75

Nach einem Moment des Schweigens erbebte die Senke unter Rufen und Freudenschreien. Anwyn war wie vom Donner gerührt. Sie starrte hinüber zu Achmed und Ashe, die wie zufällige Mitverschwörer einander ansahen.

»Ruhe!«, knurrte sie, und der donnernde Applaus verebbte. »Ihr seid ein führerloser Haufen und unfähig, den Unterschied zwischen königlichem Geblüt und einem selbstherrlichen Opportunisten zu erkennen, der ein Reich von Ungeheuern übernommen hat und sich selbst König nennt.«

»Du irrst dich«, sagte Oelendra mit befehlender Stimme. »Ich glaube, jedermann hier ist in der Lage zu erkennen, wer der selbstherrliche Opportunist ist. Gib auf, Anwyn. Erspare dir weitere Demütigungen. Dieses Konzil ist zusammengekommen, um das wieder aufzubauen, was du zerstört hast, und das Vertrauen wiederherzustellen, das du und Gwylliam vernichtet habt. Die Drei haben dieses Land von dem Dämon befreit, für den nur du die Verantwortung trägst. Wenn du eine wirkliche Führerin wärest, hättest du uns nicht für deine kleinlichen Zwecke an den F’dor verkauft. Geh zurück in deine Höhle. Du gehörst der Vergangenheit an in jeder Hinsicht.«

Anwyn drehte sich langsam in die Richtung Oelendras. Im Gegensatz zu den anderen, die sie bisher angegriffen hatten, war ihr diese Rede nicht gleichgültig. Die Bedachtsamkeit, mit der sie sich umwandte und sich der Anklägerin stellte, blieb der Menge nicht unbemerkt. Das ganze Konzil wurde still, als die Seherin in die Augen der Krieger in blickte. Unmaskierter Hass verzerrte ihr Antlitz.

»So spricht die so genannte lirinsche Meisterin«, sagte Anwyn höhnisch und lachte spöttisch, als Oelendra die Nasenflügel blähte und ihre Augen in einer Abneigung blitzten, die jener der Seherin gleichkam. »Nun gut. Sehr bemerkenswert. Da es um Verrat und selbstsüchtiges Verhalten geht, hättest du besser geschwiegen, Oelendra, und über dein eigenes Verhalten nachgedacht. Ich vermute, du bist genauso dumm wie feige.«

Laute, wütende Protestrufe ertönten hauptsächlich aus der Ersten Flotte und den Lagern der Lirin, doch der Lärm wurde beinahe sofort von einer Vibration in der Senke verschluckt. Anwyn hatte die Oberhand gewonnen, und sie wusste es. Triumph leuchtete in ihren Augen, während sie auf dem Felsvorsprung westlich des Rufersimses höher kletterte.

Als sie auf dem höchsten Punkt des Rednerhügels angekommen war, streckte sie die langen Arme in einer feierlichen Geste gen Himmel, als ob sie Kraft sammeln wollte. Dann deutete sie auf Oelendra und lachte. Es war ein lautes, hässliches Lachen, das von den Felswänden der Senke widerhallte.

»Du pathetische Heuchlerin!«, rief Anwyn und schaute herunter auf Oelendra. Unbewusst zog sich die Menge um die lirinsche Kampfmeisterin ein wenig zurück. Obwohl Oelendra noch von ihren Leuten umringt war, war sie doch allein. Rhapsodys Blut kochte. Sie versuchte, vom Rufersims herunterzukommen. Wenn niemand sonst Oelendra beistand, wollte wenigstens sie es tun. Doch ihre Füße waren wie angefroren. Sie konnte den Sims nicht verlassen.

»Da steht sie, die heilige Kriegerin, der erklärte Feind des mythischen Dämons. Du hast dir einen guten Ruf geschaffen, nicht wahr, Oelendra? Die leidenschaftliche Kämpferin, einzigartig in ihrem Bemühen, uns von allem Bösen zu befreien, das Gwylliam unbeabsichtigt heraufbeschworen hat. Du lehnst die Anführerschaft ab, verweigerst dich der Macht und willst nichts anderes, als die Welt von den F’dor zu befreien. Du bist so edel. Wie viele sind zu dir gekommen und haben versucht, deine Ziele zu den ihren zu machen und gnadenlos ausgebildet zu werden, nur um dann ausnahmslos in den Tod zu gehen? Weinst du noch um sie, Oelendra? Trauerst du um die Blumen der Cymrer? Wo du doch die Macht hattest, sie alle zu retten?«

Die Stille in der Senke wurde schwer. Selbst aus der großen Entfernung bemerkte Ashe, wie Oelendra die Lippen zusammenpresste. Der Hass in ihrem Blick wuchs.

»Sag ihnen doch, Oelendra, warum sie alle hier sind. Sag ihnen, dass du schon vor Jahrzehnten den genauen Zeitpunkt und Ort kanntest. Manwyn hat dir in Gegenwart meines Sohnes gesagt, wann und wo du den Dämon vernichten würdest, als er noch so schwach war, dass du es ohne die Hilfe der Drei geschafft hättest. Leugnest du das etwa?« Ihre Augen blitzten, und ihre Stimme wurde rauer. »Leugnest du es?«

Hunderttausend Augenpaare starrten Oelendra an Sie hielt den Kopf hoch erhoben, den Rücken und die Schultern gerade, doch etwas war aus ihrem Blick gewichen. »Nein«, antwortete sie. Ihre Stimme war kaum hörbar.

Ein widerliches Lächeln kroch über Anwyns Gesicht. »Ich glaube nicht, dass jemand dich gehört hat, Oelendra«, höhnte sie und richtete sich noch mehr auf. »Was hast du gesagt?«

Oelendra seufzte unhörbar. Rhapsody sah, wie das Licht aus ihrem Gesicht wich. »Nein«, wiederholte sie, und ihre Gegenwehr zerbrach.

Ungläubiges Murmeln huschte durch die Senke; überall wurde geflüstert. Anwyn lächelte strahlend, weil es ihr gelungen war, ihre alte Feindin zu erniedrigen.

»Du wusstest es und hast dich geweigert, zu gehen. Du hast dich vor deiner Verantwortung als Iliachenva’ar gedrückt, um deine Verpflichtungen als große und ruhmreiche lirinsche Meisterkriegerin erst gar nicht zu erwähnen. Gib es zu, Oelendra. Du hattest das, was du sonst niemandem zugestehst: Angst. Du hattest die Warnungen gehört, und das Risiko erschien dir zu groß, nicht wahr? Stattdessen hast du andere an deiner statt losgeschickt, die tausendmal mehr wert waren als du, damit sie für dich die Konsequenzen tragen. Mein Enkel, die Hoffnung der cymrischen Völker, ein Unschuldiger, hat unbeschreibliche Qualen erlitten und wegen deiner Feigheit seine Seele verloren. Deine Tatenlosigkeit hat ihn in die Fänge des F’dor getrieben. Gibst du das zu?«

»Hör auf damit!«, rief Ashe. »Wer bist du, dass du sie so beleidigen darfst? Du, die den Diamanten der Reinheit zerstört hat, unsere einzige Waffe gegen den Dämon? Ich bin allein gegen den Dämon ins Feld gezogen; es war meine Entscheidung. Wenn ich sie für mein Schicksal nicht verantwortlich mache, warum tust du es?«

»Warum?«, fragte Anwyn verächtlich. »Soll ich ihm den Grund dafür sagen, Oelendra? Vielleicht will er wissen, warum er nicht der Einzige ist, den du auf diese Weise ausgeliefert hast. Soll ich ihm und allen anderen von Pendaris berichten?« Oelendra zog ungläubig die Brauen zusammen. »Ja, Oelendra, vielleicht solltest du es ihnen selbst sagen. Sag ihnen, wie dein Gemahl gestorben ist. Sag ihnen, ob es auch geschehen wäre, wenn du deinen Verpflichtungen nachgekommen wärest.«

Oelendras Gesicht wurde weiß. Selbst von seiner Position am Kopf der Zweiten Flotte aus spürte Ashe, wie ihr die Luft ausging. Diese Anklage war neu und riss eine frische Wunde in ihr. Anwyn stieß ein freudiges Krähen aus und deutete wieder auf die Kriegerin. »Aus diesem Grund sollte ich den Titel einer Herrscherin behalten. Ich allein kenne die Vergangenheit und die Geschichte der Cymrer. Ich kenne deine Geheimnisse. Nun, Oelendra? Sag es ihnen! Sag ihnen, wen du damals an den F’dor ausgeliefert hast. Wirst du uns allen in der Zukunft ein ähnliches Schicksal bereiten?«

Nun brach die Versammlung in lautes Geschrei und Gerede aus, das noch verbitterter und heftiger war als zuvor. Ashe schaute hinüber zu Achmed; ihre Blicke trafen sich. Beide hatten denselben Gedanken: es bahnte sich ein Aufruhr an. Sie schauten hoch zum Rufersims und zu Rhapsody, doch sie hatte sich vorgebeugt und war ihren Blicken entzogen. Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkten die Männer, dass sie ihr Gepäck durchsuchte. Ihr Gesicht war ruhig, und als sich ihre Blicke mit denen Achmeds trafen, lächelte sie.

Rhapsody nahm ihre Harfe und spielte darauf. Sofort er kannte Ashe die Melodie. Es war das Lied, das sie während seiner Benennungszeremonie gespielt hatte. Es hallte von den Wänden des Gerichtshofes wider; die Vibrationen verstärkten sich mit jedem Ton. Die Erde leuchtete überall dort auf, wo die Musik auf sie traf.

»Anwyn«, sagte sie. Ihr sanftes Wort erstickte alle anderen Geräusche im Gerichtshof. Zornig über die Unterbrechung, wandte sich die Seherin zu ihr um. »Anwyn«, wiederholte Rhapsody.

»Sei still.«

Anwyn riss schockiert die Augen auf. Sekunden später hatte sie sich bereits wieder erholt, und ihr Gesicht brannte vor Zorn. Ihr Körper wand sich wie der einer Schlange, die gleich zustoßen würde. Während sie sich darauf vorbereitete, eine Antwort zu geben, versteiften sich ihre Halsmuskeln. In ihrem Blick lag ein Hass, den die Sängerin noch nie gesehen hatte. Rhapsody erwiderte den Blick. Ihr Gesichtsausdruck wirkte gelassen, sogar freudig schimmernd. Nur die Farbe ihrer Augen zeigte an, dass sie angespannt war. Sie hatten nun die Färbung von Frühlingsgras und blitzten in einem Licht, unter dem sogar die Seherin einen Moment lang zögerte. Dann sprach Anwyn, oder sie versuchte es wenigstens. Ihr Mund bewegte sich, doch kein Wort, kein Ton kam heraus.

Mitleid stahl sich in Rhapsodys Blick, als Anwyn sich an den Hals griff, doch ansonsten blieb die Miene der Sängerin gelassen. Die Seherin zuckte vor Wut und wand sich in einem stummen Schrei. Als sie Rhapsody wieder ansah, war ihr Zorn der Angst gewichen.

»Du hast wiederholt verlangt, dass andere deine Fragen beantworten sollen. Du hast dein Amt als Seherin der Vergangenheit verletzt, indem du eine Antwort für die Zukunft haben wolltest. Anwyn ap Merithyn, tuatha Elynsynos, ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit.

Deine Handlungen sind nicht mehr im Gleichgewicht. Von nun an wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat. Du wirst nichts mehr über den Herrschaftsbereich deiner Schwestern, die Gegenwart und die Zukunft, sagen können. Niemand wird dich mehr aus einem anderen Grund aufsuchen. Also solltest du dein Wissen besser darbieten, denn sonst wirst du bald vollkommen vergessen sein.«

Sie sang, und die Masse der Cymrer wurde still vor Erstaunen. Rhapsodys Stimme war süß, aber rauchig, erfüllt von Sorge, und ihr Lied erzählte von der Geschichte des Volkes, von seinem Grauen und Schmerz. Der Text war auf Alt-Lirin verfasst, sodass nicht jedermann ihn verstand, doch jene, die es taten, fingen an zu weinen. Ihre Tränen waren nicht die einzigen, denn um die Botschaft zu begreifen, war es nicht nötig, die Worte zu verstehen. Das Lied berichtete vom Krieg, dem Krieg in ihrer Heimat, und von der verzweifelten Flucht und dem Versuch, der Vernichtung zu entkommen. Es schwang sich zu einem schrecklichen Crescendo auf und mündete in eine Meeresarie, eine Geschichte ihrer Reise durch den Großen Sturm in die neue Welt, und erzählte schließlich von dem Wunder der Entdeckung des Landes.

Auch Ashe weinte ergriffen, doch er spürte, wie sich ein Lächeln über sein Gesicht legte, als das Lied sich abermals wandelte. Er erkannte, dass es sich bei dem Lied um eine Rhapsodie handelte, deren einzelne Sätze sich bei jeder Legende änderten. Diese Vorstellung erfreute ihn irgendwie. Er lauschte verzückt, als sie das Wunder besang, durch das sie den Weißen Baum gefunden hatten. Es folgte das Treffen mit den Ureinwohnern, die Vereinigung der Drei Flotten und all die ruhmreichen Tage des cymrischen Zeitalters, in dem die großen Städte erbaut wurden, tiefes Wissen erworben und ein besseres Leben für das Volk erzielt wurde. Als die Herzen der Masse in der bewegenden Erinnerung schwangen und Stolz auf allen Antlitzen lag, wechselte die Melodie erneut.

Nun wurde sie heimtückisch, heimlichtuerisch und gefährlich. Dissonanzen deuteten den Zusammenbruch der vorangegangenen traumgleichen Melodie an. Das Licht in den Gesichtern der Cymrer schwand, und ihre Augen verdunkelten sich, als das Lied vom großen Krieg berichtete, von der Zerstörung Tomingorllos und der lirinschen Festung Haner Til, der Niederlage der Dritten Flotte und den Schlachten in Canrif und Bethe Corbair sowie von Verwüstung und Völkermord sprach, welche die schwärzesten Stunden der siebenhundertjährigen Geschichte des sinnlosen Blutvergießens markierten. Die Schmerzen, die das Lied zum Ausdruck brachte, spiegelten sich in den Mienen der Anwesenden wider, und sie schluchzten haltlos. Die Melodie wurde noch zermürbender, unbarmherziger, war wie der Krieg selbst. Kurz bevor sie den Mut der versammelten Cymrer vollends brach, sank sie zu Stille herab und wurde nur noch durch einen einzigen, langen und schwingenden Ton aufrechterhalten.

Aus diesem einen Ton erblühten sanfte Harmonien, dann einfache Weisen, die sich zu einem Konzert steigerten, das von tiefen Tönen akzentuiert wurde. Das dunkle, einfache Mantra der Harfe verlieh dem frischen, frühlingshaften Lied große Tiefe. Es war eine Sinfonie des Wiederaufbaus, des Wechsels, der Wachsamkeit, der Angleichung und standhaften Aufrechterhaltung von Traditionen. Es war das vollkommene Zeugnis der Cymrer, wie sie jetzt waren. Nun lächelte Rhonwyn, die zarte Schwester, und sagte: »Wir sind hier. Das ist das Jetzt.«

Rhapsodys Musik brach abrupt ab. »Du hast Recht«, sagte sie zu Rhonwyn mit einem Lächeln unübertrefflicher Sanftheit. »Und daher müssen wir aufhören, denn das ist nicht mehr deine Zeit, Anwyn.«

»Was ist mit der Zukunft?«, rief eine Stimme mitten aus der Versammlung. »Sag es uns! Gib uns Hoffnung!« Der Ruf wurde von der Menge aufgenommen. Zehntausende Stimmen forderten das Ende des Liedes zu hören. Die Stimmen waren wie ein Erdbeben, das durch den Gerichtshof zitterte.

»Habt einen Augenblick Geduld«, antwortete Rhapsody ihnen. »Das ist nicht ihre Sache, sondern unsere. Ehrt Anwyn. Sie verlässt uns jetzt.«

Der Hass in Anwyns Augen war verschwunden und von Tränen der Trauer und Verwunderung ersetzt worden. Sie versuchte noch einmal zu sprechen, konnte es aber nicht. Sie sah Rhapsody an und fand in ihrer Miene keine Schadenfreude, keinen Sieg, sondern nur Frieden. Das Entsetzen über die Erkenntnis, dass sie nicht mehr die einzige cymrische Herrin war, welche die Vergangenheit des Volkes verstand, war für alle Zuschauer deutlich zu sehen. Zum ersten Mal in der Erinnerung des cymrischen Volkes neigte sie den Kopf.

»Meine Huldigung an dich ist zu Ende. Geh jetzt, Herrin der Vergangenheit«, sagte Rhapsody freundlich. »Geh und bringe deine Erinnerungen in Ordnung. Wir werden großartige neue erschaffen, die du schon bald berücksichtigen kannst.«

Anwyn sah Rhapsody noch einmal böse an, verließ dann den Gerichtshof und verschwand. Rhapsodys Blick suchte Oelendra und lächelte, als sie die alte Kämpferin entdeckt hatte. Sie hielt die Harfe hoch wie eine Waffe, und die beiden Frauen tauschten einen Blick tiefen Verstehens aus. Das war es, was ich gemeint hatte, sagte sie damit. Es gibt viele Arten von Waffen, und alle sind zur gegebenen Zeit mächtig. Oelendra erwiderte ihr Lächeln nicht. Sie nickte, drehte sich um und verschwand in der Menge.

Das Brüllen der Masse überschwemmte Rhapsody wie eine Meereswoge. Es fuhr durch ihren Körper und ihre Seele, und mit einem Mal fühlte sie sich im Einklang mit ihnen. Sie suchte in der Menge nach bekannten Gesichtern. Ihr Blick fiel auf Ashe. Das Sonnenlicht war durch den wolkenverhangenen Himmel gebrochen und erleuchtete das rotgoldene Haar, dass es wie Feuer loderte. Die stechenden blauen Augen waren selbst aus der großen Entfernung deutlich zu erkennen. Sie waren auf Rhapsody gerichtet und brannten mit einer Eindringlichkeit, unter der sie errötete.

Plötzlich fühlte sie sich schlecht, allzu deutlich den Blicken ausgesetzt, und sah sich nach einem Zufluchtsort um. Doch Ashes Starren war dasselbe wie bei all den anderen in der Menge. Wohin sie auch schaute, waren die gleichen bohrenden Blicke auf sie gerichtet. Am liebsten wäre sie von dem Sims verschwunden.

Mit jedem Schlag ihres Herzens wurde der Lärm lauter. Man rief nach der Fortführung ihres Liedes, man bat darum, den Rest zu hören, man bedrängte sie, die Zukunft zu enthüllen. Rhapsody räusperte sich und wischte sich heimlich den Schweiß von den Handflächen.

»Geht nicht so rasch über die Vergangenheit hinweg«, sagte sie zu der lärmenden Menge.

»Bevor ihr entscheiden könnt, was geschehen wird, ist es notwendig zu entscheiden, was in diesem Augenblick geschehen soll. Ich wollte gerade Eure Frage beantworten, warum sich alle hier versammelt haben, Euer Majestät, als es zu dieser kleinen Unterbrechung kam.«

Gekicher wurde laut, während Rhapsody sich vor Faedryth verneigte, dem König der Nain, der sie anlächelte und die Verbeugung erwiderte. »Wenn ihr der Prophezeiung Glauben schenkt, wisst ihr, dass der Tod des Dämons das Zeichen ist, diesem Land und dem cymrischen Volk Einheit und Frieden wiederzugeben. Der Dämon ist tot. Es ist Zeit, die Meinungsverschiedenheiten beiseite zu schieben und wieder ein Volk zu werden.«

Eine mit Trauer erfüllte Stimme erhob sich aus der Versammlung der Meeresmagier. »Wie kannst du nach dem, was wir gerade mit angesehen haben, nur darauf hoffen? Auch bevor diese Teufelin in unsere Mitte trat, gab es in dieser Versammlung Feindseligkeit und Hohn. Ist es nicht besser, wenn wir wie zuvor mit den Ureinwohnern zusammenleben, ein Teil von ihnen werden und vergessen, was wir einst gewesen sind?« Zustimmendes Gemurmel und Widerspruch regten sich überall.

»Aber das tut ihr doch«, meinte Rhapsody. »Die Cymrer leben mit den Völkern der verschiedenen Länder zusammen. Als ihr in dieser Welt angekommen seid, wart ihr ein abgesondertes Volk. Ihr wart Flüchtlinge und habt ein einiges Königreich gebildet. Das ist nicht mehr der Fall. Jahrhunderte des Krieges und der Anpassung haben das geändert. Seht euch doch um. Beinahe die Hälfte von euch sind heute einem Ruf gefolgt, den ihr nicht verstanden habt. Ihr wusstet nicht einmal, wer ihr seid, aber dennoch waren die Macht, die euch als Cymrer gerufen hat, und das Verlangen, diesem Ruf zu folgen, stark genug. Ihr seid ... wir sind Teil des Landes, in dem wir leben. Wir sind Leute verschiedener Nationen, verschiedener Rassen, haben verschiedene Könige und Königinnen, Prinzen und Herzöge, doch wir stehen hier als Gleiche, als Cymrer. Wenn etwas Gutes aus dem Grauen von Anwyns und Gwylliams Krieg erwachsen ist, dann ist es der Umstand, dass wir keine Flüchtlinge mehr sind, sondern Teil dieses Landes.«

»Und warum sollte es nicht so bleiben?«, fragte ein kleiner Mann aus der Gruppe der Gwadd, die vorn in der Zweiten Flotte standen. »Wir haben schon so viel Krieg und Blutvergießen ertragen.«

»Genau das ist der Grund«, antwortete Rhapsody. »Der große Krieg war schrecklich, aber er ist noch nicht wirklich vorbei. Überall um uns herum gibt es Raubzüge und mörderische Überfälle, die dieses Land erneut an den Rand eines Krieges geführt haben, und diesmal wird alles noch viel schrecklicher sein. Anstatt um die Ehre unehrenhafter Anführer zu kämpfen, werdet ihr aus Hass und Vorurteilen ins Feld ziehen. Die Saat dazu wird schon seit mehr als vierhundert Jahren gesät. Nun habt ihr die Gelegenheit, zu einem Konzil zusammenzukommen, das die Herrschaft der verschiedenen Königreiche anerkennt, aber für friedliche Beziehungen über den ganzen Kontinent hinweg sorgen kann. Schuldet ihr diesem Land, das euch aufgenommen hat, als ihr vom Sturm hin und her geworfene Flüchtlinge wart, nicht wenigstens dies? Nach allem, was dieser Ort euch gewährt hat? Nach all dem Schrecken, den ihr über ihn gebracht habt?

Wenn ich eine Botschaft für euch habe, dann diese: Die Vergangenheit ist vorbei. Lernt aus ihr und lasst sie los.« Rhapsody schluckte heftig, um den Knoten aufzulösen, der sich in ihrem Hals bildete. Tränen füllten ihre Augen. Sie lernte diese Lektion selbst, während sie zu dem Volk unter ihr sprach.

Sie sah auf Anborn, der im Mittelpunkt der Senke stand und sie breit anlächelte. Ein Ausdruck der Ermunterung erschien auf seinem Wettergegerbten Gesicht. »Wir müssen einander vergeben. Wir müssen uns selbst vergeben. Nur dann werden wir wahren Frieden finden.« Sie sah sich nach Oelendra um, konnte sie in der Menge aber nicht entdecken. Stattdessen ruhte ihr Blick nun auf Ashe, der sie mit einer Eindringlichkeit anstarrte, die ihr Herz schneller schlagen ließ. »Ich weiß, ich bin keine von euch. Ich bin mit keiner der Flotten gesegelt. Ich habe Serendair vor dem Krieg verlassen und bin erst nach ihm hier eingetroffen. Ich habe nicht so gelitten wie ihr, aber selbst ich habe so viel ertragen, dass ich am Ende bin. Die Lirin haben mich aufgenommen, mir eine Heimat geboten und mir die Ehre verschafft, sie zu repräsentieren.

Das Konzil kann ein Ort sein, an dem sich die Nationen von Roland, Tyrian und Sorbold treffen und miteinander unter der Führerschaft eines Herrschers und einer Herrscherin verhandeln, die ihre Unabhängigkeit anerkennen, selbst aber Hochkönig und Hochkönigin sind. Es läge in ihrer Verantwortung, für dauerhaften Frieden zu sorgen. Jedes dieser Länder wird von Cymrern beherrscht, genau wie das Reich der Nain, Manosse und die Insel der Meeresmagier.

Ich schlage euch dieses vor: Lasst eure Länder unter der gegenwärtigen Führerschaft und vereinigt euch als cymrisches Reich unter einem Hochkönig und einer Hochkönigin. Tretet zum Konzil zusammen, um Krieg zu vermeiden, den Frieden zu festigen und die Nationen wieder groß zu machen. Seid ein einiges Volk. Lebt in euren eigenen, getrennten Gebieten, aber steht zusammen in euren Zielen, so wie es war, als ihr in dieses Land gekommen seid. Lebt gemäß Gwylliams Worten. Wenn ihr das tut, verspreche ich euch, dass die Lirin die Worte der Königin Terrell erfüllen und sich euch im nächsten cymrischen Zeitalter als neue loyale Nation zugesellen werden.«

Erneut brandete der Lärm der Menge über sie hinweg. Sie stemmte sich dagegen wie gegen einen Sturm. Nun frohlockte die Versammlung, sie klatschte Beifall und brüllte ihre Zustimmung heraus. Der Felssims unter ihren Füßen summte, als wäre er vor Kraft lebendig, und in ihrer Seele spürte sie, wie das gemeinsame Einverständnis der Cymrer von der Erde selbst bestätigt wurde, aus der die Senke herausgeschnitten war. Sie lachte in lauter Verwunderung. Der Gerichtshof war ein Ort, der die Weisheit der Leute dem Konzilsvorsteher offenbar machte, indem er sie durch den Rufersims leitete. Die gesamte Menge konnte eine Abstimmung tätigen, ohne dass Stimmzettel ausgefüllt oder Hände gezählt werden mussten. Einen Augenblick später löschte ein ernüchternder Gedanke das Lächeln aus ihrem Gesicht. Als Anwyn und Gwylliam hier gestanden hatten, hatten sie die Wünsche und das Verlangen ihres Volkes gespürt. Sie hatten sich darüber hinweggesetzt, um das zu bekommen, was sie haben wollten. Das war ein weiterer Betrug gewesen. Es drehte Rhapsody den Magen um.

Die Versammlung hatte sich zu erregtem Geschnatter aufgelöst, als die Cymrer darüber redeten, was sie als Nächstes tun sollten. Rhapsody hielt die Hand hoch und zuckte unter der sogleich einsetzenden Stille zusammen.

»Ich bin fertig für heute«, sagte sie. »Ich habe euch zusammengerufen. Jetzt müsst ihr dafür sorgen, dass ihr eure Ziele unter einer geeigneteren Führerschaft erreicht. Sind einer oder mehrere unter euch, die die Verantwortung für den Vorsitz des Konzils übernehmen wollen?«

Hunderttausend Augenpaare blinzelten bei ihren Worten. »Bitte«, sagte sie etwas ängstlicher.

»Ihr habt viel Arbeit vor euch, viele Streitigkeiten beizulegen, und das kann nicht jeder für sich selbst tun. Möchte wenigstens jemand die Rolle eines Sprechers für jede der drei Flotten übernehmen? Vielleicht sollten die Herrscher jedes Fürstentums und die Regenten der verschiedenen Länder vortreten. Sie bleiben hier, nachdem die allgemeine Versammlung beendet ist, damit sie die Einzelheiten des neuen Bündnisses besprechen können.«

Die Cymrer in der Menge sahen einander an. Achmed trat vor.

»Ich spreche für die Firbolg«, sagte er, »sowohl für diejenigen von cymrischer Abstammung als auch für die gesamte Nation als mögliches Mitglied des Bündnisses.«

»Und ich für die Nain«, sagte Faedryth und erntete Zustimmung.

»Ich vertrete die Fürstentümer von Roland«, ertönte die Stimme von Tristan Steward. Seine Bemerkung wurde ebenfalls mit allgemeiner Anerkennung bedacht.

Einer nach dem anderen traten die Sprecher vor, um die verschiedenen Länder, Rassen und gewachsenen Vereinigungen zu repräsentieren. Rhapsody sah sich um und versuchte Oelendra zu finden, doch sie war nirgendwo zu sehen. Schließlich ernannte sie Rial als Sprecher für die Lirin, denn sie verließ sich auf seine Kenntnisse über den Krieg sowie auf seine gegenwärtige Stellung als Vizekönig von Tyrian. Ashe wurde als Oberhaupt des Hauses Neuland gewählt, um für die Zweite Flotte und die Cymrer aus Manosse zu sprechen.

Schließlich wurden Sprecher für alle Gruppen außer den anderen beiden cymrischen Flotten nominiert und bestätigt. Aus der Dritten Flotte erhob sich der Ruf: »Anborn! Wir nominieren Anborn ap Gwylliam!« Die Senke hallte von der Zustimmung der Flottenmitglieder wider, auch wenn viele aus der Ersten Flotte in steinernes Schweigen verfielen.

»Seid ihr damit einverstanden?«, fragte Rhapsody die Dritte Flotte gemäß dem Wahlvorgang.

»Ja«, kam die einstimmige Antwort. Anborn trat ohne eine Spur seiner sonstigen Anmaßung hervor. Wie jeder der Sprecher vor ihm verneigte er sich vor der Ruferin, doch als er sich wieder aufrichtete, sah Rhapsody, wie er ihr verstohlen zuzwinkerte. Sie spürte, wie ihr Widerstreben gegen die bevorstehende Hochzeit allmählich schwand. Ihre Beziehung würde angenehm und unkompliziert sein. Sie gewann ihn lieb. Sie hatte Ashe nicht mehr angesehen, seit er an der Reihe war.

Schließlich kam die letzte und schwierigste Frage. Wer sollte für die Erste Flotte sprechen für die Cymrer, die auf Anwyns Seite gekämpft hatten, und für ihre Abkömmlinge? Die größte Anzahl der Überlebenden des Krieges stammte aus dieser Gruppe, auch wenn viele sich in andere Gemeinschaften begeben hatten und Bewohner anderer Länder geworden waren. Diese Frage wurde unter heftigem Geflüster und Gemurmel auf dem Boden der Senke beredet. Rhapsody stand geduldig da und wartete auf die Antwort, während sie sich wünschte, sie hätte bequemere Schuhe gewählt. Dann ertönte ein Ruf aus einer Menschengruppe.

»Ich schlage Gwydion ap Llauron auch als Sprecher der Ersten Flotte vor.« Die Menge lärmte wieder. Diese Nominierung erregte viele Diskussionen und großen Beifall. Rhapsody trat vor und stellte der Ersten Flotte dieselbe Frage wie der Dritten, als Anborn sie mit einer Stimme unterbrach, bei der die Menge sogleich verstummte. »Ich protestiere«, sagte er.

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