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Lucy mustert die teuren Geräte und die Fenster in diesem Fitnessraum im zweiten Stock. Ihre Nachbarin Kate hat alles, was sie braucht, um in Form zu bleiben, und genießt dabei eine wunderbare Aussicht auf den Intracoastal Waterway, den Stützpunkt der Küstenwache, den Leuchtturm, den Ozean dahinter und auf einen Großteil von Lucys Grundstück.

Das Südfenster des Fitnessraums zeigt auf die Rückseite von Lucys Haus, und sie ist ein wenig erschrocken, als ihr klar wird, dass Kate mehr oder weniger alles beobachten kann, was sich in Küche, Ess- und Wohnzimmer sowie auf der Terrasse, im Pool und am Wellenbrecher tut. Lucy betrachtet den schmalen Weg, der entlang der niedrigen Mauer zwischen den beiden Häusern verläuft, und sie vermutet, dass er – die Bestie – diesen mit Rindenmulch bestreuten Weg entlanggehuscht und durch die Tür zum Pool eingedrungen ist. Die Tür, die Henri nicht abgeschlossen hat. Die einzige Alternative wäre, dass er ein Boot besitzt. Lucy glaubt das zwar nicht, kann diese Möglichkeit jedoch nicht ausschließen. Die Leiter am Wellenbrecher ist hochgeklappt und abgeschlossen, doch das ist für jemanden, der fest dazu entschlossen ist, dort anzulegen und in ihr Haus einzudringen, gewiss kein Hindernis. Eine abgeschlossene Leiter mag den Durchschnittsbürger abschrecken, aber nicht Leute, die ihre Mitmenschen verfolgen, berauben, vergewaltigen oder töten wollen.

Auf dem Tisch neben dem Ellipsentrainer steht ein schnurloses Telefon in seiner Basisstation, deren Anschlusskabel in einer Buchse in der Wand steckt. Neben dieser Buchse befindet sich eine normale Steckdose. Lucy öffnet ihre Gürteltasche und nimmt einen als Adapter getarnten Sender heraus, den sie in die Steckdose einstöpselt. Das kleine, unschuldig wirkende Spionagegerät ist genauso unauffällig eierschalfarben wie die Steckdose selbst. Kate wird es vermutlich gar nicht bemerken, denn selbst wenn sie die Steckdose benutzen sollte, funktioniert diese genauso wie bisher. Lucy bleibt kurz stehen und schleicht dann wieder aus dem Fitnessraum, um zu lauschen. Kate ist offenbar immer noch in der Küche oder sonst irgendwo im Erdgeschoss.

Im Südflügel befindet sich das Schlafzimmer, ein gewaltiger Raum mit einem riesigen Himmelbett und einem großen Plasmafernseher an der gegenüberliegenden Wand. Die Wände, die zum Wasser zeigen, sind aus Glas. Von diesem Aussichtspunkt aus hat Kate Lucys Haus ausgezeichnet im Blick und kann auch in die Fenster des oberen Stockwerks hineinspähen. Das ist gar nicht gut, denkt Lucy, als sie sich umschaut und eine leere Champagnerflasche auf dem Boden neben dem Nachtkästchen entdeckt. Auf dem Nachtkästchen selbst sieht sie eine benutzte Champagnerflöte, ein Telefon und einen Liebesroman. Ihre reiche, neugierige Nachbarin bekommt viel zu viel von den Vorgängen in Lucys Haus mit, vorausgesetzt die Jalousien sind geöffnet, was sie normalerweise nicht sind. Zum Glück nicht.

Sie denkt über den Vormittag nach, an dem Henri fast ermordet worden wäre, und versucht sich zu erinnern, ob die Jalousien offen oder geschlossen waren. Als sie eine weitere Telefonbuchse unter dem Nachtschränkchen entdeckt, überlegt sie, ob die Zeit reicht, um die Abdeckung abzuschrauben und danach wieder zu befestigen. Sie lauscht, ob sich der Aufzug oder Schritte auf’ der Treppe nähern, hört aber nichts. Also kniet sie sich auf den Boden und zieht einen kleinen Schraubendreher aus dem Gürteltäschchen. Die Schrauben an der Abdeckung sind nicht fest angezogen, und da es nur zwei sind, ist es eine Frage von Sekunden, sie zu entfernen, während sie weiter nach Kate horcht. Sie ersetzt die handelsübliche beige Abdeckung durch eine, die genauso aussieht, aber in Wirklichkeit ein winziger Sender ist, der es ihr gestatten wird, sämtliche auf dieser Leitung geführten Telefonate abzuhören. Ein paar Sekunden später ist das Telefon wieder eingestöpselt. Lucy steht auf und verlässt das Schlafzimmer, genau in dem Moment, als sich die Aufzugstür öffnet und Kate mit zwei Champagnerflöten erscheint, die fast bis zum Rand mit einer hell orangefarbenen Flüssigkeit gefüllt sind.

»Ein tolles Haus«, sagt Lucy.

»Ihres ist bestimmt auch nicht ohne«, erwidert Kate und reicht ihr ein Glas.

Das müsstest du doch am besten wissen, denkt Lucy. Schließlich glotzt du ständig rüber.

»Sie müssen es mir einmal zeigen«, meint Kate.

»Jederzeit. Allerdings bin ich viel unterwegs.« Der durchdringende Geruch von Champagner steigt Lucy unangenehm in die Nase. Sie hat das Trinken aufgegeben. Sie hat es damals auf die harte Tour lernen müssen, und heute rührt sie keinen Alkohol mehr an.

Kates Augen funkeln heller, und sie ist gelöster als noch vor einer knappen halben Stunde. Offensichtlich ist sie inzwischen etwas angeheitert, da sie sich unten bereits einige Gläser genehmigt hat. Lucy vermutet, dass nur in ihrem Glas Champagner ist, während das von Kate wahrscheinlich Wodka enthält. Die Mischung im Glas ihrer Nachbarin wirkt wässriger, und Kate selbst ist ziemlich locker und redselig.

»Ich habe aus den Fenstern Ihres Fitnessraums geschaut«, sagt Lucy. Sie hält ihre Champagnerflöte in der Hand, ohne daraus zu trinken; Kate nimmt einen Schluck aus ihrer. »Sie hätten den Typen, der sich auf meinem Grundstück herumgetrieben hat, gut sehen können.«

»Wobei ›hätte‹ das Schlüsselwort ist, Honey. Das Schlüsselwort.« Sie dehnt die Silben, wie Menschen, die beschwipst sind, es häufig tun. »Ich bin nämlich nicht neugierig. Dafür habe ich viel zu viel zu tun. Ich bekomme mein eigenes Leben ja kaum auf die Reihe.«

»Was dagegen, wenn ich die Toilette benutze?«, fragt Lucy.

»Tun Sie sich keinen Zwang an. Dort entlang.« Sie zeigt auf den Nordflügel und schwankt dabei ein wenig auf ihren weit auseinander stehenden Füßen.

Lucy betritt ein Badezimmer, das über eine Dampfdusche, eine riesige Badewanne, eine Toilette, ein Pissoir, ein Bidet und eine wundervolle Aussicht verfügt. Sie kippt die Hälfte ihres Drinks in die Toilette, zieht ab, wartet ein wenig und kehrt dann zurück zum Treppenabsatz, wo Kate gerade leicht schwankend einen Schluck trinkt.

»Was ist denn Ihr Lieblingschampagner?«, erkundigt sich Lucy und denkt dabei an die leere Flasche neben dem Bett.

»Gibt es denn mehr als eine Sorte, Honey?« Sie lacht.

»Ja, eigentlich schon. Hängt davon ab, wie viel man ausgeben will.«

»Das können Sie laut sagen. Habe ich Ihnen schon erzählt, wie Jeff und ich im Ritz in Paris so richtig einen draufgemacht haben? Nein, natürlich nicht. Schließlich kenne ich Sie ja kaum, richtig? Aber ich habe das Gefühl, dass wir bald gute Freundinnen sein werden.« Speichel sprüht, als sie sich zu Lucy hinüberbeugt, ihren Arm umklammert und weiterspricht. »Wir waren … Nein, Moment mal.« Sie nimmt noch einen Schluck, ohne Lucys Arm loszulassen. »Es war natürlich im Hôtel de Paris in Monte Carlo. Waren Sie schon mal dort?«

»Ich bin mit meinem Enzo hingefahren«, schwindelt Lucy.

»Welcher ist das denn? Der blaue oder der schwarze?«

»Der Enzo ist rot. Ich habe ihn zurzeit nicht hier.« Das ist beinahe die Wahrheit. Der Enzo ist nicht hier, weil sie keinen besitzt.

»Dann waren Sie auch schon in Monte Carlo, im Hôtel de Paris«, sagt Kate und reibt Lucys Arm. »Tja, Jeff und ich waren im Casino.«

Lucy nickt und hebt ihre Champagnerflöte zum Mund, als wolle sie trinken, tut es aber nicht.

»Ich habe mich mit den Zwei-Euro-Spielautomaten amüsiert und Glück gehabt. Mensch, hab ich ein Glück gehabt.« Sie leert ihr Glas und reibt weiter Lucys Arm. »Sie sind aber ganz schön kräftig. Liebling, hab ich zu Jeff gesagt, das müssen wir feiern. Das war damals, als ich ihn noch Liebling genannt habe und nicht Arschloch.« Sie lacht auf und betrachtet ihr leeres Kristallglas. »Also sind wir zurück in unsere Suite, die Winston-Churchill-Suite, das weiß ich noch genau. Und raten Sie mal, was wir bestellt haben?«

Lucy überlegt, ob Sie sich jetzt verdrücken oder lieber abwarten soll, bis Kate sich noch schlimmer aufführt. Die kühlen, knochigen Finger ihrer Nachbarin bohren sich in Lucys Arm, und sie zieht sie immer dichter an ihren mageren, künstlich auf jung getrimmten Körper. »Dom?«, fragt Lucy.

»Oh, Honey, doch kein Dom Perignon. Mais non. Das ist doch Limonade. Limonade für Reiche. Das heißt nicht, dass ich ihn nicht mögen würde. Aber wir wollten mal so richtig unvernünftig sein und haben uns einen Cristal Rose für fünfhundertsechzignochwas Euro kommen lassen. Das waren natürlich Hôtel-de-Paris-Preise. Haben Sie den schon mal probiert?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Ach, Honey, daran würden Sie sich erinnern, glauben Sie mir. Wenn Sie einmal den Rose versucht haben, trinken Sie nichts anderes mehr. Und als ob das nicht schon verschwenderisch genug gewesen wäre, haben wir uns anschließend noch einen absolut göttlichen Rouge du Château Margaux gegönnt«, fährt sie fort. Für jemanden, der so angeheitert ist wie sie, ist die französische Aussprache beachtlich.

»Hätten Sie gern den Rest von meinem?« Lucy streckt die Champagnerflöte aus, während Kate weiter an ihrem Arm reibt und zerrt. »Hier, ich tausche.« Sie tauscht ihr halb volles Glas gegen Kates leeres.

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