63

Tyrian

Ihre Arbeit an den Listen war an diesem Morgen besonders ermüdend gewesen, und Rhapsody hatte ihr Bad in Dankbarkeit genossen. Sie kam erfrischt in ihre Bettkammer, gekleidet in eine der schlichten, kunstvollen Roben, welche die lirinschen Näherinnen für sie entworfen hatten. Diese Kleidung war angenehm zu tragen und verschaffte dem Körper ein Gefühl der Freiheit und Ungebundenheit, und die Farbe passte wunderbar zu ihren Augen. Mit einem tiefen Seufzer fiel sie auf das Bett und betrachtete die anmutigen Bäume, die als Bettpfosten dienten, die ineinander verschlungenen Zweige, die den Baldachin bildeten, und die spitzenartigen Blätter, die Sonnenumrandete Schatten in tanzenden Mustern auf das Bett und über sie warfen. Das Feuer knisterte im Kamin, vertrieb die Kälte aus dem Raum und wärmte die Bäume, die auf diese Weise sogar im Winter einen Sommer erlebten.

Aus dem Hof unter ihr hörte sie das Hallen ferner Schritte. Sie stand auf und ging zum Fenster, wischte die Eisblumen ab und schaute hinaus. Am Rande der Palastmauern sah sie, wie eine große Anzahl von lirinschen Wachen und eine ungeheure Besuchermenge eine ungerade Linie bildeten. Die Linie wurde länger und länger, als sich noch mehr Leute in sie einreihten. Sie lachten und rempelten sich an; hier und da entstanden Streitereien. Die Kälte dämpfte ihren Lärm nicht; Luftschwaden stiegen von den fernen Gesprächen auf.

Rhapsody legte sich einen weichen Mantel um, zog die Stiefel an und verließ ihre Gemächer. Sie suchte nach Rial, der nun Vizekönig und Hauptratgeber war. Während der kurzen Zeit ihrer bisherigen Regentschaft hatte sie sich ganz auf ihn verlassen, wenn es um die Verwicklungen bei Hofe oder um Staatsangelegenheiten ging. Sie vertraute darauf, dass er wusste, was dort vorging. Sie fand ihn in der Nähe der Mauer, nicht weit entfernt von der Versammlung, und beobachtete mit finsterer Miene, wie die Wachen und Schreiber die Besucher und die Gegenstände verzeichneten, die jeder von ihnen mitgebracht hatte. Sie stellte sich neben ihn und berührte ihn am Ärmel.

»Rial, was um alles in der Welt geht hier vor?«

Rial drehte sich zu ihr um, ergriff rasch ihren Arm und führte sie von der Menge fort. Sie gingen bis zur gekrümmten Mauer des Wachtturms. Als sie außer Sichtweite der Menge waren, nahm er ihre Hand und küsste sie.

»Guten Morgen, meine Dame.« Er lächelte auf sie herab, und sein ältliches, runzliges Gesicht nahm jenen freundlichen Ausdruck an, der Rhapsody so lieb geworden war. »Ich hatte geglaubt, Ihr wäret auf dem Übungsplatz.« Sein Atem bildete eine eisige Wolke in der Luft zwischen ihnen.

»Das war ich auch, aber ich ertrage nicht viel körperlichen Missbrauch. Hiledraithe und Kelstrom haben heute ein besonderes Vergnügen darin gesehen, mich zu unterwerfen. Was ist los? Wer sind diese Leute?«

Rial seufzte. »Freier, Euer Majestät.«

»Freier? Freier für wen? Du hast mir doch gesagt, dass die Lirin keine Hochzeitslotterie haben und die Frauen ihre Männer frei wählen können.«

»Das können sie auch, Euer Majestät. Diese Männer halten um Eure Hand an, oder es sind Abgesandte derjenigen Adligen, die um Euch zu werben gedenken.«

Rhapsody ging bis zum Rand des Turms und spähte um die Ecke. Die Reihe war noch länger geworden, und der Lärm war ohrenbetäubend.

»Das kann doch nur ein Witz sein«, sagte sie und starrte die Menge an. »Das sind ja Dutzende!«

»Hunderte, würde ich vermuten. Es tut mir sehr Leid, Euer Majestät. Ich hatte gehofft, Euch ihren Anblick ersparen zu können.«

Rhapsodys Gesicht verfinsterte sich vor Entsetzen. »Das verstehe ich nicht, Rial. Warum sind sie hier, vor allem an einem so kalten Tag? Ich habe nicht gesagt, dass ich einen Mann suche, oder?«

Rial bot ihr seinen Arm an; sie nahm ihn, und er führte sie zurück zum Palast. »Nein, Rhapsody, aber sie sind hinterhältig. Gewöhnlich hätten wir in den ersten Jahren ein paar von ihnen gesehen, die sich mit Tyrian durch eine Staatsheirat verbinden wollen. Eigentlich sind die Ersten immer die Adligen der älteren lirinschen Häuser, weil sie es zuerst erfahren, wenn eine neue Monarchin gekrönt wird. So war es zumindest in der alten Zeit bei Königin Terrell. Damals war mein Vater Page, und er hat mir die Szene oft beschrieben. Anscheinend kam etwa ein Dutzend zur Palastmauer und wartete die ganze Nacht nach ihrer Krönung. Tagelang schwirrte der Palast vor Aufregung.

Aber das ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit unserer Situation. Viele da draußen sind nicht einmal Lirin. Es sind Regenten anderer Länder, einige kommen sogar aus Hintervold. Zweifellos wollen sie ihre Reiche mit dem Euren verbinden. Aber wenn Ihr mich fragt, vermute ich, dass sich die Neuigkeit aus anderen Gründen verbreitet hat. Ich nehme an, es hat mehr mit Euch selbst zu tun als mit dem Verlangen, über Tyrian zu herrschen.«

»Was willst du damit sagen? Keiner dieser Männer kennt mich; wenigstens sehe ich niemanden, dem ich schon einmal begegnet wäre.«

Rial kicherte. Langsam gewöhnte er sich an ihr Selbstbild, das ihn wahrlich belustigte. »Es wäre doch möglich, dass einige Dinge an Euch die Neuigkeit schneller weitergetragen haben, als es sonst der Fall gewesen wäre.«

Rhapsody erzitterte. »Was haben sie mitgebracht? Etwa das Brautgeld?«

»Eigentlich nicht. Es sind Staatsgeschenke wie die, die Ihr anlässlich Eurer Krönung erhalten habt, aber diese hier sind wertvoller. Wenn Ihr einen Gatten wählt, wird der Tradition gemäß sein Geschenk in der Großen Halle ausgestellt; das ist eine Art Verlobungsanzeige. Die übrigen Geschenke werden Teil Eures Vermögens und der Staatskasse von Tyrian. Daher könnt Ihr Euch vorstellen, welch ein Wettbewerb darin besteht, ein Geschenk zu haben, das Euch beeindruckt, den guten Geschmack des Schenkers zur Geltung bringt und den Reichtum des Landes aufzeigt, aus dem der Bewerber kommt.«

Rhapsody machte ein düsteres Gesicht. »Gib die Geschenke bitte zurück und schick die Männer heim, Rial. Ich will nicht jetzt schon Bewerber um meine Hand empfangen.«

Als sie die Palastrotunde betraten, blieb Rial stehen, ergriff ihre Hände und blickte sie ernst an. »Davon rate ich Euch ab, Euer Majestät«, sagte er sanft und versuchte, sie nicht wütend zu machen. »Das würde als große Beleidigung verstanden. Es ist besser, die Geschenke anzunehmen und die Bewerbungen zu verzeichnen, so wie es die Schreiber tun. Dann werden die Männer in ihre Länder zurückkehren und Eure Einladung an jene abwarten, deren Werbung Ihr entgegennehmen wollt. Auf diese Weise können Eure Wünsche erfüllt werden, und das Heer muss nur diejenigen abwehren, die vielleicht etwas ungeduldig werden.«

Selbst im Licht der fauchenden Flammen des großen Kamins erkannte Rial, dass Rhapsodys Gesicht blass wurde. »Was soll das heißen? Willst du damit andeuten, dass sie möglicherweise Tyrian angreifen, wenn ich ihre Bewerbung nicht annehme?«

Rial hielt eine vorbeihuschende Dienerin an. »Bring Ihrer Majestät bitte etwas Apfelwein«, sagte er. Das Mädchen nickte und eilte davon. Er führte die Königin näher zum Feuer und setzte sich mit ihr auf die breite Bank vor dem Kamin.

»Bis Ihr heiratet und damit die Möglichkeit für alle anderen Bündnisse ausschließt, ist es möglich, dass einige der Regenten den Versuch machen, Eure Entschlossenheit mit Gewalt auf die Probe zu stellen. Macht Euch keine Sorgen, Herrin. Das ist unwahrscheinlich, wenigstens eine Zeit lang, und das lirinsche Heer wird mit ihnen fertig werden, da Ihr jetzt alle Gruppen vereinigt habt. Euch gehört nicht nur die Loyalität der Soldaten, sondern auch ihre Herzen, und sie werden freudig Euer Recht verteidigen, zur gegebenen Zeit einen Mann zu nehmen. Tyrian ist ein Albtraum für Angreifer, und die Verluste auf ihrer Seite werden unsere bei weitem übersteigen. Da muss jemand schon ein ernsthaftes Verlangen haben, bevor er versucht, in den Wald einzudringen. Also macht Euch bitte keine Gedanken. Lasst Euch Zeit. Es ist eine wichtige Entscheidung, die Ihr in Ruhe und Frieden treffen solltet.« Die Dienerin kehrte mit einem schweren Kelch zurück und bot ihn Rhapsody an. Sie nahm ihn wie betäubt entgegen. Mit einer höflichen Geste entließ Rial die Dienerin und sah der Königin ins Gesicht. Er beobachtete fasziniert, wie sich der unbedachte Glanz in ihren Augen zu einer Maske der Entschlossenheit verhärtete. Sie hob den Kelch und nahm einen Schluck.

»Ich werde deinem Rat folgen, Rial, wie immer«, sagte sie fest. »Bitte schicke einen Boten in mein Arbeitszimmer, sobald es dir möglich ist. Ich muss eine Botschaft versenden.«

»Das war eine wunderbare Mahlzeit«, sagte Anborn, trank den Rest seines Weines und setzte den Kelch auf dem Tisch ab. Er warf einen Blick über den Balkon auf die kahlen, glitzernden Bäume, die sich über die reich verzierte Brüstung streckten. Der Tag war kühl gewesen, aber auf dem Balkon zu essen war angenehm und eine erfrischende Abwechslung zu dem schweren Rauch der Winterfeuer.

Er war froh, dass er so früh auf Rhapsodys Einladung reagiert hatte. Gewöhnlich ließ er solche Einladungen lange unbeantwortet, weil er es liebte, sich verhasst zu machen. Aber er war glücklich über die Möglichkeit, Rhapsody allein zu sprechen und sich ein Bild von ihrer Gesundheit und geistigen Verfassung zu machen, was während der Krönung unmöglich gewesen war. Es schien ihr viel besser zu gehen, als er nach ihren Erlebnissen in Sorbold und dem Wald für möglich gehalten hätte, aber sie war schließlich bei den Rowans gewesen und hatte zweifellos dort viel mehr Zeit verbracht, als der Rest der Welt bemerkt hatte.

Bei der Begrüßung hatte sie das Diadem getragen. Fasziniert hatte er gesehen, wie es über ihrem Kopf schwebte und in einem gleißenden Nimbus aus winzigen Juwelen wirbelte, die wie glitzernde Lichtpunkte wirkten. Sobald sie aber allein waren, hatte sie das Diadem ausgezogen und wurde nun nur noch von ihrem prachtvollen Haar bekrönt, das zu verwickelten Mustern gesteckt war, die nur geübte lirinsche Hände weben konnten. Sie leistete beim Essen wunderbare Gesellschaft, unterhielt ihn mit amüsanten Geschichten und lachte unerschrocken über seine rohen Scherze. Trotzdem hatte sie eine Reserviertheit an sich, die er nicht genau festmachen konnte; es war, als fehlte ein Stück von ihr.

Als das Essen vorüber war, beugte sie sich vor und bedachte ihn mit einem eingehenderen Blick, als er je bei ihr festgestellt hatte.

»Ich habe mich gerade gefragt, ob wir uns über etwas unterhalten können, was rein hypothetisch ist. Ich gebe dir Ideen vor, und du spinnst sie weiter, aber keiner von uns wird durch die Diskussion in irgendeiner Weise gebunden.«

Anborn wischte sich mit der Leinenserviette über den Mund und legte sie gefaltet neben den Teller. »Natürlich. Über was möchtest du sprechen?« Ihr Blick fesselte ihn; bei früheren Begegnungen hatte ihn die bemerkenswerte Offenheit ihres Gesichts beeindruckt. Nun sprach ihre Miene von Vorsicht, und ihr Verhalten war geradezu kühl, beinahe unbeteiligt. Obwohl ihre frühere Schönheit durch die Aufregung und Heiterkeit in ihren Augen noch erhöht wurde, hatte sie nun eine Vornehmheit und Distanziertheit an sich, die er weitaus interessanter fand.

»Ich habe mich gefragt, ob du jemals wieder heiraten willst«, meinte sie und sah ihn dabei nüchtern an.

»Nein«, antwortete er. »Warum fragst du?«

»Nun, wenn es etwas ist, über das man reden kann, dann will ich genau das tun.«

Anborn lehnte sich verblüfft auf seinem Stuhl zurück. »Ich bin bereit, über alles zu reden«, sagte er und lächelte leicht. »Bitte sag mir, was du auf dem Herzen hast.«

»Ich frage mich, was du von einer Ehe mit mir halten würdest, falls das nicht eine allzu unangenehme Vorstellung für dich ist«, sagte sie, während sie ihn weiterhin scharf beobachtete.

Ihm entfuhr ein kurzes Lachen, und er hustete in die Hand, während er sich vorbeugte.

»Entschuldigung, ich habe gerade den ohrenbetäubenden Lärm von Millionen brechender Herzen gehört. Habe ich dich richtig verstanden? Machst du mir einen Heiratsantrag?«

»Noch nicht«, sagte Rhapsody ruhig. »Wie ich schon sagte, wollte ich dein Interesse überprüfen.«

»Natürlich«, erwiderte Anborn und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Auf den ersten Blick bin ich verblüfft. Welche Folgen würde das nach sich ziehen? Warum solltest du mich heiraten wollen?«

Rhapsody schob den Teller aus dem Weg und legte die Arme verschränkt auf den Tisch.

»Nun, ich fürchte, diese Antwort besteht aus zwei Teilen. Die Frage lautet: Warum will ich heiraten, und warum gerade dich? Erstens würde ich eigentlich lieber nicht heiraten, aber dann könnte ich nicht mehr Königin der Lirin sein. Es hat den Anschein, dass ich keine Wahl habe.« Anborn nickte; ihre Aufrichtigkeit erfreute ihn.

»Seit meiner Krönung werde ich von Anfragen anderer Herrscher bedrängt, die aus Staatsgründen unbedingt eine Ehe mit mir eingehen wollen. Ich habe kein Verlangen, die Staatsgrenzen von Tyrian auszudehnen, und will auch nicht in die politischen Ränkespiele hereingezogen werden, sie sich daraus zwangsläufig ergäben. Ich bin mir aber auch bewusst, dass ich als unverheiratete Herrscherin andauernd zur Überprüfung meiner Entschlossenheit und Stärke herausfordere. Dazu fehlt mir die Geduld, und ich will nicht, dass jemand aus einem so dummen Grund verletzt oder gar getötet wird. Deswegen habe ich mich damit abgefunden, dass ich heiraten muss.«

Der Schatten eines Lächelns huschte über Anborns nachdenkliches Gesicht. »Irgendwie sieht dir das gar nicht ähnlich, meine Liebe«, sagte er trocken. »Ich hätte eine beträchtliche Summe darauf gewettet, dass du wie eine Löwin gegen solche Bedrohungen kämpfst.«

»Dann wärest du jetzt ein sehr viel ärmerer Mann.« Alle Spuren von Freundlichkeit verschwanden aus Rhapsodys Miene. Sie schloss kurz die Augen und schüttelte alle Erinnerungen an den Wyrm ab, der in den Eingeweiden der Erde schlief. Die gewaltige Tunnelwand, gegen die sie sich einmal gelehnt hatte, war nur eine einzige Schuppe seiner ungeheuren Haut gewesen, und sein Fleisch war inzwischen ein wesentlicher Bestandteil der Erde. Als sie diesen Gedanken verbannt hatte, öffnete sie die Augen wieder und sah Anborn an.

»Wir sollten uns nicht so geziert unterhalten, General. Wir beide wissen, dass ein Krieg bevorsteht; er kommt mit jedem Augenblick näher. Und während du den Krieg aus eigener Anschauung kennst, habe ich unseren Gegner gesehen oder wenigstens einen von ihnen. Wir brauchen alles, was wir haben alles , bloß um sein Erwachen zu überleben, vom Besiegen erst gar nicht zu reden. Ich will weder das Blut noch die Zeit der Lirin verschwenden, um etwas so Dummes wie eine Kriegserklärung wegen meiner Verlobung abzuwenden. Eine Vernunftheirat ist ein geringer Preis für die Sicherheit und den Frieden Tyrians. Wir brauchen jede lebende Seele, wenn die Zeit gekommen ist. Du hast mich einmal gefragt, ob ich mich Llauron verschworen habe. Jetzt habe ich mich den Lirin verschworen. Ich werde alles tun, was ich tun muss, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, egal was es mich kostet.«

Anborn drehte den Stiel seines Weinglases zwischen den Fingern und nickte, während sein Grinsen breiter wurde. Er erhob das Glas zu einem stummen Gruß, trank rasch, nickte wieder und stellte es ab.

»Bitte fahre fort.«

»Nun kommt der Grund, warum ich glaube, dass du der Richtige bist. Du liebst mich nicht, und das verlange ich auch nicht von dir. Ich bezweifle, dass du es je tun würdest. Ich hoffe, du bist nicht beleidigt, wenn ich dir sage, dass ich dich schätze und dich eines Tages vielleicht mögen werde, aber ich glaube nicht, dass ich mich in dich verlieben könnte. Das macht eine Heirat durchführbar und frei von all den Schwierigkeiten, die sich üblicherweise dabei einstellen.

Ich bitte dich nur um sehr wenig. Bring mich nie in Verlegenheit und versuche nicht, mir oder dem lirinschen Volk zu schaden. Darüber hinaus stelle ich keine Forderungen. Ich erwarte von dir keine Treue, aber ich würde eine gewisse Diskretion sehr gern sehen. Natürlich brauche in anderen Angelegenheiten durchaus deine Loyalität. Du kannst jedoch kommen und gehen, wann du willst.«

»Interessant«, meinte Anborn.

»Kommen wir nun zu den Vorteilen. Für mich würde es außer der vorhin erwähnten Befreiung von allen Nachstellungen bedeuten, dass ich einen Gatten habe, den ich achte und dessen Ruf mögliche Schwierigkeiten gar nicht erst aufkommen lässt. Ich weiß nicht, welche Vorteile du aus dieser Sache ziehen könntest. Das lirinsche Heer stünde dir in Notfällen zur Verfügung, wenngleich ich es nicht für unethische Taten hergebe. Es gibt natürlich ein wenig Reichtum und einen bestimmten gesellschaftlichen Rang, aber beides besitzt du bereits. Vielleicht sind die Gründe für dich nicht so gut wie für mich, und es könnte darauf hinauslaufen, dass du mir bloß einen großen Gefallen erweist. Aber du hättest immer einen Ort, an den du heimkehren könntest und wo man dich mag, ehrt und schätzt. Ich würde alles tun, um dir eine gute Gesellschafterin zu sein, und keine Forderungen an dich stellen. Zumindest ist das meine Absicht. Hast du noch Fragen?«

»Ein paar.«

»Dann stell sie bitte.«

»Mal sehen, was ich zuerst frage. Erwartest du Kinder?«

»Nein. Wie ist es bei dir?«

»Nein, ich hätte lieber keine.«

»Ich könnte vielleicht hin und wieder eines adoptieren, aber ich glaube, es würde nicht als dein, sondern allein als mein Kind angesehen. Die Lirin sind in solchen Angelegenheiten sehr genau.«

»Damit habe ich keine Schwierigkeiten.«

»Sehr gut. Was ist sonst noch?«

»Wie steht es um, äh, eheliche Verpflichtungen? Sind sie Teil der Vereinbarung?«

Rhapsody zuckte nicht zusammen; ihre Miene blieb gelassen. »Das ist deine Entscheidung«, sagte sie. »Wenn du sie erwartest, habe ich nichts dagegen. Wenn nicht, ist das genauso gut.«

Sie lächelte, und eine Spur ihres alten Humors flammte auf. »Ich glaube, du hast genug gesehen, um zu einer wohl bedachten Entscheidung zu kommen.«

Anborn schüttelte den Kopf und lächelte verwundert. »Bemerkenswert«, sagte er in einem Tonfall der Belustigung. »Ich sitze vor der hübschesten Frau, die ich je gesehen habe und der die Männerwelt zu Füßen liegt, und sie bespricht eine mögliche geschlechtliche Vereinigung mit derselben Begeisterung wie einen Grundstückskauf oder ein Gesetzesvorhaben. Das ist beinahe unwirklich, Rhapsody. Darf ich dir eine weitere Frage stellen?«

»Natürlich.«

»Was ist mit dir geschehen? Du bist eindeutig nicht mehr das Mädchen, das ich vor einiger Zeit beinahe in den Straßenstaub getreten hätte.«

»Nein, das bin ich nicht mehr«, stimmte sie ihm zu.

Seine Stimme wurde ungewöhnlich sanft. »Ist es dasselbe, was mit dem Gladiator passiert ist?«

»O nein, überhaupt nicht. Ich bin einfach nur erwachsen geworden und habe begriffen, was möglich ist und was nicht, Anborn. Ich musste feststellen, dass mich praktische Erwägungen weniger kosten als mein früherer Idealismus, und es ermüdet mich, Dinge haben zu wollen, die ich nicht haben kann. Alles, was ich jetzt noch ersehne, ist Frieden. Und dass die Erde das Kommende überlebt.«

Anborn stützte das Kinn in die Hände und sah sie an. »Wie schade«, meinte er schließlich. »Auch wenn ich zugebe, dass du viel angenehmer im Umgang bist, muss ich doch gestehen, dass ich die andere Rhapsody vermisse. Du bist viel zu jung und schön, um so alt und müde zu klingen.«

»Ich bin alt und müde, Anborn übrigens viel älter als du.«

»Nur theoretisch.«

»Zugegeben. Aber du sollst nicht glauben, dass ich immer so sachlich bin. Es gibt immer noch Dinge, die mir sehr wichtig sind, und ich habe noch meine Musik. So lange das so bleibt, werde ich hoffentlich nicht allzu langweilig sein.«

Anborn sah sie lange an. Sie wandte den Blick nicht ab und wirkte nicht unangenehm berührt, sondern hob bloß ihren Kelch und trank ihren Wein aus. Schließlich sagte er mit einem schwachen Lächeln: »Nein, das wirst du nicht sein. Nun, ohne ein Zugeständnis zu machen denn das war nicht Teil der Gesprächsvereinbarung , muss ich sagen, dass ich sehr interessiert bin. Und ich fühle mich übrigens auch überaus geehrt. Ich glaube, du wärest die beinahe vollkommene Frau für mich, Rhapsody. Solange du mir die Freiheit zugestehst, zu kommen und zu gehen, wann ich will, würde ich die Aussicht darauf genießen, dein Beschützer und Wächter zu sein. Ich glaube, wir teilen viele Interessen. Es gibt etliches, was wir einander beibringen können. Und auf alle Fälle würde ich eine körperliche Beziehung mit dir sehr genießen wenn dem nicht so wäre, müsste ich schon tot sein. Du hast Recht: In der Ehe wird die Liebe überbewertet und ist keinesfalls der wichtigste Bestandteil.«

»Das habe ich nie gesagt«, meinte Rhapsody ernsthaft. »Ich habe nur gesagt, ich glaube nicht, dass es für uns der wichtigste Bestandteil wäre.«

»Ich gebe meinen Irrtum zu.« Sein Blick wanderte über ihr Gesicht und den Oberkörper, als suchte er etwas; einen Herzschlag später schien er es gefunden zu haben. »Weißt du, die Lirin mögen mich nicht sehr. Es ist eine verständliche Feindschaft, die aus dem Krieg herrührt. Könnte das für dich zu einem Problem werden?«

Rhapsody lächelte. »Wenn die Lirin ein Problem damit haben, werde ich gern abdanken. Was ich an der tyrianischen Gesellschaft am meisten schätze und was der Hauptgrund dafür gewesen ist, dass ich die Krone angenommen habe, ist der Umstand, dass sie einem nicht vorschreiben, wen man zu heiraten hat. Vielleicht tragen wir ein wenig zum lange überfälligen Heilungsprozess nach dem Krieg bei.«

Ein Ausdruck offener Bewunderung schlich sich in seine Augen. »Du bist eine erstaunliche Frau, Rhapsody äh, Euer Majestät.«

Sie zog eine komisch saure Schnute. »Ach, bitte.«

»Ich fühle mich durch deinen Vorschlag wirklich geehrt. Ja, wenn du einen Ehegatten haben willst und närrisch genug bist, mich zu nehmen, dann wäre mir an dieser Stellung sehr gelegen.«

»Vielen Dank«, sagte sie, lächelte und setzte sich auf. »Ich werde über deine Worte nachdenken und schätze deine Aufrichtigkeit.«

»Wenn du bei deinen Einladungen zum Essen immer über solche Themen reden möchtest, können wir das zu einer regelmäßigen Veranstaltung machen«, sagte Anborn, erhob sich und verneigte sich höflich. »Ich glaube, du weißt, wie du mich erreichen kannst, wenn du zu einer Entscheidung gekommen bist.«

»Ja«, sagte sie und stand gleichzeitig mit ihm auf. »Vielen Dank für dein Kommen. Ich gehe mit dir bis zu Oelendras Haus. Ich muss mit ihr noch ein paar Dinge besprechen.«

»Übermittle ihr meine besten Grüße«, meinte Anborn und hakte sich bei ihr unter. »Hast du übrigens schon mit ihr über diese Angelegenheit gesprochen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Rhapsody. »Ich war der Meinung, du solltest der Erste sein, der davon erfährt.«

Anborn lachte. »Wir werden gut miteinander auskommen, Rhapsody«, sagte er. Gemeinsam schlenderten sie zu Oelendras Haus.

An der Abzweigung zur Kate der lirinschen Meisterin nahm Anborn Rhapsodys Hand und küsste sie.

»Auf Wiedersehen, Euer Majestät.« Er nickte höflich Rial zu, der soeben den Pfad entlangkam. Der lirinsche Vizekönig gab das Nicken kühl zurück. »Vielen Dank für das bemerkenswerte Essen. Ich werde über Eure Worte nachdenken.«

»Vielen Dank und gute Reise.«

Rial wartete, bis Anborn im Wald verschwunden war, und schloss zu ihr auf.

»Wenn Eure Majestät erlauben ...«

»Rhapsody, bitte.«

»Ja, Verzeihung. Es gibt einige Dinge, über die ich mit Euch gern reden möchte.«

Rhapsody drehte sich um und ging weiter auf Oelendras Haus zu. Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Worüber?«

»Die Lirin aus der Ebene erbitten Euren Beistand wegen einer Steuersenkung für ihre landwirtschaftlichen Ausfuhren nach Manosse und Groß-Overward. Da das Reich jetzt vereinigt ist, seid Ihr dafür zuständig ...«

Rhapsody beschleunigte ihre Schritte. »Glaubst du, ich sollte ihrer Bitte entsprechen, Rial?«

»Nun, es gibt viele gute und ...«

»Dann sei es so. Bitte kümmere dich darum. Noch etwas?«

»Die Zinnen auf der südlichen Brustwehr müssen erneuert werden.«

»Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich auch darum kümmern würdest.«

»Die Grenzpatrouillen bitten um den Bau zweier neuer Langhäuser...«

Rhapsody blieb stehen. »Rial, wer hat sich um diese Dinge gekümmert, bevor ich gekommen bin?«

Der ältliche Vizekönig zuckte zusammen. »Ich, Euer ... Rhapsody.«

»Glaubst du etwa wirklich, dass ich Kenntnisse über die Erneuerung von Brustwehren habe, nur weil ich eine Frau bin?«

Rial kicherte. »Nein.«

»Sicherlich erkennst du, dass ich in dieser Hinsicht unterqualifiziert bin, selbst wenn du zu höflich bist, um genau hinzuschauen. Hundert Jahre vor meiner Ankunft warst du der Schutzherr dieses Königreiches, Rial. Du weißt viel mehr über all diese Dinge als ich. Bitte triff weiterhin selbstständig deine Entscheidungen. Rede mir nicht mühsam ein, ich sei wichtig, indem du mir Fragen stellst, auf die du die Antworten schon kennst, ich aber nicht.«

Ein Gejohle, gefolgt von heiserem Gelächter erhob sich vor dem Tor, an welchem die Freier noch immer versammelt waren. Rhapsody schaute in Richtung dieses Tores und dann wieder zu Rial. »Ich habe im Augenblick andere Dinge im Kopf.«

»Welch eine angenehme Überraschung«, sagte Oelendra lächelnd, als sie die Tür öffnete. »Es ist immer wunderbar, Euch zu sehen, Euer Majestät.«

»Oelendra, ich liebe dich, aber wenn du nicht aufhörst, mich so zu nennen, werde ich dich köpfen lassen.«

Die ältere Frau lachte. Sie gab ihre Erwiderung auf Alt-Lirin: »Mithilfe welchen Heeres?«

»Natürlich mit deinem eigenen«, erwiderte Rhapsody lächelnd in derselben Sprache. Oelendra legte den Arm um Rhapsodys Schultern und führte sie nach drinnen; dabei warf sie ihren Mantel über eine Stuhllehne. »Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen deines Besuches?«

»Ich muss eine Menge mit dir besprechen. Ist es gerade Ungelegen?«

Oelendra seufzte in gespielter Verzweiflung. »Rhapsody, du bist jetzt die Königin. Jemand wie du kommt niemals Ungelegen.« Sie ging zum Herd und schöpfte zwei Becher dol mwl, drehte sich um und gab Rhapsody einen davon. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass du die Privilegien deiner neuen Stellung noch immer nicht genießt?« Ihr Lächeln schwand, als sie der Sängerin in die Augen schaute und in ihnen einen fernen, verschlossenen Blick fand.

»Was stimmt nicht?«

»Nichts«, antwortete Rhapsody und nippte an dem Glühwein. »Kennst du Anborn ap Gwylliam besser als nur vom Hörensagen?«

»Ja«, sagte Oelendra und setzte sich in einen der Sessel vor dem Kamin »Von Anwyns und Gwylliams drei Söhnen ist er der Einzige, den ich wirklich kenne. Als sie noch Kinder waren, habe ich an all ihren Namensgebungsfeiern teilgenommen, aber als der Krieg begann, waren sie schon junge Männer.

Ich habe sie als Kinder gelegentlich gesehen, doch nach dem Krieg hat Llauron viel Zeit im Kreis mit der Pflege des Baumes und der Leitung der Filiden verbracht, und Edwyn Griffyth bin ich noch vor dem Krieg nicht mehr begegnet. Ich habe gehört, dass er in den Schmieden seines Vaters gelernt hat und dann zur See gefahren ist. Anborn aber war schon als Kind immer begierig darauf, den Schwertkampf zu erlernen. Deshalb hat ihn seine Mutter zu mir geschickt. Ich habe Anborn ausgebildet und kenne ihn daher recht gut. Warum fragst du?«

Rhapsody setzte sich in den Sessel ihr gegenüber und nahm noch einen Schluck. »Ich überlege, ob ich ihn heiraten soll. Übrigens soll ich dich ganz herzlich von ihm grüßen.«

Oelendra sah sie kurz von oben bis unten an. »Warum?«

»Vermutlich weil er dich mag.«

Oelendra schnaubte verächtlich. »Warum willst du ihn heiraten?«

»Um diese aufdringlichen, dämlichen Freier loszuwerden und den Bedrohungen, die sie darstellen, ein Ende zu setzen. Aus all den Gründen, die wir schon besprochen haben, Oelendra. Warum nicht? Stimmt mit Anborn etwas nicht?«

Oelendra stellte ihren Becher ab, beugte sich vor und sah Rhapsody ernst an. »Ich glaube, es gibt einen sehr deutlichen Grund.«

»Ich sehe keinen.«

»Sei doch nicht so zimperlich, Rhapsody, das passt nicht zu dir«, gab Oelendra zurück; ihr Ton wurde hart.

Rhapsody sagte im gleichen Tonfall: »Ich bin nicht zimperlich«, und sah Oelendra mit einem Blick an, den die Kriegerin noch nicht kannte. »Wenn du mir keinen Grund angeben kannst, den ich unbedingt berücksichtigen sollte, werde ich nach dem cymrischen Konzil die entsprechenden Vorbereitungen treffen.«

Oelendra sah sie weiterhin an, wandte dann den Blick ab, trank ihren Becher leer und stellte ihn fort, während sie die Königin erneut anschaute. »Was ist mit Gwydion?«, fragte sie schließlich widerwillig, weil sie nun als Erste nachgegeben hatte.

Rhapsody erwiderte Oelendras Blick. »Was soll mit ihm sein, Oelendra? Er ist verheiratet. Bedeutet das für dich nichts? Für mich schon.«

»Und deine Antwort darauf lautet, seinen Onkel zu heiraten? Wie sinnig. Gwydion ist mir egal«, entgegnete Oelendra und versuchte, die Schärfe aus ihrer Stimme zu nehmen. »Um dich mache ich mir Sorgen. Du bist noch so, wie du warst, als du zum ersten Mal hierher gekommen bist: ohne Kummer und Tränen. Du trägst ihn in deinem Herzen, Rhapsody. Noch ist da kein Platz für jemand anderen, vor allem nicht für Anborn.«

»Und so wird es für den Rest meiner Tage bleiben. Was soll es also? Anborn versteht, welchen Platz er in meinem Leben einnehmen soll und ich in seinem. Vermutlich wird er mein Recht, sich nicht um ihn zu kümmern, noch mehr respektieren als du. Es handelt sich um eine Vernunftehe, und wir beide wissen das. Was willst du also von mir? Soll ich mein ganzes Leben lang trauern, unverheiratet bleiben und zusehen, wie unsere Soldaten aufeinander losrennen und ihr Blut und Leben für die Forderung nach einer Verbindung mit mir einsetzen? Wie kannst du glauben, dass ich so selbstsüchtig bin, Oelendra? Ich war der Meinung, von allen würdest du mich am besten verstehen.« Ihr versagte die Stimme. Sie schwieg und schaute ihre Lehrerin an.

Oelendra stand auf, ging zu ihr und hockte sich vor Rhapsody, wie sie es bei Kindern tat. Sie streichelte Rhapsodys Gesicht.

»Ich verstehe dich vermutlich besser als du selbst, mein Liebes«, sagte sie sanft. »Du bist verwundet und hast Schmerzen, und du suchst nach einem Zufluchtsort. Komm zu mir, Rhapsody. Ich kann dich beschützen, bis du wieder gesund bist.«

Rhapsody schob ihre Hand fort. »Nein, Oelendra, ich kann auf mich selbst aufpassen. Wenn ich das immer noch nicht könnte, sollte ich meine Sachen packen und zurück nach Ylorc gehen. Außerdem weißt du genauso gut wie ich, dass dieser Unsinn erst dann aufhört, wenn etwas geschieht.«

Oelendra versuchte es auf einem anderen Weg. »Es ist also eine Vernunftheirat, und Anborn ist damit einverstanden?«

»Ja.«

»Dann wollt ihr wirklich als Mann und Frau leben? Auch Vernunftehen sind erst dann gültig, wenn sie vollzogen werden.« Sie suchte in Rhapsodys Gesicht nach Anzeichen des Errötens, wie es gewöhnlich der Fall, war, wenn sie geschlechtliche Dinge zur Sprache brachte, doch sie sah keine.

»Natürlich«, erwiderte Rhapsody bloß. »Ich habe Anborn die Wahl gelassen, und er war damit einverstanden.«

»Überrascht dich das?«

»Eigentlich nicht.«

»Und das hältst du für richtig? Du wirst es zulassen, dass er mit dir schläft?«

»Ja. Das gehört zu unserer Abmachung.«

Oelendra schüttelte traurig den Kopf. »Ich bin schon zu alt. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass du einmal so sprichst. Rhapsody, bitte überleg dir gut, was du sagst. Du willst dich an einen Mann verkaufen, den du nicht liebst, und dich über die wahren Gefühle deines Herzens hinwegsetzen.« Sie hielt inne. Der Ausdruck auf Rhapsodys Gesicht ängstigte sie. Die Königin zitterte vor Wut; ihre Augen brannten in grünem Feuer. »Ich hasse es, dich zu enttäuschen, Oelendra, aber es wäre nicht das erste Mal. Jedenfalls habe ich diesmal einen guten Grund. Ich verkaufe mich nicht, weil ich selbst überleben will, sondern damit die lirinschen Soldaten überleben. Glaubst du nicht auch, dass das ein guter Tausch ist? Ich habe dir die ganze Zeit gesagt, dass ich die Ansprüche, die an meine Position gestellt werden, nicht erfüllen kann, aber du wolltest mir ja nicht glauben. Daher sollte es dich nicht wundern, wenn ich jetzt wieder die alten Wege gehe und die Hurerei als den Weg des geringsten Widerstandes ansehe. Das ist der einzige Weg, den ich kenne, Oelendra. Das bin ich nun einmal. Du kannst eine Schlampe mit alten Diademen krönen und sie in so viele seidene Gewänder stecken, wie du willst, doch das wahre Wesen zeigt sich immer. Sie wird eher auf dem Rücken liegen, als aufstehen und kämpfen. Und wage es bloß nicht, mir mit Ashe zu kommen. Wenigstens er versteht mich. Er weiß, wer ich war, und er akzeptiert es. Er hat mich nicht zu einer Respektsperson oder Anführerin stilisiert. Er hat in mir jemanden gefunden, der einen eigenen Wert hat. Er hat sich mir gegenüber wie ein König verhalten, und dafür respektiere ich ihn. Also quäle mich bitte nicht. Hilf mir, Oelendra. Es ist schon hart genug für mich, auch wenn du dich nicht als meine Mutter aufspielst. Dem Schicksal sei Dank, dass es sie zu sich genommen hat, bevor sie die armseligste Führerin sehen musste, die die Lirin je hatten. Dem Schicksal sei Dank, dass sie gestorben ist, ohne in mir die Hure sehen zu müssen, die ich bin.«

Bevor sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, wurde Rhapsodys Kopf herumgerissen. Eine klatschende Ohrfeige hatte sie mitten ins Gesicht getroffen. Sie zuckte zusammen und versuchte, den körperlichen und geistigen Schock zu verarbeiten. Blut quoll unter der Haut hervor. Sie sah in Oelendras silberne Augen und erkannte den Zorn unter der ruhigen Oberfläche.

»Du hast gerade die Ehre meiner Königin und, schlimmer noch, meiner Freundin beleidigt«, sagte Oelendra mit kalter, leiser Stimme. »Wenn du jemand anders wärest, hätte ich dich dafür an Ort und Stelle getötet.«

Schwaches Mitgefühl dämpfte allmählich ihre Wut. »Du bist vielleicht eine Meisterin des Schwertes, Rhapsody, aber du vergisst bereits die wichtigsten Lektionen, die du hier gelernt hast. Mir ist egal, was du warst oder wie du überlebt hast. Wir alle tun, was wir tun müssen, wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen. Ich liebe dich für das, was du bist und für das, was noch aus dir werden kann.«

Rhapsody senkte den Blick, als schämte sie sich. »Es tut mir Leid, Oelendra«, sagte sie sanft.

»Ich kann nichts dafür. Ich weiß, was ich tun muss, aber es schmerzt mich so sehr, dass ich befürchte, es bringt mich um. Es wird entweder Anborn oder Achmed sein. Sie sind die einzigen Gatten, die stark genug sind, die anderen im Zaum zu halten. Ich will Achmed aber keinen Zutritt zu Tyrian geben, es sei denn, als Verbündeter. Ich liebe ihn, aber ich mache mir keine Illusionen darüber, was er tun würde. Bitte hilf mir bei dem, was ich tun muss, Oelendra. Ich kann es nicht ertragen, jemanden für meine Verteidigung sterben zu sehen. Bitte, Oelendra. Ich brauche deine Stärke. Hilf mir, wenn du mich liebst.«

Oelendra nahm ihre Königin in die Arme und hielt sie fest, während sie weinte. »Wir alle brauchen Schultern, an denen wir uns ausweinen können, Liebes. Du bist an meiner jederzeit willkommen. Aber du brauchst meine Stärke nicht. Du musst nur das befolgen, was ich dir schon gesagt habe, und auf die Stimme deines Herzens achten.«

»Nein, das kann ich nicht, Oelendra«, schluchzte Rhapsody. »Mein Herz ist eigensüchtig, und diesmal bekommt es nicht das, was es will, denn das gehört jetzt jemand anderem. Also muss ich auf meinen Bauch hören. Er sagt mir, dass meine Seele stirbt, wenn für meine Ehre, die sowieso ein lächerliches Zerrbild ist, Blut vergossen wird.« Ihre Tränen trockneten und sie bemühte sich, wieder ruhig zu werden. »Hilf mir, Oelendra. Wenn mich jemand versteht, dann bist du es. Du hast dieses Leben hier die ganze Zeit über gelebt, wo du doch bei deinen Lieben hättest sein können, nur weil dich dein Pflichtgefühl gegenüber diesem Volk dazu bestimmt hat. Wie kannst du mich darum bitten, so etwas nicht zu tun?

Falls du etwas über Anborn weißt, das ihn gefährlich macht, sag es mir bitte. Dann werde ich mit Achmed reden. Vielleicht kommen wir zu einer eng begrenzten Übereinkunft. Aber tu mir das da bitte nicht an.« Sie deutete in die Richtung des Lärms, der sogar in Oelendras Haus zu hören war. Vier Tage nach dem Beginn wurden immer noch die Anträge von den müden Sekretären aufgenommen.

Oelendra hörte zum ersten Mal hin und wandte den Kopf ebenfalls in die Richtung des Tumults jenseits des Fensters. Das Gelächter und die Streitereien hatten in den letzten vier Tagen abgenommen, doch das schrille Pfeifen und fröhliche Lärmen, das Zanken und die hässlichen Drohungen und zahllosen Sprachen und Dialekte waren noch deutlich unterscheidbar. Es war der Lärm einer Hetzjagd, nicht unähnlich dem Aufruhr vor den Gladiator-Arenen in Sorbold und den fernöstlichen Provinzen. Allmählich begriff Oelendra. Sie drehte sich wieder zu Rhapsody um, deren Gesicht den ruhigen und zugleich panischen Ausdruck eines Fuchses unmittelbar vor der Jagd trug.

Oelendra verspürte Mitleid mit ihrer Freundin und Herrscherin. Wie schrecklich muss es sein, solch unvergleichliche Schönheit zu besitzen, die einem aber nichts als Verzweiflung bringt, dachte sie traurig. Sie fuhr mit den Fingern sanft an den goldenen Locken entlang, packte Rhapsody bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen.

»Natürlich werde ich dir helfen«, sagte sie und lächelte, um der zitternden Königin Mut zu machen. »Du kannst dich immer auf mich verlassen. So lange ich lebe, werde ich dir helfen. Nicht nur weil du meine Königin bist, sondern auch für alles andere, was du für mich bist. Wenn du jemals bezweifelst, dass du es wert bist, die Herrscherin dieses Volkes zu sein, dann erinnere dich an die Wahl, die du heute treffen wolltest. Es bedeutet vollendete Führungsqualitäten, wenn man bereit ist, für die Untertanen das zu opfern, was einem das Liebste ist. Die Lirin könnten sich nicht in besseren Händen befinden. Ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um das hier zu beenden, und ich werde dir bei allen schwierigen Entscheidungen helfen. Du bist nicht allein. Aber zunächst musst du mir ein wenig Zeit lassen. Ich muss einiges tun und mit ein paar Leuten reden. Vertraust du mir?«

»Ja, vollkommen. Aber...«

»Gut, dann hör mir zu. Versprich mir, dass du keine Entscheidung triffst, bis ich zurück bin.«

»Und was ist, wenn Ansprüche an mich gestellt werden oder ich eine kriegerische Herausforderung erhalte?«

»Das wird nicht der Fall sein; ich bin nicht lange fort. Rial soll Sendschreiben an alle vertretenen Orte schicken und ihnen mitteilen, dass du über die vielen attraktiven Angebote nachdenkst und dich zurückziehen wirst, um dir über den Wert eines jeden Freiers klar zu werden.«

»Dann werde ich genau das tun. Ich will nicht lügen.«

»Gut. Vielleicht lernst du dabei einiges Interessante über deine Verbündeten und Feinde. Stürz dich nicht blindlings in die Arme von Achmed oder Anborn, bis du die Gelegenheit hattest, genau das zu tun, um was du die Freier bitten wirst. Ich werde dir helfen, aber du musst mir die Zeit dazu geben.«

»In Ordnung, das werde ich tun. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Bevor ich mich um diese Dinge kümmern kann, muss ich den F’dor töten. Achmed und Grunthor werden bald herkommen und den Einsatz planen; dann werden wir ihn jagen. Aber ich will dich trotzdem fragen, welche Bedenken du wegen Anborn hast. Mir scheint er ein guter Mann zu sein.«

»Es gibt eine ganze Menge Gründe, Liebes. Die Lirin hassen Anborn. Er hat im Krieg sehr erfolgreich gegen sie gekämpft und war ein brillanter General. Seine Angriffe gegen die tyrianischen Stellungen waren verheerend.«

»Das ist Vergangenheit, Oelendra. Ich hatte geglaubt, du willst mir helfen, die Wunden zu heilen und die Völker miteinander zu versöhnen. Wenn die Lirin ihn nicht als meinen Ehemann akzeptieren können, werde ich zurücktreten.«

»Bedenke, was du sagst, Rhapsody. Du kannst im Augenblick nicht klar denken. Auch wenn du Anborn weder haben willst noch liebst, planst du, ihn zu heiraten, weil du die lirinsche Königin bist und als solche einen Gatten brauchst, damit du die Bedrohungen durch deine Nachbarn abwehren kannst. Und jetzt sagst du, dass du abdanken möchtest, wenn die Lirin deine Wahl missbilligen. Was willst du tun, wenn das der Fall ist? Anborn trotzdem heiraten? Dann hast du einen Ehemann, den du nicht liebst, und nicht einmal mehr einen Grund für eine Heirat. Das ergibt doch keinen Sinn.

Du hast mich gefragt, was an einer Ehe mit Anborn falsch wäre. Falsch daran ist vor allem, dass du ihn kaum kennst. Du handelst aus freien Stücken. Du glaubst, weil du ihn nur ein wenig kennst, ist er dir gleichgültiger als Gwydion. Auch das ist falsch gedacht. Vielleicht willst du einige Dinge nicht sehen, aber sie sind trotzdem da.

Außerdem darfst du nicht vergessen, dass Llauron die Seite seiner Mutter und Anborn die seines Vaters ergriffen hat. Er war Gwylliams Kämpfer und sein Mörder. Er ähnelt Achmed mehr, als du erkennen willst, Rhapsody. Und er hat einen gesetzmäßigen Anspruch darauf, Herrscher der Cymrer zu sein, genau wie Gwydion, wenigstens bei der Zweiten und Dritten Flotte. Wenn du ihn heiratest, stellt du damit möglicherweise sicher, dass er niemals den Thron besteigen wird. Vielleicht kommt es sogar zu einem neuen Krieg. Denk sorgfältig darüber nach, meine Liebe. Und jetzt will ich mich ein wenig umhören. Es wird nicht lange dauern.«

Oelendra ging zum Waffenregal, gürtete sich ein Schwert um und nahm den seltsam gekrümmten weißen Bogen. Sie warf Rhapsody eine Kusshand zu, während sie den grauen Mantel mit dem hohen Kragen vom Haken nahm und die Tür zum Garten öffnete.

»Bitte schließ hinter dir ab, wenn du gehst.« Sie zog die Tür hinter sich zu.

Rhapsody ging hinüber zum Kamin, bückte sich und stocherte in den Kohlen herum. Einen Augenblick später öffnete Oelendra die Tür wieder und betrat das Haus mit einer Schriftrolle in der Hand.

»Also, Oelendra, du hältst wirklich Wort. Du warst überhaupt nicht lange fort.« Rhapsodys Lächeln verschwand, als sie in Oelendras Gesicht schaute. »Was ist los?«

Oelendra hielt die Rolle hoch. »Sie ist von Achmed.«

Rhapsody nahm das Papier an sich, brach das Siegel und entrollte die Botschaft. Die spinnenartige Handschrift war unverkennbar, und die Firbolg-Sprache war in den alten Geheimcode eingebettet. Die Königin las das Dokument so schnell, wie sie es entschlüsseln konnte, und ließ sich dann auf die Bank vor dem Feuer sinken.

»Worum geht es?«

Sie schaute nicht auf. »Ich muss morgen früh nach Bethe Corbair abreisen.«

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