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Obwohl sie weit vom Gerichtshof entfernt war, hörte sie das Kreischen und Grölen und sah die Flammen der Freudenfeuer in der Ferne vor dem dunklen Himmel. Der Wind, der um den Ring der Senke blies, auf dem sie stand, brachte den Geruch von Asche und den Geschmack einer bitteren Vergangenheit mit, die wiederum von Hoffnung gesüßt wurde.

Anwyn schaute auf das Hörn in ihrer Hand herunter. Selbst ohne Mondlicht glänzte es wie eine leuchtende Perle in der Finsternis. Das Metall war noch warm; zweifellos war es die Hitze der Frau, die sich das Instrument angemaßt, ihren vollkommenen Mund daran gelegt und Anwyns eigenes Volk zu sich gerufen hatte. Natürlich waren sie gezwungen gewesen, auf der Versammlung zu erscheinen. Niemand, der aus Serendair gekommen oder von altem Geblüt war, konnte sich dem Befehl des Horns widersetzen. Dafür hatte Gwylliam gesorgt. Das war keine Entschuldigung, auch nicht für den Verrat, unter dem sie litt.

Überhaupt keine Entschuldigung.

Sie schloss die Augen, hielt das Hörn hoch, streckte die Arme der Sternerhellten Himmelsdunkelheit entgegen.

Die Worte der anmaßenden Dirne kamen ihr wieder in Erinnerung, wie sie ihr im lachenden Nachtwind voller Feiertrunkenheit entgegengeweht waren.

Anwyn ap Merithyn, tuatha Elynsynos, ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit.

Deine Handlungen sind nicht mehr im Gleichgewicht. Von nun an wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat. Du wirst nichts mehr über den Herrschaftsbereich deiner Schwestern, die Gegenwart und die Zukunft, sagen können. Niemand wird dich mehr aus einem anderen Grund aufsuchen. Also solltest du dein Wissen besser darbieten, denn sonst wirst du bald vollkommen vergessen sein.

Die Seherin lachte auf. Zuerst brach sich ihre Fröhlichkeit in einem Kichern Bahn, dann im Keuchen. Sie warf den Kopf zurück und brüllte vor Freude genauso wild wie ihre Schwester Manwyn, aber viel heimtückischer. Sie lachte, bis nicht mehr zu erkennen war, ob sie vor Vergnügen kreischte oder in Wahnsinn brüllte, auch wenn keine lebende Seele sie durch das Knacken der Freudenfeuer hören konnte, die den Gerichtshof noch immer mit tanzendem Licht erfüllten.

Ab nun wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat.

Anwyn packte das Hörn noch fester. Ihre sengenden blauen Augen durchglühten die Finsternis.

»Sehr gut«, sagte sie. »Wie Ihr befehlt, Euer Majestät.«

Ich brauche deine Erinnerungen, hatte der Dämonengeist aus dem Feuer geflüstert. Ihre Antwort mischte sich mit dem zischenden Wind.

»Ich verstehe«, sagte sie.

Anborn war in ungewöhnlich guter Stimmung, als er nach Westen durch das Vorgebirge zu den weiten Krevensfeldern ritt. Wenn man bedachte, wie der Tag begonnen hatte, war es erfrischend, wie sich die Dinge entwickelt hatten.

Zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten fühlte sich der Marschall frei und unbeschwert. Der Wind brauste, die Nacht war sternenklar, die dunstige Luft erfüllt vom frischen Duft des Sommers, gefärbt vom scharfen Rauch der fernen Freudenfeuer. Anborn nahm den Helm vom Kopf und fuhr sich mit der Hand durch das schweißnasse Haar. Der sanfte Schritt des Pferdes, das Trappeln der Hufe über die Erde es gab noch Dinge im Leben, die man genießen konnte. Nach so vielen Jahrhunderten der Enttäuschung war die Steingruft um sein Herz schließlich aufgebrochen. In seiner Jugend war Anborn ein Idealist gewesen. Er erinnerte sich an die Kraft, mit der er das Leben gelebt hatte, an die unsterblichen Eide, die er zu Beginn seiner Kampfausbildung auf die Statuten der Blutsverwandten abgelegt hatte, der alten Kriegerbruderschaft, die er um Aufnahme ersucht hatte. All diese leidenschaftlichen Ideale waren auf den Schlachtfeldern des Großen Krieges gestorben, zusammen mit seiner Seele das zumindest hatte er angenommen.

Er erinnerte sich an die Worte seiner Schwertkampflehrerin Oelendra Andaris. Ich diene keinem Herrn, sondern einem Volk, hatte sie gesagt. Wenn jene, die herrschen, auch dienen, dann werde ich meine Treue einer Krone geloben. Aber erst dann. Für sie beide, Oelendra und Anborn, beide Blutsverwandte, keiner unwiderruflich vom Krieg verletzt, war die Zeit gekommen, in der sie wieder an etwas glauben konnten. Friede erschien wie die heraufziehende Dämmerung am Himmel.

Er richtete seine Gedanken auf Rhapsody, wie so oft, wenn er an nichts Besonderes dachte. Anborn fragte sich, was sie in diesem Augenblick wohl tat, aber er unterdrückte diese Überlegungen. Er hatte die Blicke gesehen, die sie und Gwydion sich zugeworfen hatten. Falls sein Neffe kein völliger Narr war, konnte er sich gut vorstellen, was sie nun taten, und es wäre nicht schicklich, weiter darüber nachzudenken.

Er lachte und erfreute sich an der Wendung der Ereignisse und dem Versprechen eines Neuanfangs. Freude überrollte ihn gleich einer Welle und fuhr ihm durch die Haare, die wie sein Mantel flatterten. Sein Glück war so groß wie der Sternenhimmel über ihm, der fern am Horizont ein wenig heller wurde und den herannahenden Tag ankündigte.

Anwyn setzte das Hörn an die Lippen und blies hinein.

Der Schall wurde nicht in dieser Zeit und von keiner lebenden Seele vernommen. Er hallte durch das Reich der Vergangenheit, wie schon viele Jahrhunderte zuvor. Er quoll aus dem silbernen Hörn und schwebte in der schweren Luft uralter Erinnerungen.

Nach langem Widerhall regnete er langsam aus der Luft herab und ließ sich in der Erde nieder.

Anwyn lächelte und schloss die Augen. Mit einer Stimme, die hohl vor lauter Erinnerung klang, setzte sie zu ihrem Lied an.

Der Überfall auf Farrows Hügel.

Die Belagerung von Bethe Corbair.

Der Todesmarsch der cymrischen Nain.

Der Brand der westlichen Dörfer.

Kesel Tal

Tormingorllo.

Das Lingen-Tal.

Die Schlacht an der Wynnarth-Festung.

Die Vergewaltigungen im Wasserlager von Varim.

Der Angriff auf das südöstliche Gesicht.

Die Ausweidung der vierten Kolonne.

Die Massenexekution der Bauernsiedlungen der Ersten Flotte.

Die Schlacht auf den canderianischen Feldern.

Geduldig zählte sie eine schreckliche Geschichte nach der anderen auf jeden Konflikt aus dem Großen Krieg, der von dem F’dor angestachelt, aber durch einfachere Umstände entfacht worden war: Wut, Verrat, Eifersucht, Machthunger. Und Hass, der noch älter war als die Vorzeit.

Als sie all die großen Verluste des Krieges genannt hatte, ging sie über zu jedem einzelnen Scharmützel, zu jedem einzelnen Ort, an dem Menschen den Machenschaften des Dämonengeistes zum Opfer gefallen waren.

Als die Litanei vollendet war, setzte sie abermals das Hörn an die Lippen und blies es. Anwyn öffnete die Augen. Sie lächelte.

Als Anborn den Kamm eines großen Hügels erreichte, scheute sein Pferd vor Angst. Anborn zügelte es und besänftigte das Tier. Dann warf er einen Blick über die Schulter, weil er sehen wollte, was das Tier erschreckt hatte.

Einen Moment lang bemerkte er nichts in der Finsternis. Als er allmählich Einzelheiten erkannte, loderte das Blut des Drachen in ihm vor Panik auf.

»Guter Schöpfer«, murmelte er. Die Worte blieben ihm im Halse stecken.

Die Dunkelheit unter seinen Füßen bewegte sich.

Die ganzen weiten Krevensfelder bewegten sich.

Sofort lenkte Anborn sein Pferd von dem Hügel herunter und galoppierte zurück zum Gerichtshof, während der Boden hinter ihm aufbrach.

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