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Lucy ist schlecht im Delegieren. Sosehr sie sich auch auf Rudy verlässt, vertraut sie ihm in letzter Zeit nur noch ungern ihre Arbeit an, und zwar wegen Henri und seiner Abneigung gegen sie. Deshalb sieht sie das ausgedruckte Ergebnis ihrer IAFIS-Recherche selbst durch, während sie in ihrem Büro sitzt und, die Kopfhörer auf dem Kopf, die Mitschnitte der banalen Telefonate ihrer Nachbarin Kate abhört. Es ist früh am Donnerstagmorgen.

Gestern am späten Abend hat Kate sie zurückgerufen und eine Nachricht auf dem Mobiltelefon hinterlassen. »Umarmung und Küsschen wegen der Karten«, und: »Wer ist die Poolpflegerin? Jemand Berühmtes?« Lucy hat eine Poolpflegerin, die nicht berühmt, sondern eine Brünette über Fünfzig ist, die viel zu zierlich wirkt, um einen Kescher zu schwingen; Lucys Pechsträhne reißt auch bei ihrer IAFIS-Recherche nicht ab, denn diese hat keinen plausiblen Kandidaten zutage gefördert, was heißt, dass die automatische Suche vergeblich war. Latente Fingerabdrücke mit latenten Fingerabdrücken zu vergleichen, ist ein Glücksspiel, insbesondere dann, wenn einige davon nur teilweise vorhanden sind.

Jeder der zehn Fingerabdrücke eines Menschen ist unverwechselbar. So stimmt zum Beispiel der Abdruck vom linken Daumen einer Person nicht mit dem ihres rechten überein. Deshalb kann IAFIS bei einer unbekannten latenten Spur nur einen Treffer landen, wenn der Täter einen Abdruck seines rechten Daumens an dem einen Tatort und eine Spur desselben Fingers an einem anderen hinterlassen hat und beide Abdrücke in die Datenbank eingegeben wurden. Hinzu kommt, dass die beiden Abdrücke entweder vollständig sein oder denselben Wellenausschnitt zeigen müssen.

Bei einem manuellen oder visuellen Vergleich hingegen sieht die Sache schon ganz anders aus, und Lucy beginnt wieder Hoffnung zu schöpfen. Manche der latenten Teilabdrücke, die sie von der Zeichnung abgenommen hat, stimmen mit einigen Spuren überein, die sie nach dem Überfall auf Henri im Schlafzimmer sicherstellen konnte. Das erstaunt Lucy zwar nicht weiter, aber sie freut sich dennoch, dass sie nun die Bestätigung hat. Dieselbe Person ist in ihr Haus eingedrungen, hat die Zeichnung von dem Auge hinterlassen und den schwarzen Ferrari zerkratzt, obwohl am Auto keine Fingerabdrücke gefunden wurden. Doch wie viele Mistkerle gibt es schon, die herumlaufen und Augen zeichnen? Also muss er es gewesen sein, obwohl die Übereinstimmungen Lucy nichts über seine Identität verraten. Sie weiß nur, dass ein und derselbe Mensch ihr all diese Schwierigkeiten bereitet und dass seine Fingerabdrücke weder bei IAFIS noch offenbar sonst irgendwo gespeichert sind. Anscheinend verfolgt er Henri immer noch und ahnt nicht, dass sie inzwischen weit weg ist. Oder er nimmt an, dass sie zurückkommt oder zumindest von seiner letzten Aktion erfährt.

Die Bestie glaubt sicher, dass Henri zumindest von der an die Tür gehefteten Zeichnung gehört hat. Wenn Henri sich deshalb wieder aufregt und es mit der Angst zu tun kriegt, kehrt sie vielleicht gar nicht mehr zurück. Für die Bestie ist es nur wichtig, Macht über sie auszuüben. Darauf kommt es Leuten, die andere Menschen verfolgen, nämlich an. Sie wollen ihre Opfer kontrollieren und nehmen sie gewissermaßen in Geiselhaft, ohne dass sie sie dazu auch nur anzurühren brauchten. Manchmal müssen sie ihnen sogar nicht einmal begegnen. Soweit Lucy weiß, kennt die Bestie Henri nicht persönlich. Doch was weiß sie schon?

Sie blättert den Ausdruck einer anderen Computerrecherche durch, die sie letzte Nacht durchgeführt hat, und überlegt, ob sie ihre Tante anrufen soll. Lucy hat schon eine Weile nicht mehr mit Scarpetta telefoniert, und inzwischen fällt ihr keine glaubhafte Ausrede mehr dafür ein. Sie und ihre Tante verbringen die meiste Zeit in Südflorida und wohnen nicht einmal eine Autostunde voneinander entfernt. Im letzten Sommer ist Scarpetta von Del Ray nach Las Olas gezogen, doch Lucy hat sie nur einmal in ihrem neuen Zuhause besucht, und zwar vor einigen Monaten. Je mehr Zeit vergeht, desto schwerer fällt ihr der Anruf. Unausgesprochene Fragen werden zwischen ihnen in der Luft hängen, und sicher wird es verkrampft werden. Doch Lucy kommt zu dem Schluss, dass es nicht richtig wäre, ihre Tante unter den gegebenen Umständen nicht anzurufen. Also greift sie zum Telefon.

»Sie wollten geweckt werden«, sagt sie, als ihre Tante abhebt.

»Wenn du nicht mehr zu bieten hast … So nimmt dir das niemand ab«, erwidert Scarpetta.

»Was meinst du damit?«

»Du klingst nicht wie die Empfangsdame, und außerdem habe ich keinen Weckruf bestellt. Wie geht es dir? Und wo bist du?«

»Immer noch in Florida«, antwortet Lucy.

»Immer noch? Heißt das, du willst wieder weg?«

»Ich weiß nicht. Kann sein.«

»Wohin?«

»Ich bin nicht sicher«, entgegnet Lucy.

»Gut. Woran arbeitest du?«

»Ein Mann, der Frauen verfolgt.«

»Solche Fälle sind immer schwierig.«

»Das kannst du laut sagen. Und diesmal ist es anders als sonst. Aber ich darf nicht darüber reden.«

»Das darfst du nie.«

»Du redest doch auch nicht über deine Fälle«, sagt Lucy.

»Normalerweise nicht.«

»Und was gibt es sonst Neues?«

»Nichts. Wann treffen wir uns mal wieder? Ich habe dich seit September nicht gesehen.«

»Ich weiß … Was machst du eigentlich in der großen, bösen Stadt Richmond?«, fragt Lucy. »Worüber wird zurzeit dort gestritten? Irgendwelche neuen Denkmäler? Oder vielleicht die jüngste Deichverschönerung?«

»Ich versuche die Hintergründe des Todes eines Mädchens aufzudecken. Gestern hätte ich eigentlich mit Dr. Fielding essen gehen sollen. Erinnerst du dich an ihn?«

»Na klar. Wie geht es ihm? Ich wusste gar nicht, dass er noch dort ist.«

»Nicht sehr gut«, antwortet Scarpetta.

»Weißt du noch, wie er mich in sein Fitness-Studio mitgenommen hat und wir dort zusammen Gewichte gestemmt haben?«

»Er geht nicht mehr ins Fitness-Studio.«

»Was? Ich bin schockiert. Jack geht nicht mehr ins Fitness-Studio. Das ist ja wie … Mir fällt kein passender Vergleich ein. Siehst du, was passiert, wenn du nicht mehr da bist? Die Welt gerät aus den Fugen.«

»Heute Morgen kannst du mir nicht schmeicheln. Ich habe eine schreckliche Laune«, entgegnet Scarpetta.

Lucy bekommt ein schlechtes Gewissen. Es ist ihre Schuld, dass Scarpetta nicht in Aspen ist.

»Hast du mit Benton gesprochen?«, erkundigt sie sich beiläufig.

»Er ist beruflich beschäftigt.«

»Das bedeutet nicht, dass du ihn nicht anrufen kannst.« Das Schuldgefühl in Lucys Magen wird stärker.

»Momentan bedeutet es das.«

»Hat er dir gesagt, du sollst nicht anrufen?« Lucy stellt sich Henri in Bentons Stadthaus vor. Sie würde lauschen. Ganz sicher würde sie das. Lucy wird vor lauter Schuldgefühlen und Angst ganz flau.

»Ich bin gestern zu Jack gefahren, aber er hat nicht aufgemacht«, wechselt Scarpetta das Thema. »Ich hatte das komische Gefühl, dass er zu Hause ist. Aber er ist nicht an die Tür gegangen.«

»Was hast du getan?«

»Ich bin wieder gegangen. Vielleicht hatte er unsere Verabredung ja vergessen. Er hat ziemlich viel um die Ohren und macht sich eindeutig Sorgen.«

»Das war bestimmt nicht der Grund. Wahrscheinlich wollte er dich nicht sehen. Es könnte ja sein, dass der Zug für ihn abgefahren ist und es nichts mehr zu retten gibt. Ich habe mir erlaubt, ein bisschen in Dr. Joel Marcus’ Vergangenheit herumzuwühlen«, sagt Lucy. »Ich weiß, dass du mich nicht darum gebeten hast. Aber das hättest du vermutlich sowieso nie getan, stimmt’s?«

Scarpetta schweigt.

»Tante Kay, er ist sicher bestens über dich informiert. Also solltest du auch über ihn im Bilde sein«, fährt sie gekränkt fort. Sie ist machtlos dagegen, dass sie sich ärgert und verletzt fühlt.

»Meinetwegen«, sagt Scarpetta. »Ich finde es zwar nicht unbedingt richtig, aber verrat es mir ruhig. Schließlich kann ich nicht leugnen, dass die Zusammenarbeit mit ihm nicht unbedingt einfach ist.«

»Am interessantesten ist«, beginnt Lucy und fühlt sich schon ein wenig besser, »wie wenig Informationen es über ihn gibt. Der Typ hat kein Leben. Er wurde in Charlottesville geboren, Vater Lehrer an einer staatlichen Schule, Mutter 1965 bei einem Autounfall gestorben. Studium an der University of Virginia. Also stammt er aus Virginia und hat hier seine Ausbildung durchlaufen. Und trotzdem hat er nie an einem gerichtsmedizinischen Institut in Virginia gearbeitet, bevor er vor vier Monaten zum Chef berufen wurde.«

»Dass er bis zum letzten Sommer nie an einem gerichtsmedizinischen Institut in Virginia gearbeitet hat, hätte ich dir auch sagen können«, entgegnet Scarpetta. »Also war es überflüssig, dass du teure Recherchen durchgeführt, dich in den Pentagon-Computer gehackt oder sonst etwas angestellt hast, um mir das mitzuteilen. Außerdem weiß ich nicht, ob es klug ist, wenn ich mir das anhöre.«

»Seine Ernennung zum Chefpathologen ist absolut merkwürdig und ergibt überhaupt keinen Sinn«, spricht Lucy weiter. »Er war eine Zeit lang Privatpathologe in einem kleinen Krankenhaus in Maryland und hat erst mit Anfang vierzig eine forensische Facharztausbildung gemacht und die Zulassungsprüfung abgelegt. Beim ersten Anlauf ist er durchgefallen.«

»Wo hat er die Facharztausbildung absolviert?«

»Oklahoma City«, antwortet Lucy.

»Ich bin wirklich nicht sicher, ob ich mir das anhören sollte.«

»Eine Weile war er als forensischer Pathologe in New Mexico tätig. Keine Ahnung, was er zwischen 1993 und 1998 getrieben hat, außer dass er sich von einer Krankenschwester scheiden ließ. Keine Kinder. 1999 zog er nach St. Louis, arbeitete dort im Büro des Leichenbeschauers und siedelte anschließend nach Richmond über. Er fährt einen zwölf Jahre alten Volvo und hat noch nie ein Eigenheim besessen. Vielleicht interessiert es dich ja, dass das Haus, das er momentan gemietet hat, in Henrico County, nicht weit vom Willow-Lane-Einkaufszentrum, steht.«

»Ich will das wirklich nicht wissen«, sagt Scarpetta. »Es reicht.«

»Er wurde nie verhaftet. Ich dachte, das ist möglicherweise von Interesse für dich. Nur ein paar Strafzettel, nichts Dramatisches.«

»Das gehört sich nicht«, protestiert Scarpetta. »Ich möchte es nicht hören.«

»Kein Problem«, erwidert Lucy in dem Tonfall, den sie immer annimmt, wenn ihre Tante sie gerade entmutigt und gekränkt hat. »Das war sowieso schon das Wichtigste. Ich könnte ja noch mehr rauskriegen, aber vorläufig war das alles.«

»Lucy, mir ist klar, dass du mir helfen möchtest. Du bist wirklich ein Wunder, und ich hoffe, dass du dich niemals an meine Fersen heftest. Außerdem ist Dr. Marcus ganz und gar kein sympathischer Mensch, und der Himmel weiß, was er vorhat. Doch solange nichts auf seine mangelnden ethischen Grundsätze hinweist oder ihn zu einer Gefahr macht, möchte ich nichts über seine Vergangenheit wissen. Verstehst du das? Also brauchst du nicht weiterzusuchen.«

»Aber er ist gefährlich«, gibt Lucy, immer noch im selben Tonfall, zurück. »Wenn man einen Verlierer wie ihn auf so einen Posten setzt, muss das zu Problemen führen. Gütiger Himmel! Wer hat ihn denn bloß eingestellt? Und warum? Ich wage gar nicht, mir auszumalen, wie sehr er dich wohl hasst.«

»Ich möchte nicht darüber reden.«

»Die Gouverneurin ist doch eine Frau«, fährt Lucy fort. »Warum um alles in der Welt ernennt eine Frau so eine Flasche?«

»Ich möchte nicht darüber reden.«

»Natürlich wird die Entscheidung meistens nicht von den Politikern getroffen. Sie unterschreiben nur die Papiere, und sie hatte vermutlich Wichtigeres im Kopf.«

»Hast du mich angerufen, nur um mich aufzuregen? Warum tust du das? Bitte lass es. Ich habe so schon genug Ärger.«

Lucy schweigt.

»Lucy? Bist du noch dran?«, fragt Scarpetta.

»Ja.«

»Ich kann Telefone nicht ausstehen«, sagt Scarpetta. »Ich habe dich seit September nicht gesehen, und ich glaube langsam, du gehst mir aus dem Weg.«

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