Das James Center gehört nicht zu den Orten, die Marino während seiner Zeit als Polizist in Richmond besucht hat. Seine Marlboros hat er nicht in schicken Tabakläden gekauft, und Zigarren hat er sich nie geleistet, weil selbst eine billige Zigarre ziemlich teuer für ein einziges Raucherlebnis ist. Außerdem hätte er sie ohnehin nicht gepafft, sondern inhaliert. Da er inzwischen fast gar nicht mehr raucht, kann er es zugeben: Er hätte Zigarrenrauch inhaliert.
Das Atrium wird von Glas, Lichtern und Pflanzen dominiert, und das Plätschern von Brunnen und Wasserfällen folgt Marino, als er zu dem Laden eilt, wo Edgar Allan Pogue knapp drei Monate vor dem Mord an der kleinen Gilly Zigarren gekauft hat.
Es ist noch vor zwölf Uhr mittags, und in den Läden ist nicht viel los. Einige Leute in schicken Anzügen trinken Kaffee oder hasten umher, als würden sie irgendwo dringend erwartet und wären mit wichtigen Dingen beschäftigt. Marino kann Leute wie die im James Center nicht ausstehen. Er kennt ihresgleichen. Und zwar schon seit seiner Kindheit, auch wenn er keine persönlichen Erfahrungen mit ihnen gemacht hat. Aber er hat schon viel von ihnen gehört. Sie gehören zu der Sorte von Menschen, die sich nie die Mühe gemacht haben, sich mit Marinos Kreisen auseinander zu setzen. Er geht schnell und ärgert sich. Als ein Mann in einem eleganten Nadelstreifenanzug an ihm vorbeirauscht, ohne ihn wahrzunehmen, denkt er: Du hast ja keine Ahnung. Leute wie du verstehen einen Scheißdreck vom Leben.
Im Tabakladen ist die Luft mit einer süßlichen Symphonie von Tabakdüften geschwängert, die Sehnsucht in Marino weckt. Da er nicht weiß, was das bedeutet, schiebt er es sofort aufs Rauchen, das er schrecklich vermisst. Er ist traurig und aufgebracht, weil ihm die Zigaretten fehlen. Das Herz tut ihm weh, und er fühlt sich tief in seinem Innersten erschüttert, weil er weiß, dass er nie mehr wieder so rauchen können wird wie früher. Es ist unmöglich. Er hat sich etwas vorgemacht, als er glaubte, er könnte sich hin und wieder eine Zigarette gönnen, doch diese Hoffnung war eine Illusion. Seine unstillbare Gier nach Tabak und seine verzweifelte Liebe zu ihm ist Wahnwitz und ohne Zukunft. Marino wird schlagartig von Trauer ergriffen, weil er nie wieder eine Zigarette anzünden, tief inhalieren und den Rausch empfinden wird, diese Glückseligkeit, die seinen ständigen Begleiter, den Schmerz, lindert. Es schmerzt, wenn er aufwacht, es schmerzt, wenn er sich schlafen legt, es schmerzt in seinen Träumen, und es schmerzt, wenn er hellwach ist. Er blickt auf die Uhr, denkt an Scarpetta und fragt sich, ob ihr Flug wohl Verspätung hatte. Heutzutage haben ja die meisten Flüge Verspätung.
Marinos Arzt hat ihn gewarnt, dass er mit sechzig einen Sauerstofftank auf dem Rücken tragen würde wie ein Indianerbaby, wenn er so weiterrauchte. Irgendwann wird er dann nach Luft schnappend sterben wie die arme Gilly, die nach Atem rang, als dieser Verrückte auf ihr saß und ihr die Hände festhielt. Voller Panik lag sie unter ihm, während jede Zelle in ihrer Lunge nach Luft schrie und ihr Mund versuchte, nach Mama und Papa zu rufen. Aber Gilly konnte keinen Mucks von sich geben. Und was hat sie getan, um einen solchen Tod zu verdienen? Nichts, denkt Marino, während er die Zigarrenkisten in den dunklen Regalen dieses kühlen und duftenden Tabakladens für Reiche betrachtet. Wahrscheinlich steigt Scarpetta gerade ins Flugzeug, sagt er sich und entdeckt die Kistchen mit Romeo-y-Julieta-Zigarren. Wenn der Flug keine Verspätung hat, sitzt sie vermutlich schon in der Maschine, die nach Westen, nach Denver, fliegt. Nach Scarpettas Entdeckung in ihrem alten Gebäude haben sie verabredet, dass Marino noch diesen einen Auftrag in Richmond erledigt, während sie schon mal vorfliegt.
»Sagen Sie Bescheid, wenn ich Ihnen helfen kann«, sagt ein Mann in grauem V-Ausschnitt-Pullover und brauner Cordhose hinter der Theke. Die Farbe seiner Kleidung und sein graues Haar erinnern Marino an Rauch. Der Mann arbeitet in einem Tabakladen voller Rauchwaren und hat die Farbe von Rauch angenommen. Wahrscheinlich geht er am Ende des Arbeitstags nach Hause und qualmt nach Herzenslust, während Marino allein in ein Hotelzimmer zurückkehrt und sich nicht einmal eine anzünden, geschweige denn Rauch inhalieren darf. Inzwischen kennt er die Wahrheit. Er weiß es. Er muss verzichten. Er hat sich etwas vorgemacht und sich eingeredet, dass es doch einen Ausweg gibt, und er wird von Trauer und Scham ergriffen.
Marino holt die Quittung aus der Jackentasche, die Scarpetta auf dem mit Knochenstaub bedeckten Boden in der Anatomieabteilung ihres alten Gebäudes gefunden hat. Das Stück Papier steckt in einem durchsichtigen Plastikbeutel. Er legt es auf die Theke.
»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, fragt Marino den Mann hinter der Theke.
»Bald zwölf Jahre«, erwidert er lächelnd. Doch in seinen rauchgrauen Augen steht ein gewisser Blick. Marino erkennt Angst und tut nichts, um sie zu zerstreuen.
»Dann kennen Sie sicher Edgar Allan Pogue. Er war am 14. September dieses Jahres hier und hat diese Zigarren gekauft.«
Stirnrunzelnd beugt der Mann sich vor und mustert das Stück Papier in der Tüte. »Die Quittung ist von uns«, stellt er fest.
»Gratuliere, Sherlock. Ein kleiner, rundlicher Typ mit rotem Haar«, fährt Marino fort und macht auch weiterhin nicht die geringsten Anstalten, den Mann zu beruhigen. »Mitte dreißig. Hat früher drüben in der Gerichtsmedizin gearbeitet.« Er weist auf die Fourteenth Street. »Wahrscheinlich hat er sich komisch benommen, als er hier war.«
Der Mann wirft einen Blick auf Marinos LAPD-Baseballkappe. Er ist bleich und nervös. »Wir verkaufen keine kubanischen Zigarren.«
»Was?« Marino verzieht finster das Gesicht.
»Falls das Ihre Frage ist. Er könnte welche verlangt haben, aber so etwas führen wir nicht.«
»Er kam rein und hat kubanische Zigarren verlangt?«
»Er war sehr beharrlich, vor allem bei seinem letzten Besuch«, antwortet der Mann stockend. »Aber wir führen keine kubanischen Zigarren und auch sonst nichts Illegales.«
»Das habe ich auch gar nicht behauptet, und außerdem bin ich weder von der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen noch von der Lebens- und Arzneimittelaufsicht, vom Gesundheitsamt oder vom Büro des gottverdammten Osterhasen«, entgegnet Marino. »Es ist mir scheißegal, ob Sie unter der Ladentheke mit kubanischen Zigarren handeln.«
»Ich schwöre Ihnen, dass es nicht so ist.«
»Ich interessiere mich nur für Pogue. Erzählen Sie mir von ihm.«
»Ich erinnere mich an ihn«, antwortet der Mann, dessen Gesicht inzwischen auch die Farbe von Rauch hat. »Ja, er wollte kubanische Zigarren. Cohibas, nicht die dominikanischen, die wir im Sortiment haben. Ich habe ihm erklärt, dass wir keine kubanischen Zigarren führen. Das ist nämlich verboten … Sie sind nicht von hier, richtig? Sie klingen nämlich, als wären Sie von auswärts.«
»Von hier bin ich ganz sicher nicht«, gibt Marino zurück. »Was hat Pogue sonst noch gesagt? Und wann war das? Wann war er zum letzten Mal hier?«
Der Mann betrachtet die Quittung auf der Theke. »Vermutlich danach noch einmal. Ich glaube, es muss im Oktober gewesen sein. Er kam etwa einmal im Monat. Ein wirklich sehr merkwürdiger Mensch.«
»Im Oktober? Gut. Was wollte er sonst noch?«
»Er hat kubanische Zigarren verlangt und gemeint, er würde jeden Preis dafür bezahlen. Ich habe beteuert, dass wir keine haben. Er wusste das, weil er schon öfter danach gefragt hatte. Aber so beharrlich wie beim letzten Mal war er noch nie gewesen. Ein komischer Mann. Immer wieder hat er dieselbe Frage gestellt und ließ sich einfach nicht abweisen. Er behauptete, kubanischer Tabak sei besser für die Lungen, oder einen ähnlichen Blödsinn. Man könne so viele kubanische Zigarren rauchen, wie man wolle, ohne sich zu schaden. Sie seien sogar gesund und rein und hätten eine heilsame Wirkung. Alberner Kram eben.«
»Was haben Sie ihm geantwortet? Lügen Sie mich bloß nicht an. Es ist mir scheißegal, ob Sie ihm kubanische Zigarren verkauft haben. Ich muss diesen Mann finden. Falls er überzeugt davon ist, dass das Zeug gut für seine kaputte Lunge ist, wird er versuchen, es sich anderweitig zu besorgen. Und wenn er so darauf fixiert ist, kriegt er es auch irgendwo.«
»Er ist wirklich darauf fixiert. Bei seinem letzten Besuch war es unmöglich, ihn davon abzubringen. Fragen Sie mich nicht, warum«, erwidert der Mann und starrt auf die Quittung. »Es gibt doch auch andere gute Zigarren in rauen Mengen. Warum müssen es denn unbedingt kubanische sein? Ich verstand zwar den Grund nicht, aber er wollte sie unbedingt haben. Ich musste an manche Kranken denken, die sich auf irgendein Zauberkraut oder Marihuana versteifen, oder an Leute, die an Arthritis leiden und sich Gold spritzen lassen. Sehr seltsam. Ich habe ihn zu einem anderen Laden geschickt und ihn gebeten, mich nicht mehr nach kubanischen Zigarren zu fragen.«
»Zu welchem Laden?«
»Tja, eigentlich ist es ein Restaurant, wo, wie ich gehört habe, so manches verkauft wird oder man zumindest weiß, wie es zu beschaffen ist. An der Bar. Alles, was Sie wollen. So habe ich es wenigstens aufgeschnappt. Ich verkehre selbst nicht dort und habe nichts damit zu tun.«
»Wo?«
»Unten im Slip«, antwortet er. »Nur ein paar Straßen von hier.«
»Kennen Sie Läden in Südflorida, die kubanische Zigarren führen? Haben Sie ihm vielleicht einen Laden in Florida empfohlen?«
»Nein«, entgegnet der Mann und schüttelt den grauen Kopf. »Davon weiß ich nichts. Fragen Sie im Slip nach. Da kann man Ihnen bestimmt weiterhelfen.«
»Gut. Und jetzt kommt die Eine-Million-Dollar-Frage.« Marino steckt den Plastikbeutel wieder ein. »Sie haben Pogue also von dem Lokal im Slip erzählt, wo er möglicherweise kubanische Zigarren bekommen kann?«
»Ich habe ihm erklärt, dass einige Leute in der Bar dort Zigarren kaufen«, sagt der Mann.
»Und wie heißt das Lokal?«
»Stripes. Die Bar heißt Stripes und ist in der Cary Street. Ich wollte ihn abwimmeln, weil er so seltsam war. Ich fand ihn schon immer komisch. Seit Jahren kam er alle paar Monate her und redete eigentlich nicht viel«, erzählt der Mann. »Aber beim letzten Mal, im Oktober, war er noch merkwürdiger als sonst. Er hatte einen Baseballschläger bei sich. Ich fragte ihn nach dem Grund dafür, aber er hat mir nicht geantwortet. Außerdem war er früher nicht so beharrlich, was die kubanischen Zigarren anging. Doch an diesem Tag ist er beinahe durchgedreht. Cohibas, wiederholte er nur, und dass er welche haben wolle.«
»War der Baseballschläger rot, weiß und blau?«, erkundigt sich Marino. Er denkt an Scarpetta, Mühlen, Knochenstaub und alles, was sie ihm berichtet hat, als sie Dr. Philpotts Praxis verließ.
»Kann sein«, erwidert der Mann mit einem argwöhnischen Blick. »Worum, zum Teufel, geht es hier eigentlich?«