21

Inzwischen befindet sich Mrs. Paulsson im Badezimmer, das vom Flur abgeht, allerdings ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen ist.

Das Bad ist alt und seit den frühen fünfziger Jahren nicht mehr renoviert worden. Der Boden ist im Schachbrettmuster blauweiß gefliest, Waschbecken, Toilette und Wanne bestehen aus schlichtem weißem Porzellan, der Duschvorhang hat ein rosa- und lilafarbenes Blumenmuster. Gillys Zahnbürste steckt im Halter auf dem Waschbecken, die eingedrückte Tube Zahnpasta ist halb aufgebraucht.

Beim Anblick von Zahnbürste und Zahnpasta schluchzt Mrs. Paulsson noch heftiger. Auch das kalte Wasser, das sie sich ins Gesicht spritzt, nützt nichts. Es ist ihr unangenehm, dass sie es nicht schafft, sich zusammenzureißen, als sie das Bad wieder verlässt und in Gillys Zimmer zurückkehrt, wo Dr. Scarpetta aus Miami auf sie wartet. Marino war so nett, nicht weit vom Fußende des Bettes entfernt einen Stuhl für sie ins Zimmer zu stellen. Er schwitzt, obwohl es kühl im Raum ist. Sie bemerkt, dass das Fenster offen steht, aber sein Gesicht ist dennoch gerötet und mit Schweißperlen bedeckt.

»Nehmen Sie Platz«, sagt er zu ihr und lächelt. Dadurch wirkt er zwar nicht freundlicher, aber sie findet, dass er gut aussieht. Sie mag ihn. Warum, weiß sie nicht. Immer wenn sie ihn mustert oder in seine Nähe kommt, hat sie ein bestimmtes Gefühl. »Setzen Sie sich, Mrs. Paulsson, und versuchen Sie, sich zu entspannen.«

»Haben Sie das Fenster aufgemacht?«, fragt sie, nachdem sie Platz genommen und die Hände im Schoß verschränkt hat.

»Ich habe überlegt, ob es vielleicht offen war, als Sie vom Drugstore zurückkamen«, erwidert er. »War das Fenster offen oder zu, als Sie das Zimmer betraten?«

»Es wird häufig sehr warm hier. In diesem alten Haus ist es schwierig, die Temperatur zu regulieren.« Sie blickt Marino und Scarpetta an und kommt sich merkwürdig vor, wie sie so neben dem Bett sitzt und zu ihnen aufschaut. Es macht sie nervös und ängstlich, und sie fühlt sich unterlegen. »Gilly hat ständig das Fenster aufgerissen. Vielleicht war es offen, als ich nach Hause kam, ich versuche, mich zu erinnern.« Die Vorhänge bewegen sich. Die weißen Gazegardinen schweben geisterhaft in der beißend kalten Luft. »Ja«, meint sie schließlich. »Ich glaube, das Fenster könnte offen gewesen sein.«

»Wussten Sie, dass der Riegel kaputt ist?«, erkundigt sich Marino. Er steht völlig reglos da und betrachtet sie. Sie kann sich nicht an seinen Namen erinnern. Wie hieß er nochmal? Martini oder so?

»Nein«, antwortet sie, und eine eiskalte Hand legt sich um ihr Herz.

Scarpetta geht zum offenen Fenster und macht es mit ihrer weiß behandschuhten Hand zu. Dann schaut sie in den Garten hinaus.

»Um diese Jahreszeit ist er nicht sehr hübsch«, sagt Mrs. Paulsson mit klopfendem Herzen zu ihr. »Sie sollten ihn mal im Frühling sehen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwidert Scarpetta.

Sie hat etwas an sich, das Mrs. Paulsson faszinierend und gleichzeitig ein wenig beängstigend findet. Inzwischen macht ihr alles Angst. »Ich liebe Gartenarbeit. Und Sie?«

»Oh, ja.«

»Glauben Sie, dass jemand durch das Fenster eingestiegen ist?«, fragt Mrs. Paulsson und bemerkt plötzlich das schwarze Pulver auf dem Fensterbrett und am Rahmen. Auf der Innen- und Außenseite der Scheibe entdeckt sie noch mehr schwarzes Pulver und einige Spuren, die von Klebeband zu stammen scheinen.

»Ich habe einige Fingerabdrücke sichergestellt«, erklärt Marino. »Keine Ahnung, warum die Cops sich diese Mühe gespart haben, denn ich habe ein paar gefunden. Wir werden sehen, ob sie uns weiterbringen. Ich muss Ihnen die Fingerabdrücke abnehmen, um sie ausschließen zu können. Vermutlich hat die Polizei das noch nicht erledigt.«

Sie schüttelt verneinend den Kopf und starrt auf das Fenster und auf das schwarze Pulver, das überall verstreut ist.

»Wer wohnt denn hinter Ihrem Grundstück, Mrs. Paulsson?«, fragt Marino. »In dem alten Haus hinter dem Zaun?«

»Eine ältere Frau. Ich bin ihr schon seit einer Weile nicht mehr begegnet. Genau genommen seit einigen Jahren. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch dort lebt. Das letzte Mal habe ich vor etwa sechs Monaten jemanden im Haus gesehen. Ja, es muss vor sechs Monaten gewesen sein, weil ich gerade Tomaten gepflückt habe. Ich habe hinten am Zaun einen kleinen Gemüsegarten, und letzten Sommer gab es so viele Tomaten, dass ich gar nicht wusste, was ich damit anfangen soll. Jemand ist auf der anderen Seite des Zauns herumgelaufen. Was er dort gemacht hat, kann ich nicht sagen. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Mensch nicht sehr freundlich ist. Nein, ich glaube eigentlich nicht, dass dort noch dieselbe alte Frau wohnt wie vor neun oder zehn Jahren. Sie war sehr alt und ist mittlerweile sicher schon gestorben.«

»Wissen Sie, ob die Polizei mit ihr gesprochen hat, vorausgesetzt, dass sie noch lebt?«, erkundigt sich Marino.

»Ich dachte, Sie sind die Polizei.«

»Wir gehören zu einer anderen Abteilung als die, die bis jetzt bei Ihnen waren, Ma’am. Einer ganz anderen.«

»Ich verstehe«, entgegnet sie, obwohl das nicht stimmt. »Tja, ich glaube, der Detective … Detective Brown …«

»Browning«, korrigiert Marino, und sie bemerkt, dass er die Baseballkappe hinten in seinen Hosenbund geschoben hat. Sein Schädel ist rasiert, und sie stellt sich vor, wie es wäre, mit der Hand über seine glatte Kopfhaut zu streichen.

»Er hat mich nach den Nachbarn gefragt«, fährt sie fort. »Ich habe ihm erklärt, dass dort hinten eine alte Frau lebt oder gelebt hat und dass ich nicht sicher bin, ob das Haus noch bewohnt ist. Ja, ich glaube, so habe ich es ausgedrückt. Ich habe fast nie jemanden dort gehört, und durch die Ritzen im Zaun sieht man, dass der Rasen seit Ewigkeiten nicht mehr gemäht worden ist.«

»Sie kamen also vom Drugstore nach Hause«, kehrt Scarpetta zum ursprünglichen Thema zurück, um vielleicht doch noch ein bisher übersehenes, aber entscheidendes Detail ans Tageslicht zu befördern. »Und was geschah dann? Bitte versuchen Sie, es Schritt für Schritt zu erzählen, Mrs. Paulsson.«

»Ich habe meine Einkäufe in die Küche getragen und dann nach Gilly gesehen. Ich dachte, sie schläft.«

Nach einer Pause stellt Scarpetta eine andere Frage. Sie möchte wissen, woraus Mrs. Paulsson geschlossen habe, dass ihre Tochter schlief. In welcher Körperhaltung habe sie dagelegen? Die Fragen sind verwirrend, und jede schmerzt wie ein Krampf oder ein Zucken tief in Mrs. Paulssons Innerstem. Warum spielt das eine Rolle? Welcher Arzt stellt denn solche Fragen? Dr. Scarpetta ist eine attraktive Frau und strahlt Energie aus. Obwohl sie nicht massiv gebaut ist, macht sie in ihrem dunkelblauen Hosenanzug und der dunkelblauen Bluse, die ihr hübsches Gesicht schärfer wirken lässt und das kurze blonde Haar betont, einen Respekt einflößenden Eindruck. Ihre Hände sind kräftig, aber anmutig, und sie trägt keine Ringe an den Fingern. Mrs. Paulsson starrt auf Scarpettas Hände, stellt sich vor, wie sie sich an Gilly zu schaffen machen, und bricht wieder in Tränen aus.

»Ich habe sie umgedreht und versucht, sie zu wecken.« Sie hört sich unablässig dieselben Sätze wiederholen. Warum liegt dein Pyjama auf dem Boden, Gilly? Was ist passiert? O Gott!

»Beschreiben Sie, was Sie gesehen haben, als Sie den Raum betraten«, formuliert Scarpetta ihre Frage anders. »Ich weiß, dass das nicht leicht ist. Marino? Könntest du ihr bitte Papiertaschentücher und ein Glas Wasser holen?«

Wo ist Sweetie? O Gott, wo ist Sweetie? Doch nicht etwa wieder bei dir im Bett?

»Sie sah aus, als würde sie schlafen«, hört Mrs. Paulsson sich sagen.

»Auf dem Rücken? Oder auf dem Bauch? Wie lag sie im Bett? Bitte versuchen Sie sich zu erinnern. Ich weiß, dass es sehr, sehr schwer ist.«

»Sie schlief immer auf der Seite.«

»Lag sie auf der Seite, als Sie ins Zimmer kamen?«, hakt Scarpetta nach.

Ach herrje, Sweetie hat ins Bett gemacht. Sweetie? Wo bist du? Versteckst du dich unter dem Bett? Sweetie? Du warst schon wieder im Bett, stimmt’s? Das darfst du doch nicht! Irgendwann gebe ich dich noch mal ins Tierheim. Vor mir kannst du nichts verstecken!

»Nein«, schluchzt Mrs. Paulsson.

Gilly, bitte wach auf, bitte wach auf. Das kann nicht sein! Das kann nicht sein!

Scarpetta hockt neben ihrem Stuhl, blickt ihr in die Augen, hält ihre Hand und sagt etwas.

»Nein!« Mrs. Paulsson wird von Schluchzern geschüttelt. »Sie hatte nichts an. O mein Gott! Gilly hätte doch nie nackt dagelegen. Sie hat ja sogar zum Umziehen ihre Tür zugemacht.«

»Ist ja gut«, tröstet Scarpetta sie. Ihr Blick und ihre Berührung sind sanft. Keine Spur von Furcht ist in ihren Augen. »Holen Sie tief Luft. Versuchen Sie es. Tief einatmen. Ja. Sehr gut. Langsam und tief Luft holen.«

»O Gott, ist das ein Herzinfarkt?«, stößt Mrs. Paulsson in heller Angst hervor. »Sie haben mir mein kleines Mädchen weggenommen. Mein kleines Mädchen ist fort. Oh, wo ist mein kleines Mädchen?«

Marino erscheint mit einer Hand voll Papiertaschentüchern und einem Glas Wasser in der Tür. »Wer sind ›sie‹?«, fragt er.

»O nein, sie ist nicht an der Grippe gestorben, stimmt’s? O nein. O nein. Mein kleines Mädchen ist nicht an der Grippe gestorben. Sie haben sie mir weggenommen.«

»Wer sind ›sie‹?«, wiederholt er. »Glauben Sie, dass mehr als eine Person daran beteiligt war?« Er kommt ins Zimmer, und Scarpetta nimmt ihm das Glas ab.

Sie hilft Mrs. Paulsson, das Wasser in kleinen Schlucken zu trinken. »Sehr gut. Trinken Sie langsam. Tief durchatmen. Beruhigen Sie sich. Haben Sie jemand, der vorübergehend bei Ihnen wohnen kann? Ich möchte nicht, dass Sie zurzeit allein sind.«

»Wer ›sie‹ sind?« Mrs. Paulssons Stimme wird lauter, als sie Marinos Frage wiederholt. »Wer sie sind?« Als sie vom Stuhl aufstehen will, gehorchen ihr die Beine nicht; sie scheinen nicht mehr zu ihr zu gehören. »Ich will Ihnen sagen, wer sie sind.« Ihre Trauer verwandelt sich in eine Wut, die so übermächtig ist, dass sie ihr selbst Angst macht. »Die Leute, die er hierher eingeladen hat. Die meine ich. Fragen Sie doch Frank, wer sie sind. Er weiß es.«

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