Lucy übernachtet nicht mehr im großen Schlafzimmer im zweiten Stock, sondern schließt sich in einem viel kleineren Raum im Geschoss darunter ein. Dabei sagt sie sich, dass sie triftige Gründe hat, nicht in dem Bett zu schlafen, in dem Henri überfallen wurde, dem riesigen Bett mit dem handbemalten Kopfbrett, das mitten in einem fürstlichen Gemach mit Blick aufs Wasser steht. Indizien, denkt sie. Ganz gleich, wie gründlich Rudy und sie auch vorgegangen sind, besteht trotzdem die Möglichkeit, dass sie etwas übersehen haben.
Rudy ist im blauen Modena losgefahren, um zu tanken. Zumindest lautete so seine Ausrede, als er den Schlüssel von der Anrichte in der Küche genommen hat. Aber Lucy vermutet, dass er etwas anderes vorhat. Er kurvt ziellos umher, um festzustellen, ob ihm jemand folgen wird. Auch wenn wahrscheinlich niemand so leichtsinnig wäre, einen großen, kräftigen Burschen wie Rudy zu belästigen, treibt sich die Bestie, die das Auge – inzwischen sind es zwei Augen – gezeichnet hat, irgendwo da draußen herum. Vielleicht hat der Mann gar nicht mitbekommen, dass Henri fort ist, und beobachtet das Haus und die Garage. Womöglich gerade jetzt in diesem Moment.
Lucy geht über den gelbbraunen Teppich und am Bett vorbei. Es ist noch ungemacht, die weichen, teuren Decken sind am Fußende über die Matratze gezogen und ergießen sich auf den Boden wie ein seidener Wasserfall. Die Kissen sind zur Seite geschoben und liegen genau dort, wo sie waren, als Lucy die Steintreppen hinaufgerannt ist und Henri bewusstlos im Bett gefunden hat. Zuerst hat Lucy sie für tot gehalten. Dann wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte. Und daran hat sich seitdem nichts geändert. Vor lauter Angst hat sie die Notrufnummer 911 gewählt, und das hat zu einem riesigen Durcheinander geführt. Nun müssen sie sich auch noch mit der hiesigen Polizei herumschlagen. Kein Wunder, dass Rudy immer noch stinksauer ist.
Erst als Lucy Henri mit einem Privatflugzeug nach Aspen gebracht hat, hat Benton eine Erklärung für das alles gefunden, die leider Sinn ergibt. Henri wurde wirklich überfallen und mag vorübergehend bewusstlos gewesen sein. Doch danach hat sie nur noch Theater gespielt.
»Auf keinen Fall«, protestierte Lucy, als Benton ihr das eröffnete.
»Sie ist Schauspielerin«, sagte er.
»Nicht mehr.«
»Aber sie war ihr halbes Leben lang Schauspielerin, bevor sie beschlossen hat, den Beruf zu wechseln. Vielleicht war es auch nur eine spannende Rolle für sie, zur Polizei zu gehen. Möglicherweise kann sie nichts weiter außer Theaterspielen.«
»Warum sollte sie so etwas tun? Ich habe sie immer wieder gerüttelt, auf sie eingeredet, versucht, sie wachzukriegen. Welchen Grund hätte sie haben können?«
»Scham, Wut, wer kann das so genau sagen?«, erwiderte er.
»Vielleicht erinnert sie sich nicht, was geschehen ist, und hat es verdrängt. Doch es löst Gefühle in ihr aus. Kann sein, dass sie dich bestrafen will.«
»Bestrafen. Wofür denn? Ich habe ihr doch nichts getan. Was sollte sie damit bezwecken wollen? Sie wird beinahe ermordet, und dann fällt ihr plötzlich ein, ach, wenn ich schon mal dabei bin, bestrafe ich kurz mal Lucy.«
»Es würde dich überraschen, wozu Menschen fähig sind.«
»Das würde sie nie tun«, beteuerte Lucy. Und je mehr sie darauf beharrte, desto klarer wurde es Benton, dass er Recht hatte.
Sie geht durchs Schlafzimmer zu einer Wand, die acht Fenster hat. Sie liegen so hoch, dass man die obere Hälfte nicht mit Jalousien verdecken muss; diese sind nur an der unteren Hälfte geschlossen. Als Lucy auf einen Knopf an der Wand drückt, werden die Jalousien mit einem elektronischen Surren aufgezogen. Sie blickt in den sonnigen Tag hinaus und sucht ihr Grundstück nach Veränderungen ab. Rudy und sie sind bis in die frühen Morgenstunden in Miami gewesen. Da sie seit drei Tagen nicht zu Hause war, hatte die Bestie mehr Zeit als genug, sich hier herumzudrücken und zu spionieren. Er war da, um nach Henri zu suchen. Er ist einfach über die Terrasse zur Hintertür spaziert und hat seine Zeichnung daran geheftet, damit Henri ihn nicht vergisst und um sie zu verhöhnen. Und niemand hat die Polizei gerufen. Die Leute in diesem Viertel sind das Hinterletzte, denkt Lucy. Es interessiert sie nicht, ob man totgeprügelt oder Opfer eines Einbruchs wird, solange man bloß nichts tut, was unangenehme Auswirkungen auf ihr Leben haben könnte.
Sie betrachtet den Leuchtturm auf der anderen Seite des Meeresarms und fragt sich, ob sie es wagen soll, nach nebenan zu gehen. Die Frau, die dort wohnt, verlässt ihr Haus nie. Lucy kennt ihren Namen nicht und weiß nur, dass sie neugierig ist und durch die Fensterscheibe Fotos macht, wenn der Gärtner die Hecken schneidet oder hinten am Pool den Rasen mäht. Wie Lucy annimmt, sammelt die Nachbarin Beweise, für den Fall, dass sie an ihrem Garten etwas verändern lässt, das ihr den Blick verstellt oder das sie als seelische Grausamkeit empfinden könnte. Wenn sie Lucy nicht die Erlaubnis verweigert hätte, auf ihre einen Meter fünfzig hohe Mauer eine schmiedeeiserne Krone von noch einmal sechzig Zentimetern aufzusetzen, hätte die Bestie es natürlich nicht so leicht gehabt, ihre Terrasse und ihr Haus zu erreichen und in das Schlafzimmer einzudringen, wo Henri grippekrank im Bett lag. Aber die neugierige Nachbarin hat Einspruch gegen diese bauliche Veränderung eingelegt und gewonnen, und deshalb wäre Henri beinahe ermordet worden. Jetzt hat Lucy eine Zeichnung von einem Auge gefunden, die aussieht wie jene, die in die Motorhaube ihres Autos gekratzt wurde.
Zwei Stockwerke tiefer ist die Fläche des Pools unterhalb der Kante nicht zu sehen. Dahinter liegen die tiefblauen Gewässer des Intracoastal Waterway. Dann kommen ein winziger Strand und der dunkelblaue aufgewühlte Ozean. Vielleicht ist er ja mit dem Boot gefahren, überlegt sie. Er bindet es an den Wellenbrecher und braucht nur die Leiter hinaufzuklettern, um mitten auf meiner Terrasse zu stehen. Allerdings glaubt sie nicht, dass er mit dem Boot hier war oder überhaupt eines besitzt, auch wenn sie nicht weiß, warum. Lucy dreht sich um und nähert sich dem Bett. Links davon liegt in der obersten Nachttischschublade Henris Colt .357 Magnum, ein wunderschöner Revolver aus Edelstahl, den Lucy ihm geschenkt hat, weil er das wunderbarste Schloss der Welt hat. Henri kann mit der Waffe umgehen und ist kein Feigling. Deshalb ist Lucy felsenfest davon überzeugt, dass sie die Bestie im Haus nicht gehört hat. Sonst hätte sie den Eindringling, Grippe oder nicht, nämlich erschossen.
Sie drückt auf den Knopf an der Wand und schließt die Jalousien. Dann macht sie die Lichter aus und verlässt das Schlafzimmer. Gleich daneben befinden sich ein kleiner Fitnessraum, zwei große Wandschränke und ein riesiges Badezimmer mit einem Whirlpool, eingelassen in Achat in der Farbe von Tigeraugen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass der Mann, der Henri angegriffen hat, im Fitnessraum, in den Wandschränken oder im Bad war, und immer wenn Lucy diese Räume betritt, hält sie inne, um festzustellen, was sie empfindet. Im Fitnessraum und in den Wandschränken empfindet sie nichts, dafür aber im Bad. Sie betrachtet die Wanne und die Fenster dahinter, die Blick auf das Wasser und den Himmel von Florida bieten, und versucht mit den Augen des Eindringlings zu sehen. Sie weiß nicht, warum, doch wenn sie die riesige, tiefe, in Achat eingelassene Wanne mustert, hat sie das Gefühl, dass er sie auch angeschaut hat.
Dann kommt ihr ein Gedanke. Sie weicht zurück zu dem Türbogen, der ins Bad führt. Vielleicht ist er auf dem Weg die Steintreppe hinauf und zum Schlafzimmer nicht nach rechts, sondern nach links gegangen und so zuerst im Bad gelandet. Der Morgen war hell und sonnig, sodass Licht durch die Fenster hereingefallen sein muss. Möglicherweise hat er kurz gezögert und die Wanne betrachtet, bevor er sich umgedreht hat und lautlos ins Schlafzimmer geschlichen ist, wo Henri, verschwitzt, elend und mit hohem Fieber, bei heruntergelassenen Jalousien im Dunkeln lag und zu schlafen versuchte.
Also warst du in meinem Badezimmer, sagt Lucy zu der Bestie. Du hast hier auf dem Marmorboden gestanden und dir meine Wanne angeschaut. Vielleicht ist dir so eine Wanne noch nie untergekommen. Kann sein, dass du dir vorgestellt hast, eine nackte Frau liege darin und nähme nichts um sich herum wahr, bevor du sie ermordest. Wenn das deine Phantasie ist, sagt sie in Gedanken zu dem Eindringling, bist du nicht besonders originell. Sie verlässt das Badezimmer und geht die Treppe hinunter in den ersten Stock, wo sie schläft und ihr Büro hat.
Neben dem gemütlichen Heimkino liegt ein großes Gästezimmer, das sie, mit eingebauten Bücherregalen und Verdunkelungsvorhängen an den Fenstern, zur Bibliothek umgestaltet hat. Selbst an sonnigen Tagen ist es hier dunkel genug, um Filme zu entwickeln. Als sie Licht macht, sind Hunderte von Nachschlagewerken, Loseblattsammlungen und ein langer Tisch mit Laborgeräten zu sehen. An einer Wand steht ein Schreibtisch, auf dem sich ein Krimesite-Imager, ein Gerät, das mithilfe ultravioletter Belichtungstechnologie latente Fingerabdrücke lokalisiert, befindet. Es sieht aus wie ein verkürztes Teleskop auf einem Dreifuß.
Daneben liegt ein versiegelter Asservatenbeutel aus Plastik, der die Zeichnung von dem Auge enthält.
Lucy zieht Untersuchungshandschuhe aus einem Karton auf dem Tisch. Wenn sie Fingerabdrücke finden wird, dann auf dem Klebestreifen, doch das wird sie später testen, weil man dazu Chemikalien anwenden muss, die die Beschaffenheit des Materials verändern. Obwohl sie ihre gesamte Hintertür und das Fenster daneben mit Magnadust eingepinselt hat, hat sie keinen einzigen Fingerabdruck mit klaren Rillen entdeckt, nur Schmierer. Und wenn doch ein brauchbarer Abdruck dabei gewesen wäre, hätte er gewiss vom Gärtner, von Rudy, von ihr selbst oder von dem Menschen gestammt, der zuletzt die Fenster geputzt hat. Davon darf sie sich jedoch nicht entmutigen lassen. Abdrücke an der Außenseite eines Hauses haben ohnehin nicht viel zu bedeuten. Wesentlich interessanter ist, was sich auf der Zeichnung finden lässt. Nachdem Lucy die Handschuhe übergestreift hat, öffnet sie die Verschlüsse eines schwarzen Aktenkoffers, der mit Schaumgummi ausgepolstert ist, und nimmt vorsichtig eine SKSUV30-Ultraviolett-Lampe heraus. Sie trägt sie zum Schreibtisch und steckt sie in eine Stromleiste mit Überspannungsschutz ein. Dann schaltet sie das hochintensive, kurzwellige ultraviolette Licht ein. Anschließend aktiviert sie den Krimesite-Imager.
Sie macht den Plastikbeutel auf und zieht das weiße Papier an einer Ecke heraus. Als sie es umdreht, starrt sie das mit Bleistift gezeichnete Auge an. Sie hält den Zettel ins Licht. Das weiße Papier leuchtet auf. Es ist kein Wasserzeichen zu erkennen, nur Millionen billiger Holzfasern. Das Auge wird dunkler, als Lucy die Zeichnung sinken lässt und das Blatt auf den Tisch legt. Beim Aufhängen des Bildes hat die Bestie den Klebestreifen auf der Rückseite des Blattes befestigt, damit das Auge durch die Glasscheibe in ihr Haus starrt. Lucy setzt eine orangefarben getönte Schutzbrille auf und legt die Zeichnung unter die Linse des Krimesite-Imagers, die auch militärischen Zwecken genügen würde. Dann späht sie durch das Okular und öffnet den Schacht für die UV-Strahlung, so weit es geht, während sie langsam Vergrößerungsfaktor und Schärfe einstellt, bis ein wabenförmiges Raster zu sehen ist. Anschließend bewegt sie das Papier langsam hin und her und sucht nach Fingerabdrücken. Sie hofft, dass das Gerät sie sichtbar machen wird, damit sie nicht zu zerstörerischen Chemikalien wie Ninhydrin und Zyanoacrylat greifen muss. Im ultravioletten Licht bekommt das Papier unter der Linse eine gespenstische grünlich gelbe Färbung.
Sie schiebt das Papier mit der Fingerspitze weiter, bis der Klebestreifen zu sehen ist. Nichts, nicht einmal ein Schmierer, denkt sie. Sie könnte es mit Rosanilinchlorid oder Kristallviolett versuchen, aber dazu fehlt ihr jetzt die Zeit. Vielleicht später. Sie setzt sich an den Schreibtisch und betrachtet die Zeichnung von dem Auge. Mehr ist nicht zu erkennen. Nur ein Auge. Die mit Bleistift gezeichneten Umrisse eines Auges mit Iris und Pupille, umrahmt von langen Wimpern. Das Auge einer Frau, denkt sie, offenbar mit einem Bleistift Stärke 2 gezeichnet. Mit einem Kameraadapter schließt sie eine Digitalkamera an und fotografiert vergrößerte Ausschnitte der Zeichnung. Anschließend druckt sie diese aus.
Als sie hört, wie das Garagentor aufgeht, schaltet sie UV-Lampe und Krimesite-Imager ab und verstaut die Zeichnung wieder im Plastikbeutel. Ein Videobildschirm auf ihrem Schreibtisch zeigt Rudy, der gerade den Ferrari rückwärts in die Garage lenkt. Lucy überlegt, wie sie weiter mit ihm umgehen soll, während sie die Tür der Bibliothek schließt und rasch die Steintreppe hinuntereilt. Sie stellt sich vor, dass er zur Tür hinausmarschieren und nie zurückkommen könnte, und sie hat keine Ahnung, was dann aus ihr und ihrem geheimen Imperium werden soll. Ein solcher Schlag würde ihr furchtbar wehtun. Aber irgendwann würde sie darüber hinwegkommen. Das sagt sie sich wenigstens, als sie die Küchentür öffnet. Er steht da und hält ihren Autoschlüssel hoch, als fasse er eine tote Maus am Schwanz.
»Ich denke, wir sollten die Cops einschalten«, meint sie und nimmt den Schlüssel entgegen. »Es kann nicht schaden, wenn sie die Sache aufnehmen. Wer weiß, ob es nicht doch einmal für etwas gut ist, dass sie diese Information bekommen.«
»Ich nehme an, du hast keine Fingerabdrücke oder sonst etwas Wichtiges gefunden«, stellt Rudy fest.
»Nicht mit dem Krimesite-Imager. Wenn es uns mit Mr. Dalessios Hilfe gelingt, dass die Polizei die Zeichnung nicht einkassiert, versuche ich es mit Chemikalien. Aber es ist trotzdem das Beste, wenn wir anrufen. Hast du unterwegs jemanden gesehen?« Sie durchquert die Küche und greift zum Telefon. »Das heißt, jemanden außer den Frauen, die bei deinem Anblick die Flucht ergriffen haben.« Sie betrachtet das Tastenfeld und tippt 9-1-1 ein.
»Also bis jetzt keine Fingerabdrücke«, sagt Rudy. »Wir dürfen trotzdem nicht lockerlassen. Was ist mit durchgedrückter Handschrift?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich möchte eine verdächtige Person melden«, beginnt sie.
»Befindet sich diese Person noch auf Ihrem Grundstück, Ma’am?«, erkundigt sich die Telefonistin in ruhigem, Vertrauen erweckendem Tonfall.
»Vermutlich nicht«, erwidert Lucy. »Aber ich glaube, es könnte mit einem Einbruch zusammenhängen, über den Ihre Kollegen schon Bescheid wissen.«
Die Telefonistin lässt sich die Adresse geben und fragt die Anruferin nach ihrem Namen, da auf ihrem Bildschirm als Besitzer der Immobilie die Gesellschaft mit beschränkter Haftung erscheint, die Lucy für diesen Zweck ausgesucht hat. Sie hat vergessen, wie der Name des Unternehmens lautet. Schließlich besitzt sie verschiedene Immobilien, die offiziell alle einer anderen Firma gehören.
»Ich heiße Tina Franks.« Lucy benutzt dasselbe Alias wie an dem Vormittag, als sie das erste Mal die Polizei verständigt hat. Dem Vormittag, als Henri überfallen wurde, Lucy in Panik geraten ist und den Fehler gemacht hat, die Notrufnummer zu wählen. Sie nennt der Telefonistin ihre Adresse, oder besser die von Tina Franks.
»Ma’am, ich schicke sofort einen Streifenwagen zu Ihrem Haus«, sagt die Frau.
»Gut. Wissen Sie vielleicht, ob Mr. John Dalessio heute Dienst hat?« Lucy spricht ganz ungezwungen und ohne Angst. »Er würde sich möglicherweise dafür interessieren. Er war derjenige, der beim letzten Mal bei mir war und weiß, worum es geht.« Sie nimmt zwei Äpfel aus einer Obstschale auf dem Küchenblock.
Lucy poliert einen Apfel an ihrer Jeans und wirft ihn Rudy zu. Dann wischt sie den zweiten Apfel blank und beißt hinein, als telefoniere sie mit einem Pizza-Service, einer Reinigung oder einem Baumarkt und nicht mit dem Büro des Sheriffs von Broward County.
»Wissen Sie, welcher Detective ursprünglich für Ihren Einbruch zuständig war?«, fragt die Telefonistin. »Normalerweise kontaktieren wir nicht die Spurensicherung, sondern den Detective.«
»Ich weiß nur, dass ich mit Mr. Dalessio zu tun hatte«, antwortet Lucy. »Ich glaube, es war überhaupt kein Detective hier im Haus. Nur im Krankenhaus. Meine Besucherin musste nämlich ins Krankenhaus.«
»Laut Dienstplan hat er zwar frei, aber ich kann ihm eine Nachricht zukommen lassen«, erklärt die Telefonistin. Inzwischen klingt sie ein wenig verunsichert, und dazu hat sie auch allen Grund, denn John Dalessio ist ein Mensch, mit dem sie noch nie im Leben gesprochen hat. Sie ist ihm auch nie begegnet oder hat seine Stimme im Funk gehört. Sie weiß nicht, dass John Dalessio eine Phantasiefigur ist, die nur in den Computern existiert, in die Lucy oder ihre Mitarbeiter sich hineinhacken. Und in diesem Fall ist es der Rechner des Büros des Sheriffs von Broward County gewesen.
»Ich habe ja noch seine Karte. Ich rufe ihn selbst an. Danke für Ihre Hilfe«, sagt Lucy und legt auf.
Sie und Rudy stehen in der Küche, essen ihre Äpfel und sehen einander an.
»Irgendwie komisch, wenn man genauer darüber nachdenkt«, meint sie und hofft, dass auch Rudy anfangen wird, ihren Umgang mit der hiesigen Polizei komisch zu finden. »Wir rufen die Polizei eigentlich ja immer nur aus rein formalen Gründen. Oder, noch schlimmer, weil wir es unterhaltsam finden.«
Er zuckt die muskulösen Schultern, beißt krachend in den Apfel und wischt sich mit dem Handrücken den Saft vom Mund. »Es ist immer ratsam, die örtliche Polizei einzubeziehen. Natürlich nur innerhalb gewisser Grenzen. Du hast Recht, man weiß nie, ob man sie nicht mal brauchen kann.« Nun tut er so, als wäre es sein Lieblingsspiel, die Polizei zu rufen. »Du hast nach Dalessio gefragt, also steht das jetzt in den Akten. Ist ja nicht unsere Schuld, dass der Typ so schwer aufzutreiben ist.«
»Er und Tina Franks«, erwidert Lucy und kaut ein Stück Apfel.
»Tatsache ist«, entgegnet er, »dass es dir um einiges schwerer fallen dürfte, zu beweisen, dass du Lucy Farinelli bist, als Tina Franks oder wer du sonst zu sein beliebst. Unsere Geburtsurkunden und der ganze andere Papierkram lauten auf dieselben Namen wie unsere falschen Ausweise. Verdammt, ich habe nicht einmal eine Ahnung, was aus meiner echten Geburtsurkunde geworden ist.«
»Ich bin mir nicht mehr sicher, wer ich überhaupt bin«, sagt sie und reicht ihm ein Papierhandtuch.
»Ich auch nicht.« Er beißt ein großes Stück von dem Apfel ab.
»Ich bin auch nicht sicher, ob ich weiß, wer du bist, wenn wir schon mal dabei sind. Wenn die Polizei kommt, gehst du an die Tür und lässt Detective Dalessio anrufen, damit der die Zeichnung abholt.«
»Das ist ein guter Plan.« Rudy grinst. »Hat beim letzten Mal prima geklappt.«
Lucy und Rudy haben Notfalltaschen mit Kleidung und Spurensicherungsausrüstungen an strategischen Punkten wie verschiedenen Häusern und Fahrzeugen deponiert. Es ist erstaunlich, was einem alles geglaubt wird, wenn man knöchelhohe schwarze Lederstiefel, schwarze Polohemden, schwarze Cargohosen und dunkle Windjacken trägt, auf deren Rückseite in dicken gelben Buchstaben SPURENSICHERUNG steht; dazu noch die üblichen Kameras und andere unverzichtbare Gerätschaften sowie – was am wichtigsten ist – Körpersprache und Verhalten. Normalerweise ist der einfachste Plan der beste, und nachdem Lucy Henri aufgefunden, Panik bekommen und einen Rettungswagen gerufen hat, hat sie Rudy verständigt. Er hat sich umgezogen und ist einfach ein paar Minuten nach der Polizei zur Eingangstür hereinspaziert. Er sagte, er sei neu bei der Spurensicherung und die Beamten brauchten nicht zu warten, während er das Haus durchsuchte. Die Polizisten hatten nichts dagegen einzuwenden, weil das Warten auf die Spurensicherung für sie nichts weiter ist als Babysitten.
Lucy – oder Tina Franks, wie sie sich an diesem schrecklichen Tag nannte – hat den Polizisten an jenem Morgen jede Menge Lügen aufgetischt. Henri, die ebenfalls einen falschen Namen angab, sei eine Freundin von außerhalb. Während Lucy geduscht habe, habe sie ihren Rausch ausgeschlafen, den Einbrecher gehört und sei in Ohnmacht gefallen. Da sie dazu neige, hysterisch zu werden und zu hyperventilieren, und außerdem möglicherweise angegriffen worden sei, habe Lucy einen Krankenwagen gerufen. Nein, den Einbrecher habe sie nicht gesehen. Nein, soweit sie feststellen könne, sei nichts gestohlen worden. Nein, sie glaube nicht, dass Henri Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sei, aber sie solle im Krankenhaus daraufhin untersucht werden. Das sei doch üblich, oder? Schließlich sei es in den Krimisendungen im Fernsehen auch immer so.
»Ich frage mich, wann ihnen auffallen wird, dass Detective Dalessio nie irgendwo anzutreffen ist außer bei dir«, meint Rudy schmunzelnd. »Und dass er immer seinen freien Tag hat, wenn sie ihn auf dem Dienstplan suchen. Gut, dass sie inzwischen für den Großteil von Broward zuständig sind. Das Gebiet ist so groß wie Texas, und kein Mensch kennt den anderen.«
Lucy schaut auf die Uhr und rechnet aus, wann der Streifenwagen, der vermutlich schon unterwegs ist, hier sein wird. »Tja, das Wichtigste ist, dass wir Mr. Dalessio einbezogen haben, damit er sich nicht ausgeschlossen fühlt.«
Rudy lacht, seine Laune hat sich sehr gebessert. Wenn sie zusammen einen Plan aushecken, schafft er es nicht, lange knurrig zu bleiben. »Okay, die Polizei wird jeden Moment vor der Tür stehen. Vielleicht solltest du dich besser verdrücken. Ich gebe dem Cop nicht die Zeichnung, sondern nur Dalessios Nummer und sage ihm, dass du lieber mit dem Detective persönlich sprechen möchtest, da du ihn letzte Woche im Zusammenhang mit dem Einbruch kennen gelernt hast. Er wird Dalessios Voice-Mail erreichen, und wenn er wieder weg ist, wird meine Wenigkeit, der legendäre Dalessio, ihn zurückrufen und ihm mitteilen, dass er sich um alles kümmern wird.«
»Lass die Cops nicht in mein Büro.«
»Die Tür ist doch abgeschlossen, oder?«
»Ja«, erwidert sie. »Falls du Befürchtungen hast, dass sie dir den Dalessio nicht abnehmen, ruf mich an. Dann komme ich sofort zurück und spreche selbst mit der Polizei.«
»Wo willst du hin?«, fragt Rudy.
»Ich glaube, es ist Zeit, dass ich mich mit meiner Nachbarin bekannt mache«, antwortet Lucy.