54

In den Tunneln der Hand

Der schwache Moder einer unterirdischen Behausung, der Geruch von Keimen, Sex und Urin, lag schwach über dem dünnen Staub. Grunthor hatte endlich die Angst vor den Tunneln überwunden, nachdem die Flamme den ganzen Weg bis zum Haus der Erinnerung ausgebrannt hatte. Er war daran gewöhnt, durch die Wüste zu streifen und mit seinem Gewicht und seinen Waffen gegen jeden Feind zu kämpfen. In den Tunneln aber war er nur selten ohne Begleitung wie heute.

An diesem Ort, dem Zeigefinger der Hand, welche die Verknüpfung fünf alter cymrischer Tunnel darstellte, hatte die Erde etwas Todgeweihtes an sich. Er befand sich so tief im Innern des Berges, so weit entfernt von den Gebieten, in denen die Restaurierungsarbeiten vor sich gingen, dass es Jahre dauern konnte, bevor jemand an diesen Ort gelangte. Grunthor wäre niemals hierher gekommen, wenn er nicht das suchen würde, vor dem das Erdenkind Achmed gewarnt hatte. Sehr wahrscheinlich waren die Tunnel nichts anderes als die Kanäle des Abwassersystems, das in den tieferen Bereichen des cymrischen Labyrinths noch nicht in Stand war.

Er war stundenlang blind umhergestolpert und hatte nach etwas gesucht, nach irgendetwas, doch er war auf nichts gestoßen, nicht einmal auf einen Hinweis dafür, dass jemand diese Tunnel benutzt hatte. Sogar die Fußabdrücke, die man im Schmutz auf dem Boden hätte sehen können, waren sorgfältig verwischt worden, falls sie überhaupt je da gewesen waren. Schließlich hatte er am Ende des Zeigefingertunnels eine trockene Zisterne passiert, eine von vielen an diesem Ort.

Seine Haut summte leicht, als er an ihr vorüber ging. Er nahm den Schirm von seiner Laterne und hielt sie vor die bernsteinfarbenen Augen.

Auf der Wand, inmitten von zerfallenden Flechten, befand sich der Abdruck einer Hand. Grunthor grinste breit und entblößte dabei seine makellos gepflegten Hauer.

»Vielen Dank, Kleines«, sagte er.

Er beugte sich tiefer über die trockene Zisterne. Ihre Zugvorrichtung war verstopft, unrettbar überwuchert von alter Vegetation und blockiert von allerlei anderen Hindernissen. Grunthor setzte die Laterne ab, packte den zerbröckelnden Stein auf der Zisterne und drückte ihn mit großer Kraft zur Seite. Er bewegte sich leicht so leicht, dass Grunthor beinahe gestolpert wäre und die schwere Steinplatte fallen gelassen hätte.

Unter der Abdeckung der Zisterne befand sich ein weiterer dunkler und freier Tunnel. Der Sergeant packte den Griff der Laterne und kletterte hinein.

Es war ein enger Gang, doch nach seiner Reise entlang der Wurzel war er an solche Schwierigkeiten gewöhnt. Grunthor kroch aus der Röhre, hielt die Laterne vor sich und trat hinaus in einen gewaltigen Hohlraum, der zweifellos einmal der Haupttank der Zisterne gewesen war.

Das Laternenlicht enthüllte einen Hort von sowohl kostbaren als auch wertlosen Dingen, einen Schatz von Reliquien und Abfall aus Gwylliams Zeit. Haufen von Münzen aus Gold, Silber, Platin, Kupfer und Zinn waren genauso nachlässig zusammengekehrt wie verfaulte Blätter, während auf behelfsmäßigen Regalen Uhren, zerbrochene Schwertgriffe, Bettwärmsteine, sorgfältig zusammengerollte, trocken gehaltene Kleiderfetzen mit polierten Knöpfen, Essbestecke, Bürsten ohne Borsten, Medaillen, Ringe, Rangabzeichen, Tintenfässchen aus schwarzem Ton, goldene Trinkbecher, Bucheinbände, Töpferwarenscherben und unzählige andere Dinge standen; einige gehörten zum Kriegshandwerk, einige in den häuslichen Bereich, doch alle hatten etwas gemeinsam. Sie alle trugen das königliche Wappen von Serendair.

Grunthor zog seinen gehörnten Helm aus und kratzte sich verwundert am Kopf.

»Was soll das alles?«, murmelte er.

Im Vordergrund, wie auf einem Ehrenplatz, standen vier Gegenstände, die vermutlich in neuer oder gar vor kurzer Zeit gefunden worden waren: ein Keramikteller, eine Münze wie tausend andere in diesem Hort, der zerkratzte Deckel eines Kästchens aus blau schimmerndem Holz und schließlich ein Nachttopf mit einem abgebrochenen Henkel.

»Verdammich«, flüsterte der Sergeant.

Er sah sich genau um und entdeckte schließlich hinter einer Reihe verrotteter Fässer mit dem königlichen Siegel auf den Zapfen einen schweren hölzernen Gegenstand, der wie ein Stundenglas aussah. Er hob ihn vorsichtig an und drehte ihn um.

Auf dem Boden befand sich das Wappen auf einem matten Silberbeschlag mit getrockneten Wachsresten in der Gravur.

Ein Siegel. Ein königliches Siegel.

Bringt mir das Große Siegel.

Rasch steckte Grunthor alle kürzlich entdeckten Dinge ein. Er kroch aus der Zisterne und verhüllte dabei seine Laterne.

Kammer des Schlafenden Kindes

Tiefe und unergründliche Stille erfüllte die Ruine des Loritoriums und verlieh ihm das Aussehen einer Krypta, wenn da nicht die Wärme des Flammenquells gewesen wäre, der in der Mitte der zerstörten Wege brannte. Es war eine kleine, sonnenhelle Flamme, die schwache, flackernde Schatten in das unterirdische Gewölbe warf. Die Stille war feierlich, nicht bedrückend. Selbst in der völligen Abwesenheit aller Geräusche lag etwas wie eine langsame und süße Musik.

Die roten Winterblumen in Rhapsodys Hand leuchteten in dem schwankenden Licht. Sie hatte die letzten Blüten in den Gärten von Elysian gepflückt, nachdem sie das Haus vor ihrer langen Reise geschlossen hatte. Nun stand sie über dem Erdenkind und wunderte sich über dessen Schönheit und Wandelbarkeit. Die Haut war grau und wirkte poliert wie bei einer Statue; das Fleisch war braun und grün und rötlich und purpurn gestreift wie Marmor. Die Schwere der Gesichtszüge wurde ausgeglichen durch eine Zartheit, die gleichzeitig eine seltsame Schärfe hatte. Grasgrüne Wimpern ruhten unter Lidern, die durchscheinend wie Eierschalen waren. Sanft bedeckte Rhapsody das Schlafende Kind mit einer Decke aus Eiderdaunen, die sie aus Tyrian mitgebracht hatte, und wickelte die Ränder um den Mantel, den Grunthor ihm gegeben hatte, um es warm zu halten. Rhapsody legte die Winterblumen neben das Kind auf den Altar des Lebendigen Gesteins, auf dem es schlief. Sie beugte sich nieder und küsste vorsichtig die Stirn.

»Von deiner Mutter, der Erde«, sagte sie leise. »Sogar in den kältesten, dunkelsten Tagen gibt sie uns Farben, an denen wir uns wärmen können.«

Die Mundwinkel des Kindes verzogen sich leicht, entspannten sich wieder und erschlafften im Schlaf.

Rhapsody streichelte das lange weiße Haar, das brüchig und trocken wie vom Frost gebleichtes Korn war, und erinnerte sich daran, dass es bei ihrer ersten Begegnung golden gewesen war und Wurzeln so grün wie das Sommergras gehabt hatte. Wie die Erde unter ihrem Tuch aus Schnee schlummerte, so schlief auch das Kind tief und friedlich. Die Worte der dhrakischen Großmutter kamen ihr wieder in den Sinn, als sie den kaum merklichen Atem beobachtete.

Du musst dich um das Kind kümmern.

Wie soll ich mich um es kümmern?

Du musst jetzt sein amelystik sein.

»Ich weiß, dass du sie vermisst«, sagte Rhapsody vernehmlich und glättete geistesabwesend das Laken. »Aber ihr Geist ist hier bei dir. Du kannst ihn um mich herum in der Kammer spüren.«

Das Kind reagierte nicht darauf, sondern atmete weiterhin auf stete, hypnotische Weise. Rhapsody spürte, wie Wärme und Schläfrigkeit sie überkamen. Langsam und ohne nachzudenken streckte sie sich neben dem Kind auf dem Altar des Lebendigen Gesteins aus und legte dem kleinen Wesen die Hand auf das Herz, wie es die Großmutter sie gelehrt hatte.

Es war ein seltsames Gefühl unter ihrer Hand. Da war kein wirklicher Herzschlag, sondern eher eine Schwingung, vielleicht aus den Schmieden und Minen, in Zielgerichteter Gleichmäßigkeit, vielleicht auch ausgehend von dem Herz der Erde unter dem Flammenquell. Beinahe klang es wie Atmen. Man hätte glauben können, dass das Kind unter der Berührung kalt oder hart wäre, doch die Sinne vermittelten ein anderes Bild: Das Kind gedieh an diesem warmen Ort, auf dieser Platte aus Lebendigem Gestein. Es strahlte Wärme, den Atem der Geschichte und den Geruch der Erde sowie des tiefen Berggesteins aus. Es war ein reicher, grüner Geruch, der dazu führte, dass Rhapsody, die nun neben ihm schlief, von ihrer Kindheit träumte.

Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, kehrten alte Träume zu ihr zurück Träume über das Verlassen der bäuerlichen Gemeinschaft ihrer Kindheit, über das Bestaunen der Wunder jener Welt und die Suche nach dem eigenen Weg. Die Jugend, die Unschuld, die sie damals gehabt hatte, erneuerte sich in diesen Träumen, glättete die Sorgenfalten auf ihrer Stirn und ließ ihre Haut in der strahlenden Erregung eines jungen Mädchens an der Schwelle des Lebens erglänzen. Mit jedem Augenblick, den sie im Schlaf verbrachte, wurde sie erneuert. Als Achmed sie fand, im tiefen Schlummer neben dem Kind, waren alle Sorgen des Lebens aus ihrem Gesicht getilgt.

Er stand lange Zeit über den beiden, verloren in melancholischen und zärtlichen Gedanken. Er hatte gewusst, dass jemand ins Loritorium eingedrungen war, und vermutet, um wen es sich dabei handelte. Er hatte sie während ihres Schlafes in dem dunklen, verschatteten Gewölbe beobachtet und darüber nachgedacht, dass dieser Ort dazu errichtet worden war, Reichtümer zu beherbergen, die er nie beherbergt hatte, doch nun gab es hier die beiden größten Schätze der Welt: zwei schlafende Kinder. Als er sie anschaute, verspürte er einen Zusammenprall von Erinnerung und Vision. Die Erinnerung, die in seinem Kopf pochte, war die an die Begegnung mit dem Rakshas, nach der sie dem Tode nahe am Boden gelegen und geschlafen hatte, blutlos und sich hartnäckig im Schatten des Freundes, den sie getötet hatte, an das zerbrechliche Leben klammernd. Die Vision betraf die unausweichliche Zukunft, in der sie, obwohl sie eine langlebige Cymrerin war, irgendwo liegen würde, nicht länger schlafend, sondern gestorben, wie alles Leben sterben muss steinern, ein Schatten ihrer selbst. Eine Welle des Grauens überschwemmte ihn wie das Feuer, das die Überreste der Kolonie verschlungen hatte. Er hatte Angst, dass dies die einzige Möglichkeit für ihn war, sie ganz für sich zu haben: im Tod. Und er wusste, dass er alles tun würde, um sie zu retten, auch wenn er dafür die ganze Welt opfern müsste. Wie sonst niemand auf der Welt verstand er die Zwänge, denen der F’dor ausgesetzt war, und wusste deshalb, warum es gute Gründe gab, sich zu fürchten.

Als Rhapsody erwachte, spürte sie, dass er sie beobachtete, noch bevor sie ihn in den Schatten des Loritoriums bemerkte. Sie kannte dieses Gefühl gut; sie war schon tausendmal aus dem Schlaf erwacht und hatte festgestellt, dass er sie vorsichtig wie eine Jagdbeute ansah. Sie richtete sich auf, wobei sie sorgsam darauf bedacht war, das Kind nicht zu stören, erwiderte seinen Blick und fühlte sich wie so oft, als schaute sie durch den Spiegel der Welt und erblickte ihn darin, wobei sie niemals die Dunkelheit begriff, in der er lebte. In all ihrer Zeit zusammen hatte sie noch kein beständig offenes Fenster zu seiner Seele entdeckt; sein Atmen und Essen waren für sie immer noch ein Rätsel.

In der Dunkelheit jedoch gab es manchmal ein Schlüsselloch, einen winzig kleinen Riss, den er zu seinen inneren Gedanken offen ließ, die ihn so rätselhaft machten. Er fühlte sich in der Dunkelheit sicherer; bei Tageslicht war es fast unmöglich, etwas aus seinen Worten, Taten oder Gebärden zu erfahren. Immer wenn sie auf diese Weise erwachte und er sie anstarrte, wünschte sie, er möge zuerst reden und etwas Erhellendes sagen, bevor die Sonne aufging und ihn wieder völlig unerforschlich machte. Diesmal tat er es. »Ich wusste, dass jemand hergekommen ist«, sagte er ein wenig unbeholfen.

»Ich wollte sichergehen, dass du es bist.«

Sie sah ihn an. Er steckte in seiner Robe und war bewaffnet. Sie nickte, streckte sich und streichelte das Erdenkind, wie sie den Bolg-Riesen gestreichelt hatte, als er sie in den Tunneln beschützt hatte. »Wo ist Grunthor?«

»Er hat Bereitschaftsdienst. Es sind einige Waffen verschwunden.« Er holte einen Weinschlauch hervor und bot ihn ihr an, doch sie lehnte ab und schüttelte den Kopf.

»Hast du das Blut benutzt?«

»Noch nicht. Ich warte darauf, dass du den Berg verlässt.«

»Warum? Ich hatte geglaubt, du wartest, bis ich zurückkehre.« Ihre Frage klang sanft. Es lag etwas Nachdenkliches in Achmeds Verhalten, und sie wollte ihn nicht erzürnen. Zum letzten Mal war er in einer solchen Stimmung gewesen, als sie auf einem Gipfel gesessen hatten, der eine schon lange tote Schlucht unter ihnen überblickt hatte. Sie hatten über die verdorrte Heide geblickt, und Achmed hatte über die erste große Niederlage seines Heeres nachgedacht. Was ihnen nun bevorstand, war viel größer und zerstörerischer; man konnte es nur mit klarem Kopf überdenken.

»Ich weiß nicht, was geschehen wird«, sagte er nur. »Es wäre besser, wenn du dich auf den Weg machtest und den Lirin etwas Vernunft beibrächtest, während ich mit dem Ritual beginne. Ich muss einiges wieder gutmachen. Wie du, so habe auch ich meinen Lehrer früh verloren. Er hätte sich in seinen wildesten Träume nicht vorgestellt, was in dieser Welt und der vergangenen geschehen ist.«

Rhapsody seufzte und schlang die Arme um die Knie. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich den Lirin von Nutzen sein kann. Es ist eine so weite Reise.«

Achmed schnaubte verächtlich.

»Wollen wir schon wieder deine Fähigkeiten als Benennerin infrage stellen?«

»Ich bin mir über meine Fähigkeiten nicht im Klaren. Ich will nicht, dass sie mich mitten in einer wichtigen Sache verlassen.«

»Das werden sie nicht. Ich war der Meinung, das Nacherleben von Gwylliams traurigem Tod hätte dich eines Besseren belehrt.« Er sah einen Moment lang die ferne Flamme aus dem Schlot in der Mitte des Loritoriums an und richtete dann seinen starren Blick wieder auf Rhapsody. »Damals, in der ersten Nacht am Lagerfeuer, habe ich dich gefragt, was du kannst. Du hast geantwortet: ›Ich weiß, was wahr ist, und kann, indem ich die Wahrheit ausspreche, Dinge verändern/ Und genau das ist es, was du getan hast.

Die Vorstellung, dass eine Benennerin wie ein Albino oder eine Jungfrau von Geburt an mit ihrer Gabe ausgestattet ist und nie wieder mit derselben Macht oder Überzeugung sprechen kann, sobald sie sich einmal geändert hat, ist wie die Annahme, eine Heilerin müsse jede verwundete oder sterbende Person retten können, um Heilerin zu bleiben, oder dass ein Mörder nie sein Ziel verfehlen und Werkzeug oder Waffe für jemand anderes sein darf, oder dass ein Sergeant-Major niemals mehr Anführer sein kann, wenn seine Kompanie getötet wurde. Du musst wissen, Rhapsody, dass in jeder Berufung zumindest teilweises Versagen möglich ist. Das soll dich nicht erschrecken. Wenn du dein Selbstvertrauen verlierst, wird deine Kraft, die dir der Dämon nie hätte nehmen können, bestimmt abnehmen.

In gewisser Weise ist der F’dor ein Entnenner. Er lügt, um die Welt zu einem Ende zu bringen. Verträge, Leben und Tod, ja sogar die Gestalt, die der Dämon annimmt, gehören zu seinem Versuch, die Welt ungeschehen zu machen, die Überlieferungen zu verbergen und das Gefängnis zu zerbrechen, damit die Erde nicht länger ein Ort des Lebens ist, sondern des kosmischen Staubes, der nicht mehr ist als die zerschmetterte Eierschale einer undenkbaren Bestie. Bei unserer Reise durch die Welt haben wir alles gesehen. Wir haben berührt, was man sich nicht einmal vorstellen kann; wir reden hier und jetzt in Anwesenheit einer Rasse, die so alt wie deine ältesten Überlieferungen ist, und doch sagen wir nicht alles, was wir wissen. Wir wagen es nicht. Was würden die Lirin tun, um das Erwachen des Wurms zu erklären, zu verhindern oder zu überleben? Man kann nirgendwohin fliehen; es gibt keinen sicheren Unterschlupf. Wie tief müssen sich die Nain vergraben, um sich zu schützen? Kann ein Seemann weit genug segeln, ein Soldat hart genug trainieren? Während unsere eigene Rasse Ryle hira sagt so ist das Leben , hast du dich stattdessen entschieden, die Wahrheit zu sagen, nämlich dass unser persönliches Leben eine Bedeutung hat. Obwohl es nicht die Wahrheit dieser Schatten und dieses Kindes ist, hat sie doch ausgereicht, um dich durch die Flammen im Mittelpunkt der Erde zu geleiten.« Er drehte sich um und ging ein paar Schritte zurück durch den Tunnel.

»Die Welt so zu sehen, wie sie ist, führt sicherlich in den Wahnsinn. Es ist besser, die Welt so zu sehen, wie man sie sehen möchte. Ich glaube, du warst es, die mir diese Wahrheit als Erste erklärt hat.«

»Und welche Welt möchtest du sehen?«

Er blieb stehen, drehte sich langsam um und sah sie mit dem Schwert an der Hüfte dastehen und das Haar ausschütteln. Er lachte stumm.

»Ich möchte eine Welt sehen, in der es keine F’dor mehr gibt und sie nur noch alte Legenden sind«, sagte er. »Und du willst eine Welt sehen, in der die Lirin vereinigt sind. Vielleicht sollten wir beide unsere Weltsicht in Einklang bringen, damit sie eines Tages von Benennern exakt ausgedrückt werden kann.«

Rhapsody war von der Musik in seiner Stimme und der unterschwelligen Bedeutung seiner Worte tief beeindruckt.

Er wusste nicht, ob er sie je wieder sehen würde, wenn sie nun ginge.

Sie verschränkte die Arme und sah ihn freundlich an.

»Du musst mir etwas sagen.«

»Was willst du wissen?«

»Grunthor hat mir ein wenig davon erzählt, wie und wo ihr euch getroffen habt.«

Achmed sah zu Boden und schüttelte langsam den Kopf. »Grunthor wird alles Mögliche sagen, nur um dich im Berg zu halten. Obwohl er einer der gewitztesten Männer ist, die ich kenne, ist er auch mit der Gabe einer gewissen Naivität gesegnet. Er hatte all diese Jahre, um zu begreifen, wie er verflucht wurde, und er wird es glücklicherweise nie verstehen.«

»Verflucht?«, fragte Rhapsody verblüfft. »Wie kannst du so etwas sagen? Grunthor ist ein so reines Wesen. Er kann doch nicht verflucht sein.«

»Grunthor ist stärker verflucht als du mit all deinen Nachtmahren und deiner absichtlichen Blindheit Dingen gegenüber, die du nicht sehen willst. Grunthor trägt den Fluch der Erde, denn er ist ihr Kind.«

»Ich hasse es, wenn du so rätselhafte Dinge sagst. Erkläre das.«

»Grunthor hat die Gabe des Beschützens und auch das Bedürfnis danach. Das hast du sicherlich schon bemerkt. Er beschützt deinen Hintern seit dem Augenblick, in dem wir dich in dem Hinterhof in Ostend getroffen haben. Bei Jo war es dasselbe, und es ist genauso mit dem Erdenkind und mit den Bolg-Soldaten , die er misshandelt und liebt. Es war dasselbe im alten Land. Es war und ist bei mir dasselbe. Wenn er alles, was ihm lieb und wert ist, unter seine Haut stecken und mit seinem Blut und Leben umkleiden könnte, würde er dieses Beschützertum einfacher finden, aber hier und jetzt trägt alles, was mit der Erde verbunden ist, eine Spur des Wurms in sich. Dein Schutz wird ihn eines Tages töten. Und er kann es nicht ertragen zu sterben, weil es dir Schmerzen bereiten würde. Er ist verdammt, genau wie die verseuchte Erde. Sie saust durch den Äther, und selbst die Götter kennen ihren Weg nicht. Tief in ihrem Herzen trägt sie das erste und letzte Schlafende Kind die Last, deren Geburt das Ende ihrer Mutter bedeuten kann. Wie die Erde, wie die Großmutter, so ist auch Grunthor bereit, sein Leben zu deinem Schutz zu verlieren.« Rhapsody schüttelte den Kopf, während sie ihre Ausrüstung überprüfte. »Nein. Es gibt keinen Grund, mich weiterhin zu beschützen. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Grunthor weiß das besser als jeder andere er hat mich schließlich ausgebildet.«

»Ich weiß. Aber du scheinst darauf zu bestehen, gefährliche Risiken auf dich zu nehmen. Wenn du das weiterhin tust, dann tu es wenigstens in Bezug auf Dinge, für die es sich lohnt. Falls du oder Grunthor dabei sterbt, war es wenigstens für einen guten Zweck.«

Sie sah ihm in die Augen und hielt seinem starren Blick stand. »Und was würdest du als lohnenswert ansehen?«

»Die Bolg zu einer Nation aus ungeheuerlichen Menschen zu machen.«

»Das habe ich schon getan. Du hast all meine Beiträge dazu ausradiert.«

Der Fir-Bolg-König rieb sich die Augen. »Nicht alle. Außerdem ist das nur vorübergehend, vorausgesetzt wir überleben den Angriff. Und da ist noch die Vereinigung der Lirin. Bei ihnen solltest du wenigstens für eine Weile sicher sein. Auch könnte sich die Bildung eines cymrischen Bündnisses als nützlich erweisen, obwohl sie vielleicht zunächst ärgerlich ist.«

»Welches Risiko bin ich denn bisher eingegangen, das du als nicht lohnenswert ansiehst?«

Er griff in seine Robe und holte die Blutsteinphiole hervor. Der glatte Stein fing das Licht des Flammenquells auf und glänzte matt. »Du hast die Notwendigkeit verspürt, diese Kreaturen, diese Dämonenbrut zu retten, obwohl das für uns alle das Ende hätte bedeuten können. Das Blut von einem der Kinder wäre genug gewesen; wir hätten den Rest hinrichten sollen. Aber du hast darauf bestanden und dich immer wieder jeder Gefahr in den Weg gestellt, die ihnen drohte, auch wenn es sich letztlich als dein Ende hätte erweisen können.«

Rhapsody zuckte die Achseln. »Ich sah es als vernünftig an, dass wir das ganze Blut sammeln und du dadurch eine bessere Möglichkeit hast, die Spur des Dämons aufzunehmen. Wenn du dich recht erinnerst, wirst du zugeben müssen, dass du es warst, der gesagt hat, den F’dor aufzuspüren sei so, wie den Geruch eines Parfüms in einem quirligen Basar aufzunehmen. Manchmal erinnerst du mich an den Rakshas, Achmed. Diese Kinder sind nicht bloß verdammte Blutgefäße. Sie haben Seelen, unsterbliche Seelen. Es ist abscheulich, sie nur für unsere eigenen Zwecke zu benutzen und dann fortzuwerfen, als wären sie nichts. Wenn wir wirklich ewig leben oder unser Leben so lang ist, dass es uns als ewig erscheint, will ich damit mein Gewissen nicht belasten. Ich glaube auch nicht, dass du das ertragen könntest.«

Der Bolg-König lief auf dem mit Bruchsteinen gepflasterten Boden des ausgebrannten Raumes hin und her.

»Du hast keine Ahnung, was ›nichts‹ ist und wie lange ›ewig‹ sein kann. Du warst nie nichts. Du warst ein Bauernmädchen, eine Hure, eine Harfespielerin. Auch im schlimmsten und erniedrigendsten Augenblick deines Lebens warst du irgendetwas wert: ein Stück Vieh, eine Münze, einen Augenblick der Aufmerksamkeit. Es mag dir zwar als verdammt wenig erschienen sein, aber du hattest einen Ort, ein Schlupfloch in der Welt, wo du hingehörtest. Du glaubst, du wärest nichts gewesen, aber das stimmt nicht, Rhapsody.«

Sie streckte die Hand aus, hielt ihn in seinem Lauf auf und drehte ihn zu sich. Als sie sein Gesicht betrachtete, bemerkte sie darin etwas, das sie nie zuvor gesehen hatte.

»Emily«, sagte sie sanft. »Meine Familie hat mich Emily genannt. Und du hast Recht, Achmed: Selbst zu der Zeit, bevor du mich gekannt hast, war ich nie nichts. Und du auch nicht.« Das Licht des Feuers hinter ihnen flackerte, und Achmed sah das Grün in ihren Augen, bevor die Schatten zurückkehrten und wieder das Grau der Düsternis über sie breiteten. »Ich habe nicht absichtlich deinen Namen von ›Bruder‹ in ›Achmed‹ geändert. Ich hatte nicht vor, dich herabzuwürdigen.«

Der Blick des Bolg-Königs wurde noch eindrücklicher und so durchdringend, dass es ihr beinahe wehtat. Er starrte sie lange an und sah dann hoch zur Spitze der zerrissenen Kuppel.

»Du warst die zweite Benennerin, die meinen Namen geändert hat«, sagte er mit schwerer Stimme, als kostete ihn jedes seiner Worte sehr viel. »Es war mein Lehrer, der mich ›Bruder‹ nannte, denn er sagte, ich sei ein Bruder für alle, doch mit keinem verwandt. Wenn ich seinen Lehren und dem Pfad gefolgt wäre, den er für mich ausgelegt hatte, hätte ich meine Blutgabe vielleicht genauso eingesetzt wie du deine Musik zum Heilen. Auch er hat geglaubt, ich sei nicht nichts.« Er lachte bitter. »Mein ganzes Leben scheint ein Beweis dafür zu sein, dass sein Vertrauen in mich ungerechtfertigt war. Vielleicht ist der Name, den wir bei unserer Geburt erhalten, das beste Maß für das, was aus uns werden wird.«

»Wie lautete deiner?« In ihrer Stimme lag eine Ehrfurcht, bei der er einen Kloß im Hals verspürte.

Der Bolg-König starrte sie weiterhin mit seinen ungleichen Augen an; sie verdunkelten sich in alten, fast vergessenen Gefühlen.

»Ysk das ist der Name, den man mir bei der Geburt gegeben hat. Er bedeutet Speichel oder Gift oder Beleidigung oder auch Anzeichen für eine Infektion.« Er atmete langsam aus. »Stell dir vor, als Bolg mit diesem Namen geboren zu sein.«

Achmed nahm den Schleier, der alles von seinem Gesicht außer den Augen verdeckte, und gab einen Teil seines Kopfes und Nackens dem Blick preis. Die Blutgefäße pulsierten dicht unter der olivdunklen Haut und saugten jede Empfindung und jedes Wort auf, als ob sein ganzer Körper mit einem feinfühligen Trommelfell bedeckt wäre, das selbst unter der atemsanften Berührung ihres Blickes erzitterte.

»Jeder abfällige Blick, jedes ängstliche Starren, jedes verachtende Schweigen schmerzt. Lange Zeit glaubte ich, dass dunkle Geister freudig über mich wachen. Wenn ich gewusst hätte, was der Tod ist, hätte ich einen Weg zu ihm gefunden, ihn in mich eingesogen und wäre fort gewesen. Ich weiß, wie es ist, nichts zu sein, Rhapsody weniger als nichts. Ich will dein Mitleid nicht. Du musst aber wissen, dass ich diese dämonischen Kinder besser verstehe als du.«

Rhapsody schüttelte den Kopf. Die Flamme in ihrem Haar erhellte die Dunkelheit um sie herum und fing regenbogenfarbene Funken aus dem fernen Licht in ihren ewig wechselnden Tanz ein. Sie lockerte den Griff um seinen Arm, fuhr sanft mit den Fingern seine Schulter hoch und legte sie ihm auf den Kiefer.

»Sie wussten nicht, dass du zur Hälfte Dhrakier bist und hätten es nicht verstanden, wenn es ihnen bekannt gewesen wäre. Die Bolg in deinem Königreich wissen es ebenfalls nicht. Niemand auf der ganzen Welt weiß es außer dir selbst, Grunthor und mir und Oelendra, die genauso verbissen den Dämon jagt wie wir. Etwas, das niemand über dich weiß, wird unsere Rettung und die Rettung dieses Landes sein. Es ist egal, was der Bolg dachte, der dir deinen Namen gab. Du warst niemals nichts, selbst damals nicht.«

Er atmete tief, schweigend und sehr langsam ein. »Ich war das besondere Vorhaben eines sehr heiligen Mannes. Er hat versucht, mich zum Heiler zu machen. Sieh doch nur, was aus all seinen guten Vorsätzen geworden ist und dabei habe ich nicht einmal einen einzigen Tropfen Dämonenblut in mir. Der kommende Krieg wird schrecklich sein. Aber noch schrecklicher ist, dass ich ihn eigentlich nicht vermeiden will. Die Männer aus Roland und Sorbold werden wegen ihres Hasses auf die Bolg sterben. Wenn da nicht mein Sinn für Gerechtigkeit wäre, würde es mich überhaupt nicht berühren. Die Bolg werden ebenfalls sterben. Dazu kommt all das, was Grunthor, du, das Erdenkind, die Dämonenbrut und die anderen schon erlitten habt. Wozu hat meine Ausbildung geführt? Wen habe ich je geheilt? Wen hätte ich je gerettet?«

»Dafür darfst du dir nicht die Schuld geben.«

»Was habe ich denn je bewirkt?«

»Wen wolltest du retten?«

Noch bevor sie die Frage beendet hatte, spürte sie, wie sich Türen in ihm öffneten, denen sie sich freiwillig nie genähert hätte.

In der Finsternis von Gwylliams Schatzgruft, die nie einen von Gwylliams Schätzen beherbergt hatte, im Besitz des Blutes, das ihn besitzen könnte, im Bewusstsein der Finder, die ihn nicht finden konnten, sah Achmed Rhapsody an, die soeben aus ihrem Schlaf neben dem Erdenkind aufgewacht war. Sie war ausgeruht, aber noch nicht bereit für alles, was auf sie zukam. Er bewunderte ihr wasserweiches Haar, dessen Glanz allein Zorn, Verzweiflung und Erinnerungen abwaschen konnte. Er atmete durch das kalte Gefühl, das ihre Finger auf seinem Gesicht hervorriefen, nahm sanft ihre Hand, küsste sie und wiegte sie in seinen Händen.

»Nur eine Person. Eine, die möglicherweise gar nicht weiß, dass sie der Rettung bedarf«, sagte er. »Und dabei die ganze Welt. Ich vermute, das bedeutet, dass wir mehr gemeinsam haben, als ein Unbeteiligter erahnen könnte. Wir sind die beiden Seiten derselben Münze, Rhapsody.«

»Nun, wenn wir eine Münze sind, dann haben wir einen Wert.« Sie nahm ihren Mantel und das Gepäck auf. »Ich muss gehen. Ich werde dir so oft Botschaften schicken, wie ich kann. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir noch eine Frage stellen.« Achmed nickte. »Was wolltest du mir wirklich sagen, seit du hier unten bei mir bist?«

»Stirb nicht.«

Sie drückte seine Hand. Die Wärme ihrer Berührung strahlte durch das Leder seines Handschuhs. »Das habe ich nicht vor. Doch das Leitprinzip meines Lebens lautet nicht, für dich oder Grunthor am Leben zu bleiben.« Sie ließ seine Hand los, beugte sich über das Erdenkind und küsste es auf die Stirn. Während sie sich umdrehte, hörte sie Achmeds Worte.

»Dann tu es für dich selbst.«

Als sie sich wieder umdrehte, war er verschwunden.

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