Für Ruth und Billy Graham.
Ich kenne niemanden, der so ist wie ihr, und ich liebe euch.
Ich danke Julia Cameron, die mich auf meinem künstlerischen Weg begleitet hat.
Für Charlie und Marty und Irene.
Ihr alle habt es möglich gemacht.
Die gelben Bulldozer und Bagger legen einen alten Gebäudekomplex, der mehr Tote gesehen hat als die meisten Schlachtfelder der Moderne, in Schutt und Asche. Kay Scarpetta bremst ihren gemieteten Geländewagen ab, bis er fast steht. Erschüttert betrachtet sie das Werk der Zerstörung und sieht zu, wie die senf-farbenen Baumaschinen ihre Vergangenheit zu Staub verfallen lassen.
Jemand hätte es mir sagen sollen, sagt sie.
Eigentlich wollte sie an diesem grauen Dezembermorgen nur ganz unschuldig in Erinnerungen schwelgen und an ihrer alten Arbeitsstätte vorbeifahren. Sie ahnt nicht, dass das Haus gerade abgerissen wird. Das hätte ihr wirklich jemand erzählen können. Einfach nur der Höflichkeit halber hätte man es erwähnen müssen: »Ach, übrigens, das Gebäude, in dem du gearbeitet hast, als du noch jung und voller Hoffnungen und Träume warst und an die Liebe geglaubt hast, das alte Gebäude, das du immer noch vermisst und für das du so viel empfindest, wird gerade abgerissen.«
Ein Bulldozer stürmt mit angriffslustig gereckter Schaufel voran. Seine lautstarke, maschinengetriebene Zerstörungswut scheint eine Warnung, ein Alarmsignal zu sein. Ich hätte besser hinhören sollen, denkt sie, während sie den rissigen, zerborstenen Beton betrachtet. Der Fassade ihrer alten Wirkungsstätte fehlt schon das halbe Gesicht. Sie wäre gut beraten gewesen, auf ihre Gefühle zu hören, als man sie gebeten hat, nach Richmond zurückzukehren.
»Ich habe einen Fall, bei dem Sie mir vielleicht helfen können«, meinte Dr. Joel Marcus, der derzeitige Chefpathologe des Staates Virginia, der Mann also, der Scarpettas Platz eingenommen hat. Erst gestern Nachmittag hat er sie angerufen.
»Natürlich, Dr. Marcus«, sprach sie ins Telefon, während sie in der Küche ihres Hauses in Südflorida auf und ab ging. »Was kann ich für Sie tun?«
»Eine Vierzehnjährige wurde tot in ihrem Bett aufgefunden. Das war vor zwei Wochen um die Mittagszeit. Sie war krank, hatte die Grippe.«
Scarpetta hätte ihn fragen sollen, warum er sie angerufen hat. Warum ausgerechnet sie? Aber sie hat ihre Gefühle ignoriert. »Also war sie nicht in der Schule?«, erkundigte sie sich.
»Genau.«
»War sie allein?« Den Hörer unters Kinn geklemmt, rührte sie in einer Mischung aus Bourbon, Honig und Olivenöl herum.
»Ja.«
»Wer hat sie gefunden, und was ist die Todesursache?« Sie goss die Marinade in einen Gefrierbeutel aus Plastik, in dem sich ein mageres Sirloin-Steak befand.
»Ihre Mutter. Die Todesursache steht noch nicht fest«, erwiderte er. »Nichts Verdächtiges, nur dass sie, wenn man danach geht, was wir gefunden oder besser nicht gefunden haben, eigentlich noch leben müsste.«
Scarpetta legte den Plastikbeutel mit dem Fleisch und der Marinade in den Kühlschrank, zog die Kartoffelschublade auf und schloss sie wieder, weil sie es sich anders überlegt und beschlossen hatte, keine Kartoffeln zu kochen, sondern lieber Vollkornbrot zu backen. Sie konnte nicht still stehen, geschweige denn sitzen, war nervös und tat alles, um sich das nicht anmerken zu lassen. Warum rief er ausgerechnet sie an? Sie hätte ihn danach fragen sollen.
»Wer wohnt noch in ihrem Haushalt?«, erkundigte sich Scarpetta.
»Ich würde die Einzelheiten lieber persönlich mit Ihnen besprechen«, erwiderte Dr. Marcus. »Der Fall ist recht heikel.«
Beinahe hätte Scarpetta erwidert, dass sie gerade im Begriff sei, zu einem zweiwöchigen Urlaub nach Aspen in Colorado aufzubrechen, aber sie bekam die Worte nicht heraus, weil sie nicht mehr stimmten. Obwohl sie es schon seit Monaten geplant hatte, würde sie nicht nach Aspen fahren. Die Reise war abgesagt. Sie brachte es nicht über sich zu lügen, verschanzte sich stattdessen hinter ihrem Beruf und flüchtete sich in die Ausrede, sie könne nicht nach Richmond kommen, weil sie gerade mitten in einem schwierigen Fall stecke, einem komplizierten Fall, Tod durch Erhängen, die Familie des Toten weigere sich, an Selbstmord zu glauben.
»Was ist bei Erhängen denn das Problem?«, fragte Dr. Marcus. »Rassistischer Hintergrund?«
»Er ist auf einen Baum gestiegen, hat sich ein Seil um den Hals gelegt und die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, für den Fall, dass er es sich doch noch anders überlegen könnte«, entgegnete sie und öffnete eine Schranktür in ihrer hellen, freundlich wirkenden Küche. »Als er vom Ast gestiegen und gefallen ist, ist sein zweiter Halswirbel gebrochen. Das Seil hat ihm die Kopfhaut zurückgeschoben, sodass es aussah, als runzle er die Stirn und litte Schmerzen. Und jetzt versuchen Sie mal, das und die Handschellen seiner Familie in Mississippi zu erklären, und zwar im allertiefsten Mississippi, wo Army-Klamotten normal sind und schwule Männer nicht.«
»Ich war noch nie in Mississippi«, antwortete Dr. Marcus gleichgültig, als wollte er damit ausdrücken, dass ihn weder der Erhängte noch sonst irgendeine Tragödie, die keine direkten Auswirkungen auf sein Leben hatte, interessierte.
»Ich würde Ihnen ja gern helfen«, meinte Scarpetta, während sie eine noch unangebrochene Flasche naturtrübes Olivenöl öffnete, obwohl das nicht unbedingt jetzt hätte sein müssen. »Aber es ist vermutlich keine gute Idee, wenn ich mich in einen Ihrer Fälle einmische.«
Sie war wütend, gestand es sich aber nicht ein, als sie in ihrer großen, gut ausgestatteten Küche mit den Geräten aus Edelstahl, den Arbeitsflächen aus poliertem Granit und den großen, hellen Fenstern, die einen Blick auf den Intracoastal Waterway boten, umherging. Sie ärgerte sich wegen Aspen, wollte es sich jedoch nicht eingestehen. Und obwohl sie wütend war, wollte sie Dr. Marcus nicht durch einen Wink mit dem Zaunpfahl darauf hinweisen, dass er nun die Vorzüge eben des Postens genoss, den man ihr weggenommen hatte. Das war auch der Grund, warum sie Virginia verlassen hatte, und sie hatte eigentlich nicht vor, je dorthin zurückzukehren. Aber sein langes Schweigen ließ ihr keine Wahl, als weiterzusprechen und ihm zu erklären, dass sie nicht in aller Freundschaft aus Richmond fortgegangen sei, was er doch sicher wisse.
»Kay, das ist doch schon lange her«, erwiderte er. Sie hatte sich für die professionelle und respektvolle Anrede Dr. Marcus entschieden, und nun nannte er sie einfach Kay. Es erschreckte sie selbst, dass sie das als beleidigend empfand. Aber dann sagte sie sich, dass er nur eine freundschaftliche und persönliche Atmosphäre schaffen wollte, während sie überempfindlich und übertrieben reagierte. Sie fragte sich, ob sie nur neidisch auf ihn war und sich wünschte, dass er scheiterte, und schalt sich im nächsten Moment wegen ihrer eigenen Kleinlichkeit. Es war doch nur verständlich, dass er sie Kay und nicht Dr. Scarpetta nannte, hielt sie sich vor Augen, obwohl ihr Gefühl das Gegenteil sagte.
»Wir haben inzwischen eine andere Gouverneurin«, fuhr er fort. »Vermutlich weiß sie gar nicht, wer Sie sind.«
Nun deutete er an, Scarpetta sei so unwichtig und unbedeutend, dass sie der Gouverneurin sicherlich kein Begriff wäre. Dr. Marcus hatte sie schon wieder beleidigt. Unsinn, rief sie sich sofort zur Ordnung.
»Bei unserer neuen Gouverneurin dreht sich alles um unser augenblickliches Haushaltsdefizit und um die vielen potenziellen terroristischen Angriffsziele, die wir hier in Virginia bieten …«
Scarpetta konnte sich selbst ihre negative Haltung gegenüber ihrem Nachfolger nicht verzeihen. Schließlich bat er sie nur um Hilfe in einem schwierigen Fall. Warum hätte er sich nicht an sie wenden sollen? Schließlich kam es nicht selten vor, dass Manager, die von einem Großkonzern gefeuert wurden, später als Experten und Berater gefragt waren. Außerdem würde sie ja, wie sie sich vor Augen hielt, ohnehin nicht nach Aspen fahren.
»… Atomkraftwerke, unzählige Militärstützpunkte, die FBI-Akademie, ein nicht unbedingt geheimes CIA-Ausbildungslager, die Bundesbank. Also werden Sie keine Probleme mit der Gouverneurin kriegen, Kay. Dazu ist sie viel zu ehrgeizig. Außerdem steht sie mit einem Bein eigentlich schon in Washington und kümmert sich nicht darum, was sich in meinem Büro tut«, fuhr Dr. Marcus in seinem weichen Südstaatenakzent fort und versuchte Scarpetta die Befürchtung auszureden, dass es Kontroversen auslösen oder Aufmerksamkeit erregen könnte, wenn sie, fünf Jahre nachdem sie aus der Stadt gejagt worden war, wieder hier einzog. Allerdings überzeugte er sie nicht wirklich, weil ihre Gedanken nun in Aspen und bei Benton waren. Benton war dort oben in Colorado, und sie steckte hier in Florida, allein. Deshalb hatte sie nun plötzlich auch jede Menge Zeit totzuschlagen und konnte genauso gut auch einen neuen Fall annehmen.
Scarpetta biegt langsam um die Ecke des Häuserblocks, der in einer Phase, die ihr inzwischen endgültig abgeschlossen erscheint, ihr Lebensmittelpunkt gewesen ist. Staubwolken steigen auf, als Maschinen sich wie riesige gelbe Insekten auf den Kadaver ihres früheren Arbeitsplatzes stürzen. Metallklingen und Schaufeln klappern und wummern gegen Beton und Erdreich. Lastwagen und Maschinen, die Erde bewegen, rollen und rucken hin und her. Reifen zermalmen und Stahlgürtel zerren.
»Tja«, sagt Scarpetta. »Ich bin froh über die Gelegenheit, das sehen zu können. Aber trotzdem hätte es mir jemand erzählen sollen.«
Pete Marino, ihr Beifahrer, beobachtet schweigend, wie das gedrungene, schäbige Gebäude am Rand des Bankenviertels abgerissen wird.
»Und ich freue mich, dass du es auch siehst, Captain«, fügt sie hinzu, obwohl er gar kein Captain mehr ist. Wenn sie ihn Captain nennt, was nicht oft passiert, will sie besonders nett zu ihm sein.
»Genau, was der Arzt mir verschrieben hat«, murmelt er in dem sarkastischen Tonfall, der in seinen meisten Äußerungen mitschwingt wie das Schlüssel-C auf dem Klavier. »Und du hast Recht. Jemand hätte es dir erzählen sollen, und dieser Jemand ist der schwanzlose Kerl, der jetzt auf deinem Stuhl sitzt. Er bettelt dich an, herzufliegen, obwohl du seit fünf Jahren keinen Fuß nach Richmond gesetzt hast, und dann macht er sich nicht einmal die Mühe, dir zu sagen, dass dein altes Büro abgerissen wird.«
»Bestimmt hat er nicht dran gedacht«, erwidert sie.
»Der kleine Wichser«, gibt Marino zurück. »Er ist mir jetzt schon unsympathisch.«
Heute Morgen hat sich Marino mit voller Absicht so ausstaffiert, dass er verschiedene bedrohliche Botschaften ausstrahlt: schwarze Cargohose, schwarze Polizeistiefel, eine schwarze Regenjacke und eine Baseballkappe mit der Aufschrift LAPD, Los Angeles Police Department. Scarpetta ist klar, dass er wie ein cooler Großstädter aussehen will, der mit allen Wassern gewaschen ist, um sich von den Leuten hier abzugrenzen. Immer noch ist er sauer auf die Einwohner dieser sturen Kleinstadt, die ihn während seiner Zeit als Detective bei der hiesigen Polizei schikaniert, dumm angeredet oder herumkommandiert haben. Nur selten kommt ihm die Erkenntnis, dass er es auch verdient haben könnte, wenn er wieder einmal verwarnt, suspendiert, versetzt oder degradiert wurde, und dass er die Unhöflichkeit seiner Mitmenschen normalerweise selbst herausfordert.
Scarpetta findet, dass Marino, wie er so, die Sonnenbrille auf der Nase, in seinem Sitz hängt, ein wenig albern aussieht, denn sie weiß, wie sehr er Prominente im Allgemeinen und die Unterhaltungsindustrie im Besonderen verabscheut. Diese Abneigung erstreckt sich auch auf Leute, einschließlich Polizisten, die zu dieser Welt unbedingt dazugehören wollen. Die Kappe war ein witzig gemeintes Geschenk von ihrer Nichte Lucy, die vor kurzem ein Büro in Los Angeles – oder »Lost Angeles«, wie Marino es nennt – eröffnet hat. Jetzt kehrt Marino in seine eigene verlorene Stadt Richmond zurück und hat seinen Gastauftritt so choreographiert, dass er dabei wie das genaue Gegenteil dessen aussieht, was er ist.
»Hmm«, brummt er, ein wenig leiser, »das war’s dann wohl mit Aspen. Bestimmt ist Benton ziemlich sauer.«
»Genau genommen arbeitet er an einem Fall«, erwidert sie. »Also ist es wahrscheinlich sogar das Beste, wenn wir es um ein paar Tage verschieben.«
»Ein paar Tage, dass ich nicht lache. Ein paar Tage reichen nie. Ich wette, dass du es nicht nach Aspen schaffst. An was für einem Fall arbeitet er denn?«
»Das hat er nicht gesagt, und ich habe auch nicht nachgefragt«, antwortet sie und hat nicht vor, weiter über dieses Thema zu reden.
Marino schaut aus dem Fenster und schweigt eine Weile, sodass sie fast hören kann, wie er über ihre Beziehung mit Benton Wesley nachdenkt. Sie weiß, dass Marino sich Gedanken über sie beide macht, vermutlich ununterbrochen und auf eine Art und Weise, die ihm nicht ansteht. Irgendwie ahnt er, dass sie sich von Benton entfernt hat, und zwar körperlich, seit sie wieder zusammen sind. Es ärgert und demütigt sie, dass Marino so etwas spüren kann. Sie will nicht darüber grübeln, warum sie nicht mit ihm nach Aspen gefahren ist und was sie deshalb versäumen könnte. In all den Jahren, die Benton fort war, ist auch ein Teil von ihr fort gewesen. Als Benton dann wieder auftauchte, ist dieser Teil von ihr trotzdem nicht zurückgekommen, und sie hat keine Ahnung, warum.
»War vermutlich Zeit, dass diese Falle abgerissen wird«, sagt Marino und blickt aus dem Beifahrerfenster auf das geschundene Gebäude. »Wahrscheinlich machen sie es wegen Amtrak. Ich glaube, ich habe gehört, dass sie hier ein neues Parkhaus brauchen, weil sie den Bahnhof an der Main Street wieder eröffnen wollen. Ich habe vergessen, wer mir das erzählt hat. Ist schon eine Weile her.«
»Wäre nett gewesen, wenn du es mir gesagt hättest«, erwidert sie.
»Es ist schon eine Weile her, und ich erinnere mich nicht einmal mehr, von wem ich es habe.«
»Trotzdem wäre es nett, wenn ich Informationen wie diese bekäme.«
Er sieht sie an. »Ich kann es dir nicht verdenken, dass du schlechte Laune hast. Ich habe ich dich ja davor gewarnt, herzukommen. Der Abriss ist ein Omen, wenn du mich fragst. Außerdem fährst du gleich Schritttempo. Vielleicht solltest du mal Gas geben.«
»Ich habe keine schlechte Laune«, entgegnet sie. »Aber ich bin nun mal gern über alles im Bilde.« Sie fährt langsam weiter und betrachtet dabei das Gebäude, in dem früher ihr Arbeitsplatz war.
»Ich sage dir, es ist ein Omen«, wiederholt er, blickt sie an und starrt dann wieder aus dem Fenster.
Anstatt Gas zu geben, beobachtet Scarpetta weiter den Zerstörungsprozess. Langsam dämmert ihr die Wahrheit, und zwar etwa in demselben Tempo, in dem sie um den Häuserblock fährt. Das frühere Büro des Chefpathologen und die Labors der Gerichtsmedizin müssen einem Parkhaus für den restaurierten Bahnhof an der Main Street weichen, wo in dem Jahrzehnt, als sie und Marino hier gearbeitet haben, kein einziger Zug gehalten hat. Das gewaltige gotische Bahnhofsgebäude besteht aus einem Stein, der die Farbe getrockneten Blutes hat. Viele Jahre lang hat es im Dornröschenschlaf gelegen, nur unterbrochen von gelegentlichen Zuckungen, als es erst zum Einkaufszentrum umfunktioniert wurde – das bald Pleite machte – und später die Büros von Behörden beherbergte, die ebenso rasch wieder umzogen. Sein hoher Turm mit der Uhr galt als Wahrzeichen am Horizont und wachte über die geschwungenen Kurven des Highway I-95 und der Eisenbahnbrücken, ein geisterhaft bleiches Zifferblatt mit filigranen Zeigern, auf dem die Zeit stehen geblieben war.
Richmond hat sich ohne Scarpetta weiterentwickelt. Der Bahnhof an der Main Street wurde wieder zum Leben erweckt und ist nun ein Knotenpunkt für die Züge der Amtrak. Die Uhr funktioniert. Es ist sechzehn Minuten nach acht. In all den Jahren, in denen Scarpetta die Uhr in verschiedenen Rückspiegeln gesehen hat, als sie kreuz und quer durch die Stadt fuhr, um sich um die Toten zu kümmern, hat sie nie die richtige Zeit angezeigt. Das Leben in Virginia ist weitergegangen, und niemand hat sich die Mühe gemacht, sie davon in Kenntnis zu setzen.
»Ich weiß nicht, was ich erwartet habe«, sagt sie und schaut aus dem Seitenfenster. »Vielleicht, dass sie es entkernen und als Lagerhaus, Archiv oder Materialkammer verwenden. Aber gleich abreißen!«
»Eigentlich ist es das Beste so«, verkündet Marino.
»Keine Ahnung, warum, aber ich hätte nie gedacht, dass sie es wirklich tun.«
»Es gehört nicht unbedingt zu den architektonischen Weltwundern«, entgegnet er und ist plötzlich wütend auf das alte Gebäude. »Ein beschissener Betonhaufen aus den Siebzigern. Denk an all die Ermordeten, die dort durchgeschleust worden sind. Die AIDS-Opfer, die Obdachlosen mit Wundbrand. Vergewaltigte, erwürgte und erstochene Frauen und Kinder. Spinner, die von Dächern gesprungen sind oder sich vor einen Zug geworfen haben. Es gibt keine Todesart, die dieses Gebäude nicht gesehen hat. Ganz zu schweigen von all den rosafarbenen Gummileichen in den Bodenwannen der Anatomie. Die fand ich immer am schlimmsten. Weißt du noch, wie man sie an Ketten und Haken in den Ohren aus den Wannen gehoben hat? Alle nackt und rosa wie die drei kleinen Schweinchen und mit angewinkelten Beinen.« Als er die Beine hebt, um es vorzumachen, recken sich seine Knie in der schwarzen Cargohose in Richtung Sonnenblende.
»Vor nicht allzu langer Zeit hättest du deine Beine niemals so weit hochgekriegt«, stellt sie fest. »Noch vor drei Monaten konntest du kaum die Knie beugen.«
»Hmm.«
»Das meine ich ernst. Ich wollte dir schon lange sagen, wie gut du inzwischen in Form bist.«
»Das Bein heben schafft sogar ein Hund, Doc«, witzelt er, und dank des Kompliments bessert sich seine Laune sichtlich. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn nicht schon früher gelobt hat. »Vorausgesetzt, der fragliche Hund ist ein Männchen.«
»Mal ganz ehrlich, ich bin beeindruckt.« Seit Jahren macht sie sich schon Sorgen, dass Marino wegen seiner schauerlich ungesunden Lebensweise irgendwann einmal tot umfallen könnte – und trotzdem hat sie Monate gebraucht, um ihn zu loben, obwohl er sich solche Mühe gibt. Offenbar musste erst ihr alter Arbeitsplatz abgerissen werden, damit sie etwas Nettes zu ihm sagen kann. »Tut mir Leid, dass ich es bis jetzt nicht erwähnt habe«, fügt sie hinzu. »Aber ich hoffe auch, dass du dich nicht mehr nur von Eiweiß und Fett ernährst.«
»Ich bin jetzt ein Florida-Boy«, erwidert er vergnügt. »Und auf South-Beach-Diät. Allerdings werd ich den Teufel tun und in South Beach rumhängen. Da wimmelt es nur von Schwuchteln.«
»Nimm nicht solche Wörter in den Mund«, gibt sie zurück, denn sie kann es nicht leiden, wenn er so redet, was natürlich genau der Grund ist, warum er es tut.
»Erinnerst du dich an den Ofen da unten?«, schwelgt Marino weiter in seinen Erinnerungen. »Man wusste immer, wenn Leichen verbrannt wurden, weil dann Rauch durch den Schornstein aufstieg.« Er zeigt auf den schwarzen Kamin des Krematoriums oben auf dem halb zerstörten alten Gebäude. »Wenn ich die Qualmwolke sah, ist mir die Lust vergangen, hier rumzufahren und die Luft einzuatmen.«
Scarpetta fährt am hinteren Teil des Gebäudes vorbei, der noch intakt ist und so aussieht wie früher. Der Parkplatz ist leer bis auf einen großen gelben Traktor, der fast genau an der Stelle steht, wo sie immer geparkt hat, als sie noch Chefpathologin war, gleich rechts neben dem riesigen geschlossenen Rolltor. Für einen Moment hört sie das Kreischen und Ächzen des Tors, das sich ratternd aufwärts oder abwärts bewegte, wenn jemand drinnen auf den großen grünen oder den roten Knopf drückte. Sie hört Stimmen, das Rumpeln von Leichen- und Krankenwagen, das Aufgehen und Zuknallen von Türen und das Klappern und Scheppern der Bahren, wenn verhüllte Leichen die Rampe hinauf- und hinuntergeschoben wurden, rein und raus, Tag und Nacht, ein ständiges Kommen und Gehen.
»Schau es dir gut an«, sagt sie zu Marino.
»Das habe ich schon getan, als du das erste Mal um den Block gefahren bist«, erwidert er. »Hast du vor, den ganzen Tag hier im Kreis rumzukurven?«
Sie biegt an der Main Street links ab, umfährt, diesmal ein wenig schneller, die Abrissstelle und denkt, dass das Gebäude bald aussehen wird wie der wunde Stumpf eines Amputierten. Als wieder der Parkplatz in Sicht kommt, bemerkt sie einen Mann in olivgrüner Hose und schwarzer Jacke, der neben dem großen gelben Traktor steht und sich am Motor zu schaffen macht. Er hat wohl Probleme mit dem Traktor, aber sie fände es besser, wenn er nicht vor dem riesigen schwarzen Hinterreifen stehen würde, während er am Motor herumfummelt.
»Ich glaube, du solltest die Kappe im Auto lassen«, sagt sie zu Marino.
»Hä?«, fragt er und wendet ihr das flächige, wettergegerbte Gesicht zu.
»Du hast mich sehr wohl verstanden. Nur ein Tipp in aller Freundschaft und zu deinem eigenen Besten«, erwidert sie, während der Traktor und der Mann hinter ihr immer kleiner werden und irgendwann nicht mehr zu sehen sind.
»Du behauptest immer, dass es in aller Freundschaft und nur zu meinem eigenen Besten ist«, gibt er zurück. »Aber es stimmt nie.« Er nimmt die LAPD-Kappe ab und betrachtet sie nachdenklich. Schweißperlen glänzen auf seinem kahlen Schädel. Er hat die schütteren grauen Haarsträhnen, die ihm die Natur freundlicherweise noch lässt, selbst entfernt.
»Ich wusste gar nicht, dass du dir jetzt den Kopf rasierst«, meint sie.
»Man muss halt mit der Zeit gehen«, antwortet er. »Wenn man kaum noch Haare hat, ist es das Beste, sie loszuwerden.«
»Das klingt logisch«, erwidert sie. »In etwa so logisch wie alles andere auch.«