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Rudy ist schon seit einer Weile weg. Lucy befindet sich in ihrer Küche und greift nach dem Durchschlag des Berichts, den das Büro des Sheriffs von Broward County angefertigt hat. Es steht nicht viel darin. Eine unbefugte Person auf dem Grundstück wurde gemeldet, was möglicherweise im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Einbruch in demselben Haus steht.

Neben dem Bericht liegt ein großer brauner Umschlag. Darin steckt die Bleistiftzeichnung von dem Auge, die an der Tür befestigt gewesen ist. Der Polizist hat sie nicht mitgenommen. Gut gemacht, Rudy. Nun kann sie die Zeichnung testen, auch auf die Gefahr hin, dass sie dabei zerstört wird. Als sie durch das Fenster das Haus ihrer Nachbarin betrachtet, fragt sie sich, ob Kate inzwischen allmählich wieder nüchtern ist oder ob sie glaubt, dass sie sich nüchtern trinken kann – was halt so in den Köpfen von Betrunkenen vorgeht. Beim bloßen Gedanken an den Geruch von Champagner wird Lucy flau im Magen, und Angst überkommt sie. Sie weiß Bescheid über Champagner und wie man sich anderen Menschen an den Hals wirft, weil die mit zunehmendem Alkoholpegel immer besser aussehen. Damit kennt sie sich aus, und es ist eine Erfahrung, die sie ungern wiederholen würde. Wenn sie sich daran erinnert, könnte sie im Erdboden versinken.

Sie ist froh, dass Rudy unterwegs ist. Wenn er wüsste, was gerade geschehen ist, würde es Erinnerungen in ihm wachrufen. Dann würden sie beide in Schweigen verfallen, das immer tiefer und undurchdringlicher wird, bis sie sich schließlich streiten, um nicht mehr daran denken zu müssen. Wenn sie betrunken war, hat sie sich genommen, was sie zu wollen glaubte, nur um später festzustellen, dass sie es eigentlich gar nicht wirklich wollte, sondern eher Abscheu oder Gleichgültigkeit empfand. Vorausgesetzt, sie konnte sich überhaupt daran erinnern. Für einen Menschen, der den dreißigsten Geburtstag noch vor sich hat, hat Lucy eine Menge in ihrem Leben vergessen. Bei ihrem letzten Blackout ist sie auf einem Balkon, schätzungsweise im dreißigsten Stock, aufgewacht, nur mit einer Joggingshorts bekleidet und mitten in einer eiskalten New Yorker Nacht. Es war Januar. Vorangegangen war ein feuchtfröhlicher Tag in Greenwich Village – wo genau, weiß sie immer noch nicht und möchte es auch gar nicht herausfinden.

Sie hat auch weiterhin keine Ahnung, was sie da draußen auf dem Balkon wollte. Möglicherweise hat sie sich auf dem Weg zum Klo in der Richtung geirrt und die falsche Tür aufgemacht. Sie hätte genauso gut über die Brüstung klettern können, in der Annahme, dass es der Badewannenrand ist. Dann wäre sie dreißig Stockwerke tief in den Tod gestürzt. Ihre Tante hätte die Autopsieberichte erhalten und mit ihrem Berufskollegen übereingestimmt, dass Lucy in betrunkenem Zustand Selbstmord begangen hat. Keine Untersuchung der Welt hätte zu Tage fördern können, dass Lucy nur in einer fremden Wohnung aus dem Bett einer Fremden, die sie irgendwo in Greenwich Village kennen gelernt hat, getaumelt ist, um aufs Klo zu gehen. Doch das ist eine andere Geschichte, und zwar eine, über die sie nur ungern nachdenkt.

Es war die letzte dieser bitteren Episoden, denn Lucy hat den Alkohol zu ihrem Feind erklärt, um sich für all die Male zu rächen, die er sich gegen sie gewendet hat. Inzwischen trinkt sie nicht mehr. Allein das Aroma von Alkohol lässt sie an den säuerlichen Geruch von Menschen denken, die sie nicht geliebt hat und die sie im nüchternen Zustand nie angerührt hätte. Sie betrachtet das Haus ihrer Nachbarin, verlässt dann die Küche und geht hinauf in den ersten Stock. Wenigstens kann sie dankbar sein, dass bei der Entscheidung für Henri kein Alkohol im Spiel war.

In ihrem Büro macht Lucy Licht und öffnet einen schwarzen Aktenkoffer von durchschnittlicher Größe. Allerdings ist es eine stabile Hartschalenversion, in der sich ein Fernüberwachungssystem befindet, mit dem sie heimlich drahtlose Funkempfänger auf der ganzen Welt abhören kann. Sie vergewissert sich, dass der Akku aufgeladen ist und das Gerät funktioniert, dass die vier Verstärker laufen und das Doppel-Kassettendeck auch aufnimmt. Dann schließt sie das Schaltpult an eine Telefonleitung an, schaltet den Empfänger ein und setzt Kopfhörer auf, um festzustellen, ob Kate im Fitnessraum oder im Schlafzimmer mit jemandem telefoniert. Aber das tut sie nicht, und bis jetzt ist auch noch kein Gespräch aufgezeichnet worden. Lucy setzt sich an einen Tisch im Büro, betrachtet das Sonnenlicht, das sich im Wasser spiegelt, und die Palmen, die sich im Wind wiegen, und lauscht. Nachdem sie die Empfindlichkeit des Empfangs eingestellt hat, wartet sie ab.

Als weiterhin Schweigen herrscht, nimmt sie die Kopfhörer ab und legt sie auf den Tisch. Sie steht auf und stellt das Schaltpult auf den Tisch, wo sie den Krimesite-Imager aufgebaut hat. Die Lichtverhältnisse im Raum ändern sich, als Wolken über die Sonne wandern und dann weitertreiben, sodass es im Büro dunkler und dann wieder heller wird. Lucy streift weiße Baumwollhandschuhe über. Sie zieht die Zeichnung, die das Auge darstellt, aus dem Umschlag und legt sie auf einen großen sauberen Bogen schwarzes Papier. Dann nimmt sie wieder Platz, setzt die Kopfhörer auf und holt eine Sprühdose Ninhydrin aus ihrem Fingerabdruck-Set. Nachdem sie den Deckel entfernt hat, besprüht sie die Zeichnung, wobei sie darauf achtet, dass sie nicht zu feucht wird. Die Sprühlösung enthält zwar keine Fluorkohlenwasserstoffe und ist umweltfreundlich, könnte aber menschenfreundlicher sein. Der Sprühnebel sticht in Lucys Lungen und löst Hustenreiz aus.

Wieder nimmt sie die Kopfhörer ab, erhebt sich und geht mit dem nach Chemie riechenden feuchten Papier zu einer Arbeitsfläche, wo ein Dampfbügeleisen aufrecht auf einer hitzebeständigen Unterlage steht. Sie schaltet das Bügeleisen ein, und nachdem es aufgeheizt hat, betätigt sie den Dampfknopf, sodass zischend Dampf austritt. Sie breitet die Zeichnung von dem Auge auf der hitzebeständigen Unterlage aus, hält das Bügeleisen zwölf Zentimeter über das Papier und lässt Dampf ausströmen. Binnen Sekunden verfärben sich Teile des Papiers lila, und sie kann lilafarbene Fingerabdrücke sehen, die nicht von ihr stammen, da sie weiß, wo sie das Papier beim Abnehmen von der Tür angefasst hat. Außerdem hat sie es nicht mit der bloßen Hand berührt, was sicher auch für den Polizisten aus Broward gilt, weil Rudy das niemals zugelassen hätte. Sie achtet darauf, dass der Dampf nicht mit dem Stück Klebestreifen in Berührung kommt, da dieser undurchlässig ist und nicht auf Ninhydrin reagieren würde. Außerdem würde der Klebstoff in der Hitze schmelzen und damit möglicherweise vorhandene Abdrücke zerstören.

Wieder an ihrem Arbeitstisch, nimmt sie Platz, setzt die Kopfhörer und eine Brille auf und schiebt die lila gefleckte Zeichnung unter die Linse des Imagers. Sie schaltet das Gerät und anschließend auch die UV-Lampe ein und sieht durch das Okular eine hellgrüne Fläche. Der unangenehme Geruch nach erhitzten Chemikalien und Papier steigt ihr in die Nase. Die Bleistiftzeichnung des Auges ist als dünne weiße Linie zu erkennen, und sie bemerkt die blassen Wellen eines Fingerabdrucks neben der Iris. Sie stellt die Schärfe ein, um das Bild so gut wie möglich sichtbar zu machen, bis in den Wellen einige typische Eigenschaften hervortreten, die für IAFIS, das Integrierte Automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungssystem des FBI, genügen müssten. Bei der Überprüfung der latenten Abdrücke, die sie nach dem Mordversuch an Henri im Schlafzimmer sicherstellen konnte, ist lediglich herausgekommen, dass sich kein vollständiger Satz Abdrücke von allen zehn Fingern der Bestie in der Kartei befindet. Jetzt wird sie einen Vergleich latenter Fingerspuren anhand der mehr als zwei Millionen Abdrücke durchführen, die in der IAFIS-Datenbank gespeichert sind. Außerdem wird sie ihr Büro damit beauftragen, die latenten Spuren aus dem Schlafzimmer manuell mit denen von der Zeichnung zu vergleichen. Sie schließt eine Digitalkamera ans Okular des Imagers an und beginnt zu fotografieren.

Knapp fünf Minuten später – sie fotografiert gerade einen anderen Fingerabdruck, diesmal einen verwischten, an dem Teile von Wellendetails sichtbar sind – dringen die ersten menschlichen Stimmen leise durch die Kopfhörer. Sie erhöht die Lautstärke ein wenig, stellt die Empfindlichkeit ein und vergewissert sich, dass der Kassettenrecorder auch aufzeichnet, was sie zeitgleich mithört.

»Was machst du gerade?«, hallt Kates betrunkene Stimme laut und deutlich durch die Kopfhörer. »Ich kann heute nicht Tennis spielen«, lallt die Nachbarin. Ihr Gespräch wird gut verständlich von dem Sender übertragen, den Lucy in der Steckdose am Fenster angebracht hat.

Obwohl Kate sich im Fitnessraum befindet, sind keine Hintergrundgeräusche des Ellipsentrainers oder des Laufbands zu hören. Doch Lucy geht auch nicht davon aus, dass ihre Nachbarin im betrunkenen Zustand trainiert. Allerdings ist Kate wohl nicht zu betrunken, um zu spionieren. Wie vermutlich schon immer beobachtet sie Lucys Haus durch das Fenster, was an ihrer Stimme zu erkennen ist, weil sie offenbar nichts anderes zu tun hat, als ihren Mitmenschen nachzuschnüffeln und sich dabei zu betrinken.

»Nein, ich glaube, ich kriege eine Erkältung. Das hört man mir bestimmt an. Du hättest mich vorhin erleben sollen. Meine Nase ist total verstopft. Heute früh beim Aufstehen habe ich fürchterlich geklungen.«

Lucy starrt auf das rote Licht am Kassettenrecorder. Dann wandert ihr Blick zu dem Blatt Papier unter der Linse des Krimesite-Imagers. Die lilafarbenen Fingerspuren darauf sind groß genug für einen Mann, aber sie ist zu klug, um voreilige Schlüsse zu ziehen. Wichtig ist nur, dass überhaupt Abdrücke vorhanden sind, vorausgesetzt, sie stammen von der Bestie, die diese widerwärtige Zeichnung an die Tür geklebt hat, und angenommen, es handelt sich dabei wirklich um den Menschen, der versucht hat, Henri umzubringen. Lucy betrachtet seine lilafarbenen Hinterlassenschaften, seine Spuren, die Aminosäuren von seiner verschwitzten, fettigen Haut.

»Tja, ich habe jetzt einen Filmstar nebenan, was sagst da dazu?«, schrillt Kates Stimme in Lucys Ohren. »Ach, nein, Schätzchen, mich wundert das überhaupt nicht. Eigentlich habe ich mir das gleich gedacht. Das ständige Kommen und Gehen. Die schicken Autos und die schönen Menschen. Und dann das Haus, das ein Vermögen gekostet haben muss. Irgendwas zwischen acht und zehn Millionen bestimmt. Und dabei sieht es ziemlich gewöhnlich aus. Genau so, wie man es von Neureichen erwartet.«

Es ist der Bestie egal, ob sie Fingerabdrücke hinterlässt. Es kümmert sie einfach nicht. Lucy wird ganz flau zumute, weil es besser wäre, wenn er Interesse daran zeigen würde, denn das wäre ein Hinweis darauf, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach vorbestraft ist. Offenbar sind seine Fingerabdrücke weder bei IAFIS noch sonst irgendwo registriert, und deshalb braucht sich das Schwein auch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen. Er verlässt sich darauf, dass es nie zu einer Identifizierung kommen wird. Aber da hast du die Rechnung ohne mich gemacht, Freundchen, denkt Lucy. Und als sie die lilafarbenen Schmierer auf dem durch die Hitze gewellten Papier betrachtet, kann sie förmlich spüren, dass der widerwärtige Mensch ganz in der Nähe sein muss. Sie hat das Gefühl, dass er und Kate sie beide beobachten. Zorn kocht in Lucy hoch, irgendwo tief in ihr, wo er normalerweise schläft, bis etwas ihn aufweckt.

»Tina … Ist das zu fassen? Ihr Nachname ist einfach weg. Falls sie ihn mir überhaupt je verraten hat. Aber das hat sie bestimmt. Sie hat mir ja alles erzählt, über ihren Freund und über das Mädchen, das überfallen wurde und nach Hollywood zurückgekehrt ist …«

Lucy erhöht die Lautstärke. Die lilafarbenen Flecken auf dem Papier verschwimmen, als sie sie mit Blicken fixiert, während ihre Nachbarin über Henri spricht. Woher weiß sie, dass Henri überfallen wurde? Es kam nicht in den Nachrichten. Lucy hat Kate nur erzählt, dass sie von einem Mann verfolgt wird. Einen Überfall hat sie mit keiner Silbe erwähnt.

»Sie ist sehr hübsch, wirklich ganz reizend. Nettes Gesicht, gute Figur, sehr schlank. So sind sie ja alle in Hollywood. Aber seit in ihrem Haus eingebrochen wurde und die vielen Streifenwagen und der Krankenwagen aufgekreuzt sind, war sie kaum mehr hier.«

Der Krankenwagen, aber natürlich! Kate hat ihn gesehen und beobachtet, wie eine Trage aus dem Haus gebracht wurde. Daraus schließt sie selbstverständlich, dass Henri angegriffen wurde. Ich denke nicht mehr klar, sagt sich Lucy. Ich erkenne die Zusammenhänge nicht. Ihre Wut, Verbitterung und Panik wachsen. Was ist nur los mit mir?, fragt sie sich, während sie weiter lauscht und den Kassettenrecorder in dem Aktenkoffer betrachtet, der auf der Tischplatte neben dem Krimesite-Imager steht. Was zum Teufel stimmt nicht mit mir, schilt sie sich und erinnert sich an ihr leichtsinniges Verhalten, als der Latino ihren Ferrari verfolgt hat.

»Darüber habe ich mich auch gewundert. Kein Wort in den Nachrichten. Ich habe natürlich darauf geachtet, das kannst du mir glauben«, spricht Kate weiter. Ihre Artikulation klingt unsicher und verwaschen, weil sie inzwischen wieder ein paar Schlucke getrunken hat. »Ja, das möchte man meinen«, sagt sie mit Nachdruck, wodurch ihr Lallen noch mehr auffällt. »Es handelt sich um Filmstars, und nichts kommt in den Nachrichten! Aber genau darauf will ich ja hinaus: Sie sind heimlich hier, und deshalb wissen die Medien nichts davon. Tja, das klingt plausibel. Das muss die Erklärung sein, das sollte sogar dir einleuchten …«

»O mein Gott, sprich doch endlich über etwas Wichtiges«, stöhnt Lucy in den leeren Raum hinein.

Ich muss mich zusammenreißen, hält sie sich vor Augen. Lucy, reiß dich zusammen. Denk nach, denk nach, denk nach!

Sie nimmt die Kopfhörer ab und legt sie auf den Tisch. Dann blickt sie sich im Zimmer um, während der Kassettenrecorder weiterhin die Gesprächsbeiträge ihrer Nachbarin aufzeichnet. »Scheiße!«, ruft sie aus, als ihr klar wird, dass sie weder Kates Telefonnummer noch ihren Familiennamen kennt und weder Zeit noch Lust hat, beides herauszufinden. Wenn sie sie hätte, hieße das außerdem noch lange nicht, dass Kate auch ans Telefon gehen würde, wenn Lucy sie anriefe.

Sie setzt sich an einen anderen Schreibtisch vor einen Computer und entwirft zwei VIP-Karten für die Premiere ihres Films Sprung ins Dunkel am 6. Juni in Los Angeles. Anschließend findet eine Privatparty für das Ensemble und enge Freunde statt. Die Karten druckt sie auf glänzendem Fotopapier aus, schneidet sie zurecht und steckt sie in einen Umschlag, begleitet von einem Zettel, auf dem steht: »Liebe Kate, habe unser kleines Gespräch genossen! Es würde mich sehr freuen, wenn wir uns bei der Party in L.A. sehen könnten.« Dahinter notiert sie ihre Mobilfunknummer.

Lucy eilt nach draußen und hinüber zu Kates Haus, doch ihre Nachbarin geht weder an die Tür noch an die Gegensprechanlage. Vermutlich ist sie inzwischen voll bis oben hin und steht kurz vor der Bewusstlosigkeit. Lucy schiebt den Umschlag in Kates Briefkasten.

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