraum durchgemacht. Ich wünschte, du hättest das Gesicht ihrer Mutter gesehen, als sie ihr Kind in den Armen gehalten hat. Sie konnte nicht reden, aber...«Ihr versagte die Stimme, und sie neigte den Kopf. Als sie wieder aufschaute, hatte ihr Gesicht einen harten Ausdruck angenommen. »Dieser Dämon hat mir wirklich einen guten Grund gegeben, ihm das Herz herauszureißen«, sagte sie gefühllos. »Ich will es ihm heimzahlen.«

»Mäßige deinen Hass; er wird ihn gegen dich einsetzen«, sagte Oelendra. Sie fuhr mit ihren langen Fingern durch das schwarze Haar des Kindes. »Dein Grund, ihn zu vernichten, sollte nicht die Vergangenheit der Mutter, sondern die Zukunft des Kindes sein. Wenn du das beherzigst, wirst du Erfolg haben, weil es das Richtige ist, und nicht, weil du Rache üben willst. Im Ersteren steckt mehr Macht als im Letzteren. Das ist etwas, das ich nicht tun kann. Mein Hass ist zu tief eingewurzelt, aber du, Rhapsody, hast die Möglichkeit, die Dinge gerade zu rücken. Die Scheußlichkeit seiner Taten aber sollte deine Beherrschung nicht zerstören.«

»Wenn du so redest, klingst du wie meine Mutter«, meinte Rhapsody lächelnd. »Ich frage mich oft, ob ihr beiden verwandt seid.«

»Sie und ich haben einiges gemeinsam«, sagte Oelendra und erwiderte ihr Lächeln. »Wie sollen wir die Kleine benennen?« Sie sah zu, wie die Runzeln im Gesicht des Neugeborenen tiefer wurden, als es im Schlaf die Lippen schürzte und saugende Bewegungen machte.

»Schon wieder«, lachte Rhapsody. »Da kommen mir einige lustige Dinge in den Sinn, aber ich glaube, ich würde sie gern Aria nennen.« Sie liebkoste die kleine Hand, und die Erinnerung an Ashe stieg in ihr auf. Schmerzlich spürte sie seinen Verlust, als sie daran dachte, dass nichts mehr so sein würde, wie es gewesen war. So würde sie nie wieder hören, wie er ihren Namen rief. Sie dachte an die Zukunft, die mit jedem Tag näher kam eine Zukunft, an der er nicht teilhaben würde. Sie fuhr mit dem Finger über die winzigen Knöchel und dachte daran, dass diese Kinder ein gewisser Trost sein würden, wenn es so weit war. Oelendra hatte ihre eigenen Erinnerungen bei diesem Namen. »Ausgezeichnet«, sagte sie leise und dachte an damals zurück.

»Mein erstes Geschenk für sie war ein Lied das Lied, das ihrer Mutter ein paar Augenblicke zusammen mit ihr geschenkt hat«, sagte Rhapsody und blinzelte einige Tränen fort. »Wenn es nicht zu anmaßend ist, würde ich eines Tages gern jedem Kind in Tyrian dasselbe Geschenk machen: ein Lied, das nur ihnen allein gehört. Glaubst du, das ist dumm?«

»Nein«, antwortete Oelendra und lächelte sie freundlich an.

»In Serendair hat die Königin, der ich gedient habe, etwas Ähnliches getan, doch durch eine andere Art von Geschenk. Du würdest eine schöne Tradition fortsetzen. Komm, wir wollen nach den anderen sehen. Ich weiß, dass sie auf dich warten.« Sie zog die Zeltklappe zurück, damit Rhapsody eintreten konnte, und hörte den Chor erregter Kinder, die sie sofort umschwärmten und alle gleichzeitig auf sie einredeten. Sie sah, wie das Gesicht der Sängerin vor Freude glühte, während sie sich niederbeugte, um die Kinder zu umarmen und ihnen das Neugeborene zu zeigen. Sie wusste, dass es nicht die einzige Tradition der Königin von Serendair war, die Rhapsody eines Tages wiederholen würde.

»Dann bist du also auf dem Weg zu Llauron?«, fragte Oelendra später, als sie das schlafende Kind in die Wiege legte. Sie bedeckte es mit einem Laken aus gesponnener Wolle und strich ihm sanft über den Rücken, bevor sie sich in ihren Sessel setzte.

Rhapsody nickte. Sie wiegte zwei der kleinsten Kinder in dem Schaukelstuhl vor Oelendras Herd; der Feuerschein spielte auf ihrem Gesicht. »Er weiß mehr als jeder andere über sorboldische Kultur. Obwohl dieses Land an Achmeds Grenze liegt, kennt er nicht viel davon.«

»Die Berge haben die Eigenschaft, Informationen und Feinde zurückzuhalten«, meinte Oelendra. »Bist du sicher, dass du Llauron vertrauen kannst?«

»Meinst du, ich kann es nicht?«

»Nein.« Die lirinsche Meisterin nahm ihren Becher mit gewürztem Met und hob ihn an die Lippen. Nachdem sie getrunken hatte, bemerkte sie, dass Rhapsodys samaragdene Augen auf sie gerichtet waren und den Feuerschein widerspiegelten. »Erinnerst du dich an den Blutsverwandtenruf, den ich dir beigebracht habe, als du zur Ausbildung zu mir kamst?«

Rhapsody nickte, aber sie ließ den Blick nicht von Oelendra. »Ja. Beim Stern werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.« Oelendra nickte. »Ich saß auf einem Pferd und wollte gerade Sepulvarta verlassen, um den Patriarchen zu verteidigen; daher erinnere ich mich nicht an mehr. Was hat das mit Llauron zu tun?«

»Mit Llauron hat es nichts zu tun; wir kommen gleich auf ihn zurück. Es ist wichtig, dass du dich an diesen Ruf erinnerst. Du hast gesagt, du habest in der Nacht in Sepulvarta einen Flüsterton im Ohr gehört, als du Wache gestanden und für den Patriarchen gekämpft hast?«

»Ja.«

Das Gesicht der älteren Frau nahm das Leuchten des Feuers auf. »Ich glaube, du bist jetzt selbst eine Blutsverwandte, Rhapsody. Im alten Land waren die Blutsverwandten eine Bruderschaft von Kriegern und Meister in der Kunst des Kampfes; sie waren dem Wind und dem Stern geweiht, unter dem du geboren wurdest. Aus zweierlei Gründen wurden sie in die Bruderschaft aufgenommen: Sie mussten ein unglaubliches Kampfgeschick aufweisen, das sie sich in einem langen Soldatenleben erworben hatten, und sie mussten selbstlos anderen dienen und die Unschuldigen mit dem eigenen Leben schützen. Meiner Meinung nach hat dich der Umstand, dass du in jener Nacht in der Basilika den Patriarchen vor dem Rakshas geschützt hast, als eine dieses Ordens bestätigt.«

»Aber das war in der alten Welt«, sagte Rhapsody und kraulte Jecens Hals. Das Kind seufzte im Schlaf. »Gibt es diese Blutsverwandten denn noch?«

»In diesem neuen Land habe ich noch nie einen getroffen«, antwortete Oelendra und schaukelte sanft Arias Wiege. »Ich weiß nicht, ob die Bruderschaft noch existiert. Wenn ja, dann wird jeder Blutsverwandte, der dich hört, deinen Hilferuf auf dem Wind beantworten, falls du selbst zu ihnen gehörst. Genauso musst du antworten, wenn du den Ruf hörst.«

»Das werde ich tun«, versprach Rhapsody. »Reden wir bitte wieder über Llauron. Was sind deine Bedenken? Achmed hegt schon seit langem den Verdacht, dass er der Wirt des F’dor sei. Glaubst du das auch?«

»Nein«, antwortete Oelendra knapp. In ihrer Stimme lag eine Endgültigkeit, die Rhapsody dazu trieb, ins Feuer zu schauen.

Oelendra schwieg einen Moment und betrachtete ihr Gesicht. »Hast du Angst, Llauron könnte Gwydion ... äh, Ashe ... von den Kindern erzählen?«

»Eigentlich nicht«, meinte Rhapsody und küsste die schlummernden Köpfe. »Llauron wird seinem Sohn durchaus Dinge vorenthalten, die für seine Ziele wichtig sind. Du solltest die Briefe sehen, die er mir nach Ylorc geschickt hat. Er hat mich in höflichen Worten angeklagt, weil ich der cymrischen Wiedervereinigung nicht genug Zeit gewidmet habe. Als Ashe ihm über uns berichtet hat, wurden die Briefe sogar noch schlimmer. Er wollte wissen, ob ich der Grund dafür sei, dass sein Sohn kaum mehr da sei. All das war im dunklen Dialekt des Alt-Serenne geschrieben und überdies verschlüsselt. Ich habe übrigens Ashe nur deshalb noch nichts von den Kindern gesagt, weil ich ihn nicht verletzen will. Er wird am Boden zerstört sein, wenn er erkennt, dass die Taten, deren Zeuge seine Seele war, diese Situation nach sich gezogen haben. Er wird glauben, es sei seine Schuld.«

Oelendra starrte in das Feuer. »Nein, es ist sicherlich nicht seine Schuld«, sagte sie abwesend. Rhapsody sah sie an und wartete darauf, dass sie weitersprach, doch sie tat es nicht.

»Weißt du, wo diese Kinder doch so verschieden sind, ist es erstaunlich, dass nicht eines von ihnen kupferfarbenes Haar hat.«

»Wieso?«, fragte Oelendra und tauchte aus ihren Gedanken auf. »Der Rakshas mag wie Gwydion ausgesehen haben, aber sein Blut war das des F’dor. Es gibt zwischen ihnen keine Blutsbande.«

»Das weiß ich, aber für Ashe wird es immer noch diesen Anschein haben«, sagte Rhapsody und streichelte Mikita, die im Schlaf wimmerte. »Das Fragment seiner Seele, das dem Rakshas Macht gegeben hat, hat viele unaussprechliche Dinge mit angesehen, und Ashe verfügt über Teile dieser Erinnerung. Jenseits der Vernunft spürt er Schuld, gerade so als wäre er an diesen Taten beteiligt gewesen. Ich bin froh, dass keines der Kinder ihm irgendwie gleicht.«

»Nun, der Drache in ihm wird wissen, dass es nicht seine Kinder sind«, sagte Oelendra. »Da wir schon über Ashe reden, wo ist er eigentlich?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Rhapsody. »Als wir uns getrennt haben, wollte er nach Süden über die Krevensfelder. Ich glaube, dort sind Feindseligkeiten zwischen einem menschlichen Außenposten und den sorboldischen Wachen ausgebrochen. Wir haben geplant, uns in Bethania zur Hochzeit des Fürsten von Roland zu treffen. Vielleicht sehe ich ihn dort. Wer weiß?«

»Seltsam«, bemerkte Oelendra.

»Ja, alles ist seltsam. Hoffentlich ist es bald vorbei.«

»Ich habe dich genau angesehen, als du gesagt hast, du wissest nicht, wo Ashe ist. Du vermisst ihn, nicht wahr?«

»Ja. Warum?«

»Du zeigst es nicht.«

Rhapsody seufzte. »Ich wusste die ganze Zeit, dass er nie der meine sein kann, Oelendra. Was du über Pendaris und dich gesagt hast, hat mir überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, ihn zu lieben. Ich glaube, in unserer kurzen Zeit zusammen haben wir so viel geliebt wie andere in einem ganzen Leben.«

Oelendra lächelte. »Der Unterschied, Rhapsody, besteht darin, dass ihr beide noch lebt. Beurteile nie den Wert eines ganzen Lebens, so lange es noch andauert.« Die Flammen knisterten zustimmend. Die beiden Frauen saßen in verstehendem Schweigen vor dem Feuer, bis es in der Dunkelheit des Zeltes zu Kohlen heruntergebrannt war.

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