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Im Süden von Bethe Corbair

Der Wind über den Krevensfeldern wehte bis in die Senken und ließ das versteckte Feuer kurz knistern und zucken. Funken flogen himmelwärts. Kurz darauf sank es wieder zu einem dumpfen Schwelen herab. Die drei schauten sich um und suchten den Horizont nach Augen ab, die möglicherweise die Glut bemerkt hatten. Die beiden kleineren Reisenden wandten sich an den Riesen, der den Kopf schüttelte, sich wieder zurücksetzte und leise ausatmete. Grunthor kannte die Erde. Wenn sich jemand in Sichtweite befunden hätte, wäre er nicht unbemerkt geblieben.

Rhapsody griff in die Kohlen. »Slypka«, sagte sie. Verlöscht. Die Flammen sanken sofort zu Asche zusammen und nahmen das Licht mit.

»Versuch ein wenig zu schlafen«, sagte Achmed zu ihr und zog sich den Kapuzenmantel über die Schultern. »Du siehst müde aus.«

Grunthor legte den Arm um sie und zog sie an seine Brust. »Nichts zu befürchten, Liebes. Wir kriegen ihn. Ruh dich jetzt aus. Wie in alten Zeiten.« Er grinste sie an. Seine Hauer standen auf eine Weise aus dem Mund, die Rhapsody inzwischen lieb gewonnen hatte, auch wenn sie wusste, dass ein Fremder diesen Anblick entsetzlich gefunden hätte.

Er las ihre Gedanken. Die Tötung des Dämons war letztendlich ihre Aufgabe. In der Dunkelheit mitten in der Nacht mit nur den Sternen als Zeugen ihrer Pläne fühlte sie sich plötzlich klein und verwundbar. Sie fürchtete nicht um ihren eigenen Tod. Es war die Möglichkeit des Versagens, unter der sie nun stärker als unter der Kälte erzitterte. Dankbar schlüpfte sie in den Überzieher, den der Sergeant für sie offen hielt. Er hüllte sie mit Wärme ein, so wie er es vor so langer Zeit an der Wurzel getan hatte. Sie stieß einen Seufzer der Erinnerung aus. Mit Ausnahme der Drachen, neben denen sie geschlafen hatte, war Grunthor der Einzige auf der Welt, der sie vor ihren eigenen Träumen beschützen konnte. Sie legte einen Arm um seine breite Hüfte und hoffte verzweifelt, er würde auch in der nächsten Nacht noch leben und sie wieder bei ihm einschlafen können. Das Wissen darum, dass sie noch nie an einem Kampf wie dem teilgenommen hatte, der sie am nächsten Tag erwartete, erschreckte sie zutiefst.

Die gewaltige Hand strich ihr ungelenk über den Kopf, und entspannt sank Rhapsody in Schlaf. Grunthor wartete, bis ihr rhythmisches Atmen ihren tiefen Schlummer anzeigte, sodass er reden konnte, ohne befürchten zu müssen, sie könne ihn hören. Er sah Achmed an.

»Wie lautet der Plan?«

Achmed schaute in den Himmel und erinnerte sich an eine Nacht unter anderen Sternen vor so langer Zeit, die von einem Sommerregen durchzogen war. Nun befanden sie sich auf der anderen Seite der Welt und suchten nach einem Dämon wie dem, vor dem sie damals geflohen waren. Der Name, den der Bolg-König trug, war nun sein eigener und stellte nicht länger ein unsichtbares Band um seinen Hals dar. Und sie waren nicht zu zweit, sondern zu dritt den Wahrsagern zufolge eine Unglückszahl, auch wenn das schwer zu glauben war, wenn man sich den Neuzugang zu ihrer Gruppe ansah, der sich gerade in Grunthors Arme kuschelte.

»Sobald es beginnt, ist es ihr Kampf und deiner. Ich kann mich nur auf das Bannritual konzentrieren«, sagte er leise. Der übliche Sand in seiner Stimme wurde noch trockener. »So lange das Bannritual steht, werde ich mich nur darum kümmern. Falls Rhapsody nicht mehr kämpfen kann, musst du ihr Schwert nehmen und die Bestie töten.« Der Bolg nickte. »Wenn das Bannritual aufhört, muss der Dämon aus seinem gegenwärtigen Wirt fliehen. Bring jeden um, der noch atmet.« Grunthor nickte erneut.

»Sie kriegt das hin, nicht wahr?«, meinte er gedämpft und strich ihr mit der Hand über den Rücken. Rhapsody nickte im Schlaf und flüsterte Worte, die nicht einmal sie verstand. Achmed sah hoch zum Himmel. »Ich hoffe, du hast Recht.«

»Euer Gnaden?«

In der Dunkelheit seiner Studierstube wandte sich der Seligpreiser dem einsamen Rechteck aus Licht zu, das durch die offene Tür fiel.

»Ja?«

»Aus Sorbold ist die Nachricht eingetroffen, dass die Lirin-Königin Tyrian verlassen hat. Sie ist vor zehn Tagen gesehen worden, wie sie allein über die Ebene an der Grenze der nördlichen Stadtstaaten geritten ist.«

»Wohin war sie unterwegs?«

»Man hat sie bis zum Rand der Zahnfelsen verfolgt und dort ihre Spur verloren.«

Von der Tür aus konnte Gittelson nur den Umriss des Seligpreisers erkennen, der in seinem Sessel saß. Dann öffnete Lanacan Orlando die Augen. Zwei weiße Punkte leuchteten im Dunkel auf und waren umrandet von der Farbe des Blutes. Er lächelte. Ein dritter Lichtfleck erschien in der Finsternis und glitzerte vor Freude.

»Vielleicht ist die Hure läufig«, sagte das Gespenst mit warmer und sanfter Stimme. »Ihr erwählter Hengst jagt hinter Khaddyrs armen Gefährten her. Vielleicht will sie dem Fir-Bolg-König in die Arme laufen.«

»Vielleicht, Euer Gnaden.«

Der Stuhl drehte sich wieder langsam von ihm weg. »Sei kein Narr, Gittelson. Sie kommt her.«

»Das Essen an diesem Ort war entsetzlich. Warum willst du dorthin zurückkehren?«

Rhapsody gab dem Fir-Bolg-König einen freundschaftlichen Stups. »Mit dem Herbergsessen war alles in Ordnung«, sagte sie. »Es war die Gesellschaft, gegen die du etwas hattest. Dort hast du Ashe zum ersten Mal getroffen.«

»Das erklärt alles. Kein Wunder, dass sich mir der Magen umgedreht hat.« Achmed schaute sich auf der Straße um, sah aber Grunthor nirgendwo. Die Mittagssonne warf nur unbedeutende Schatten. Vermutlich lauerte der Sergeant irgendwo im Hauseingang einer Seitenstraße und wartete auf einladendere Schatten. Er hielt Rhapsody einen Stuhl hin und sah zu, wie sie sich die Kapuze enger um den Kopf zog, während sie sich setzte. Der Wind war kalt; sie waren die einzigen Gäste, die vor der Taverne saßen, während die anderen im Innern und näher beim wärmenden Feuer und dem Bier Platz genommen hatten.

Die Glocken der Basilika läuteten wild im Wind; süße, beiläufige Musik schwebte durch die Straßen und über den Gebäuden von Bethe Corbair. Es waren Laute, die in Rhapsodys Seele widerhallten, doch das Wissen, dass irgendwo unter dem Glockenturm das undenkbar Böse lauerte, nahm ihr die Freude an der Musik. Sie neigte den Kopf und schlug die Augen nieder, als Achmed Rum und Lamm für sich selbst und Suppe für sie bestellte. Dann warf sie noch einen Blick über die Schulter auf die Kirche, als der Wirt wieder hineinlief.

Achmed schloss die Augen. Als er das Gebiet in der Nähe der Basilika zum ersten Mal abgesucht hatte, war ihm an den Schwingungen nichts Ungewöhnliches aufgefallen, doch der Geruch des Dämons war unverkennbar. Grunthor hatte sofort die Grenzen des verseuchten Gebiets aufgespürt. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt. Die Basilika war auf eine Weise entweiht worden, die dem Auge und den anderen Sinnen unsichtbar war. Die Verseuchung erstreckte sich bis in die benachbarten Straßen. Tausende unwissender Kirchgänger schritten über die faule Erde und wussten nichts von der dämonischen Besessenheit. Achmed zuckte unter der Erinnerung an die erste Begegnung mit Ashe in den Schatten der Basilika zusammen. Er hatte die Verunreinigung für den Bruchteil einer Sekunde gespürt und angenommen, Llaurons Sohn sei deren Quelle. Das war ein Fehler gewesen.

Rhapsody lauschte angestrengt der Musik des Glockenspiels. Ihre Suppe wurde gebracht. Sie rührte sie nicht an, sondern saß gedankenverloren da und sah geistesabwesend zu, wie sie kalt wurde. Schließlich schaute sie Achmed an. Unnatürliches Licht schimmerte in ihren smaragdgrünen Augen, und ihr Gesicht glühte.

»Ela«, flüsterte sie. Erregung flackerte in ihren Augen auf. Sie ergriff seine zitternde Hand.

»Ela«, sagte sie erneut.

»Was brabbelst du da? Ich verstehe kein Alt-Lirin.«

»Das war kein Alt-Lirin, sondern ein Ausdruck aus der Musik«, erklärte Rhapsody leise. »Es ist die letzte Note der alten, aus sechs Tönen bestehenden Tonleiter. Auf diese Weise wurde Musik zur Zeit der Erbauung der Basilika vor vielen Jahrhunderten aufgeschrieben. Ut, re, mi, fa, sol und la oder ela erst viele Jahre später nahm man das ti dazu, die siebte Note der Oktave, und do, derselbe Ton wie ut, aber eine Oktave höher. Zufällig ist es meine Namensnote die Note, auf die ich gestimmt bin.«

»Rhapsody, hör mit diesem Gerede auf. Was hat dich so aufgeregt?«

»Sie fehlt.«

»Was fehlt?«

»Ela. Die letzte Note der Tonleiter fehlt im Glockenspiel; es hat nur fünf Noten.«

»Und wie viele Glocken betrifft das?«

»Nun, Fürst Stephen sagte, dass im Turm achthundertsechsundsiebzig Glocken hängen eine für jedes cymrische Schiff, das die alte Welt verlassen hat. Wenn das der Fall ist und ma: die Glocken im Sechstonsystem in je gleicher Anzahl aufgehängt hat, müssten etwa einhundertvierzig diese Note haben.«

»Einhundertsechsundvierzig.«

»Richtig. Ich kann die anderen Gruppen heraushören, und genauso viele fehlen. Es ist ein sehr feiner Unterschied, und wenn sich das Glockenspiel schon seit langer Zeit so anhört, wird es niemand außer einem Sänger oder einer Sängerin bemerken, und auch dann nur, wenn er oder sie genau hinhört. Lanacan muss die Klöppel aus den Glocken entfernt haben, denn es wäre zu offensichtlich gewesen, die Glocken selbst abzuhängen. Das hätte er niemals geschafft, ohne Aufsehen zu erregen. Die größte wiegt bestimmt mehrere Tonnen.«

Achmed schüttete den Rest des Rums herunter. »Er ist ein kluger Hund. Das sind alle F’dor. So hat er also die Heiligung des Bodens durch den Wind umgangen. Wie können wir das wieder in Ordnung bringen?«

Rhapsody lächelte. »Ich glaube, ich weiß es. Wir sollten Grunthor finden, denn wir müssen Pläne schmieden.«

Sie war allein auf dem Marktplatz und kaufte Pfeile bei dem Waffenmacher, als Gittelson sie erspähte. Sie war kaum zu übersehen, obwohl sie sich hinter der schlichten braunen Reisekleidung einer Bäuerin versteckte. Das weiche, goldene Haar war ordentlich mit einem einfachen schwarzen Band zusammengebunden. Es spiegelte das Nachmittagslicht wider und zog die Blicke einer Hand voll Städter auf sich, die tapfer dem eisigen Wind auf dem Platz standhielten. Sie hatte Glück; es war nur das Wetter, das sie davor bewahrte, von den Händlern belästigt zu werden, die sie aus ihren Geschäften hinter den Feuern anstarrten, mit denen sie ihre Waren warm hielten. Gittelson merkte sich sorgfältig die Art und Anzahl der Pfeile, die sie kaufte es waren hauptsächlich feuerbeständige mit silbernen Spitzen , und achtete darauf, dass sie ihn nicht bemerkte.

Danach machte sie bei einem Gewürzhändler Halt, dessen Zelte sich beinahe über einen ganzen Straßenblock erstreckten und vorn offen waren. Große Leinensäcke mit Hülsenfrüchten, Wurzeln, Bohnen, Pfefferschoten und Getreide standen entlang der Straße zusammen mit Beuteln voller Kräuter und Krügen mit scharfen Gewürzblättern. Rhapsody verbrachte viel Zeit damit, eingehend den Inhalt aller Säcke zu untersuchen. Schließlich kaufte sie einige scharfe Knoblauchknollen, je zwei Bündel weißen Andorn, Beifuß und Datura sowie drei Dutzend lange, dicke Vanillestangen. Sie stopfte ihre Einkäufe hastig in einen Beutel und sah sich eilends um. Unzufrieden warf sie einen letzten Blick auf den Glockenturm, der sich über die Dächer erhob, bevor sie sich wieder in die Schatten der Nebenstraßen begab, in denen sich ihr menschlicher Schatten von ihr löste, und auf die dunkle Basilika zueilte, während die Abenddämmerung allmählich einsetzte.

»Wie enttäuschend.« Die Gestalt in der Robe blieb vor einem versilberten Spiegel in der Sakristei stehen und betrachtete das eigene Gesicht. Das Antlitz eines älteren Mannes, eines freundlichen Mannes mit schütterem weißem Haar und Lachfältchen um die Augen blickte zurück. Es war das Gesicht eines typischen Großvaters oder geliebten Dorfpriesters. »Was glaubt sie, wer ich bin, Gittelson? Ein Nosferatu Sieh in den Spiegel. Erkennst du mein Spiegelbild?«

»Natürlich, Euer Gnaden.«

»Ja, natürlich. Und wenn du, Gittelson, wenn sogar du das weißt, wie viel besser müsste es dann die Iliachenva’ar wissen. Knoblauch, Beifuß, silberne Pfeile! Also wirklich! Na, ich vermute, ich erwarte zu viel. Nach zwei Jahrzehnten hätte man denken sollen, dass Oelendra ein helleres und besser ausgebildetes Mädel als das letzte findet, aber leider scheint das nicht der Fall zu sein. Das wird viel zu einfach werden. Hat sie sonst noch etwas gekauft?«

Gittelson warf einen weiteren Blick auf die Liste, die er auf dem Markt gemacht hatte. Er hatte bereits alle Einkäufe Rhapsodys aufgezählt.

»Nein, Euer Gnaden. Danach hat sie den Markt verlassen und ist in eine Seitenstraße gegangen.«

»Gut. Wenigstens wird unser kleines Treffen kurz sein, und wir können ein wenig mit ihr spielen. Offenbar wird es mir nicht vergönnt sein, ihre ganzen ... Reize zu genießen, aber dich wird nichts aufhalten, nicht wahr, Gittelson? Der Rakshas hat gesagt, sie sei die Wucht in Tüten, das achte Weltwunder. Sobald sie ihre Unterweisung erhalten hat, gehört sie dir für die Nacht.«

»Vielen Dank, Euer Gnaden.«

Der Seligpreiser drehte sich in der Sakristei und legte seinen Schal um. »Nicht sabbern, Gittelson, das steht dir nicht gut.«

Der riesige Bolg schüttelte heftig den Kopf. »Das gefällt mir immer noch nicht.«

Rhapsody klopfte ihm beruhigend auf den Arm. »Ich weiß, ich weiß, Grunthor, aber es ist das Beste. Sag es ihm, Achmed.«

Die ungleichen Augen schauten sie kühl an. »Ich sage Grunthor nie, was er zu denken hat. Das solltest du inzwischen wissen.«

Seit den letzten zehn Minuten stritten sie sich. Der Sergeant wehrte sich standhaft dagegen, dass Rhapsody als Erste und allein losgehen sollte. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du wirst vor der nördlichen Tür stehen, und Achmed wird sich dicht vor dem Sakristeieingang im Süden befinden. Ich bin nicht in Gefahr.«

»Du bist zu lange allein da drinnen ...«

»Welche Wahl habe ich denn?«, unterbrach sie ihn verzweifelt. »Wenn du unserem Plan nicht folgst, wird er rasch wissen, dass ihr beide hier seid. Er wird zwei und zwei zusammenzählen, wenn du verstehst, was ich meine. Ich sage dir etwas, Grunthor: Ich werde im Mittelschiff bleiben, bis du an deiner Position bist. Ich werde mich nicht einmal in die Nähe der Altartreppe begeben, bis du ihn geschnappt hast. In Ordnung?«

Der Bolg sah sie ernst an. »Versprochen?«

»Versprochen.«

»Du gehst nicht in seine Nähe? Du bleibst weit genug von ihm weg, damit er nicht in dein schönes Gesicht sehn und uns angreifen kann?«

Rhapsody stand auf den Zehenspitzen, während er den Kopf zu ihr herunterbeugte. Sie küsste sein großes grünes Gesicht. »Weit genug von ihm weg. Ich habe dir doch gesagt, dass ich warte, bis du ihn hast. Ich bin sicher, dass er mich nicht quer durch die ganze Basilika besessen machen kann.«

Achmed lächelte säuerlich. »Ich wusste gar nicht, dass du eine Expertin in Dämonenfragen und Besessenheit bist, Rhapsody. Wir können nur hoffen, dass deine Kenntnisse zielgenauer sind als diese Pfeile.« Die beiden Bolg traten in den Schatten, der bereits die Kopfsteingepflasterten Straßen verschluckt hatte, und prüften die Windrichtung, bevor sie sich auf den Weg in die Stadtmitte machten, wo die Basilika in der Dunkelheit auf sie wartete.

»Warum? Was stimmt nicht mit meinen Pfeilen?« Rhapsody beeilte sich, mit ihnen Schritt zu halten, doch ihre Freunde gaben keine Antwort. Sie waren so still wie die Finsternis, mit der sie sich verwoben hatten.

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